| Titel: | Ueber eine neue Vorrichtung zum Wenden der Wagen auf gekrümmten Eisenbahnen. | 
| Fundstelle: | Band 43, Jahrgang 1832, Nr. LXXXII., S. 342 | 
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                        LXXXII.
                        Ueber eine neue Vorrichtung zum Wenden der Wagen
                           auf gekruͤmmten Eisenbahnen.
                        Aus dem Bulletin des Sciences technologiques, Julius
                              1831.
                        Ueber das Wenden der Wagen auf gekruͤmmten
                           Eisenbahnen.
                        
                     
                        
                           Drei Ursachen haben bis jezt das Wenden der Wagen auf gekruͤmmten Eisenbahnen
                              erschwert:
                           1) Die Centrifugal- oder Schwungkraft;
                           2) der Parallelismus der Achsen, deren Stellung gegen den Kasten des Wagens
                              unveraͤnderlich ist;
                           3) die Nothwendigkeit, daß beide an einer Achse befestigte Raͤder mit einander
                              sich umdrehen muͤssen, wenn sie auch verschiedene Raͤume
                              durchlaufen.
                           Die nachtheilige Wirkung der Centrifugalkraft ist bis auf einen gewissen Grad dadurch
                              beseitigt worden, daß man die Schienen, welche die aͤußere Curve bilden,
                              etwas hoͤher als jene der inneren Curve legt; und Hr. v. Gerstner hat einen Mechanismus vorgeschlagen,
                              um die Achsen gegen den Mittelpunkt der Curven zu richten (d.h. ihnen die Stellung
                              der Radien des Cirkelsegmentes zu geben), aber bis jezt hat man noch kein Mittel
                              ersonnen, wodurch die dritte Ursache der Reibung und des Zwaͤngens der
                              Raͤder gehoben wuͤrde. Hr. Laignel hat nun ein solches Mittel erfunden, durch welches dieser
                              Uebelstand in den meisten, wo nicht in allen, Faͤllen beseitigt werden zu
                              muͤssen scheint.
                           Dieses Mittel besteht darin, daß die gekruͤmmten Schienen so angeordnet
                              werden, daß die Raͤder, welche auf der inneren Schiene herum laufen, mit dem
                              aͤußersten Rande ihrer Felgen aufliegen, waͤhrend diejenigen, welche
                              auf der aͤußern Schiene laufen, mit dem Theile ihrer Felgen aufliegen,
                              welcher am naͤchsten an dem vorspringenden Falze sich befindet. Da nun die
                              Felgen konisch geformt sind, so verhaͤlt sich die Sache gerade so, als wenn
                              man den Durchmesser des auf der inneren Curve laufenden Rades kleiner gemacht
                              haͤtte, waͤhrend der Durchmesser des aͤußeren Rades unveraͤndert
                              bleibt; und da der Unterschied dieser beiden Durchmesser nach der Kruͤmmung
                              der Eisenbahn genau berechnet ist, so erhaͤlt der Wagen eine
                              natuͤrliche Tendenz, sich zu wenden. An den gewoͤhnlichen Wagen haben
                              die Felgen der Raͤder im Allgemeinen eine etwas konische Form, deren Neigung
                              (gegen das Gestelle des Wagens) hinreichend stark ist, um die Bewegung auf einer
                              Kruͤmmung mit Leichtigkeit moͤglich zu machen, deren Halbmesser mehr
                              als 200 Meter betraͤgt; man findet aber selten Kruͤmmungen dieser Art
                              von einem kleineren Radius.
                           Da die Raͤder an ihrem Umfange mit einem Falz oder vorspringenden Rande gegen
                              die innere Seite der Schienen versehen sind, so kann man auf den gekruͤmmten
                              Stellen einer solchen Bahn die Raͤder, welche auf der aͤußeren
                              (groͤßeren) Curve sich bewegen, auch auf dem Falze laufen lassen,
                              waͤhrend das auf der inneren (kleineren) Curve sich drehende Rad auf ihrer
                              Felge fortlaͤuft. Man ersezt alsdann die erhabene oder Kantenschiene, welche
                              die aͤußere Curve bildet, durch ein Stuͤk von einer flachen Schiene
                              (plate-rail) mit einem aufrechtstehenden
                              Rande. Dieses Mittel scheint von einer leichteren Anwendung als das erste zu seyn.
                              Wenn aber die Reibung hiedurch auf eine merkliche Art vermindert werden soll, so muß
                              die Kruͤmmung der Bahn in einem sehr genauen, oder moͤglichst
                              approximativen Verhaͤltnisse zum Unterschiede der Durchmesser stehen, auf
                              welchen die Raͤder sich umdrehen.
                           Ich habe mit Hrn. Mellet im
                              vergangenen Sommer auf der Eisenbahn von Roanne nach Andrèzieux mit dieser
                              Anordnung Versuche angestellt, welche folgende Resultate gaben:
                           Man hatte, wie wir bereits erwaͤhnten, auf einer Kruͤmmung, deren
                              Halbmesser 28 Meter war, die aͤußere Kantenschiene (Edge rail) durch eine platte Schiene mit aufstehendem Rande ersezt. Am
                              Boden des Wagens war ein Dynamometer von gewoͤhnlicher Einrichtung so
                              angebracht, daß er die Kraft-Anstrengung von mehreren Maͤnnern
                              anzeigte, welche den Wagen an einer Schnur so sanft wie moͤglich zogen. Der
                              Wagen, von derselben Bauart, wie die Wagen auf der Eisenbahn zwischen
                              Saint-Etienne und Lyon sind, deren Reibung auf einer horizontalen und geraden
                              Bahn gewoͤhnlich 1/300 ihres ganzen Gewichtes betraͤgt, wog mit seiner
                              Ladung von vier Personen beilaͤufig 1250 Kilogrammen (2227 bayerische Pfund).
                              Die Geschwindigkeit seiner Bewegung betrug ungefaͤhr 8 Kilometer (2 Lieues)
                              per Stunde. Der Widerstand auf dieser Curve von 28
                              Meter (96 bayerische Fuß) und einer Steigung von 5 1/3 Millimeter auf 1 Meter (d. i.
                              von 1/182) war 25 bis 30 Kilogrammen 1/50 bis 1/36 des Gewichtes). Man ließ hierauf
                              denselben Wagen auf andern Stellen der Eisenbahnziehen, an welchen die erhabenen oder Kantenschienen
                              unveraͤndert geblieben waren, und man fand den Widerstand
                           
                              
                                       a) auf einer geradlinigten Bahn mit einerSteigung von 8
                                    Millimeter auf 1 Meter (1/125)15 bis 20 Kilogr.
                                 = 1/85 bis 1/62 des Gewichtes;
                                 
                              
                                       b) auf einer Kruͤmmung von 100 MeterRadius mit einer
                                    Steigung von 5 1/2 Millimeterauf ein Meter (1/182) 50 bis 60
                                    Kilogr.
                                 
                                 
                              
                                 
                                 = 1/25 bis 1/22 des Gewichtes;
                                 
                              
                                       c) auf einer geradlinigten Streke mitderselben Steigung von
                                    1/182 10 bis 15 Kilogr.
                                 
                                 
                              
                                 
                                 = 1/128 bis 1/83 des Gewichtes;
                                 
                              
                                       d) auf einer geradlinigten Streke miteiner Steigung von 1,2
                                    Millimeter auf 1 Meter,oder
                                    1/833                        
                                    5 bis 10 Kilogr.
                                 = 1/250 bis 1/125 des Gewichtes;Um ein reines Maß des Widerstandes der Reibung zu erhalten,
                                          waͤre es besser gewesen, diese Versuche auf vollkommen
                                          wagerechten Streken anzustellen, weil bei jeder Steigung der
                                          Widerstand der Schwere mitwirkt, folglich nur ein complicirtes
                                          Resultat sich ergibt, aus welchem das eigentlich gesuchte
                                          Verhaͤltniß des Widerstandes der Reibung erst durch Rechnung
                                          herausgefunden werden muß. A. d. Ueb.
                                 
                              
                           Aus diesen Versuchen geht hervor, daß, bei gleicher Steigung, der Widerstand der
                              Reibung auf einer Kruͤmmung von 28 Meter nur halb so groß war, als er
                              gewoͤhnlich auf einer Kruͤmmung von 100 Meter ist. Man sieht auch, daß
                              bei dieser Anordnung die Reibung auf einer Curve von 100 Meter Radius bei einem
                              Ansteigen von nur 5 1/2, Millimeter auf 1 Meter, oder 1 auf 182, schon
                              staͤrker ist als auf einer gewoͤhnlichen geradlinigten und wagerechten
                              Eisenbahn. Dieses lezte Resultat zeigt hinreichend, wie wichtig es ist, die
                              Kruͤmmungen auf den Eisenbahnen zu vermeiden.Wir erlauben uns hier hinzuzusezen: Wie unvollkommen
                                       durch die Erfindung des Hrn. Laignel die Aufgabe geloͤset wird,
                                       auf nur maͤßig gekruͤmmten Eisenbahnen mit Leichtigkeit
                                       herum zu fahren. A. d. Ueb.
                              
                           Hr. Ed. Biot hat auf der
                              Eisenbahn von St. Etienne nach Lyon mit gutem Erfolge versucht, Wasser auf die
                              gekruͤmmten Schienen fließen zu lassen. Man wußte schon, daß die Reibung auf
                              den nassen Schienen geringer ist als auf den trokenen. Man begreift indessen, daß
                              die fortschaffenden Maschinen (Dampfwagen) auf solchen nassen Schienen nicht laufen
                              duͤrften, weil es ihnen an der noͤthigen Adhaͤsion zum
                              Fortwaͤlzen der Raͤder fehlen wuͤrde.
                           Aug. Perd.Vermuthlich: Perdonnet?
                              
                           
                        
                           
                           Bemerkungen des Uebersezers.
                           Die Idee, einen vierraͤderigen Wagen, dessen beide Achsen an dem Gestelle
                              unbeweglich, ohne sich wenden zu koͤnnen, befestigt sind (wie dieß bei den
                              Eisenbahnwagen der Fall ist, und nach ihrer gegenwaͤrtigen Bauart seyn muß)
                              und welcher daher nur auf einer ganz geradlinigen Bahn mit Leichtigkeit zu
                              fuͤhren ist, durch gelegenheitliche Verkleinerung der inneren Raͤder
                              so einzurichten, daß man damit auch auf gekruͤmmten Bahnstreken so leicht wie
                              auf geradlinigten, oder doch wenigstens ohne außerordentliches Zwaͤngen und
                              Reiben fortkommen kann, ist allerdings sinnreich, aber nicht neu: denn schon am 1.
                              Maͤrz 1825 hat ein englischer Ingenieur, Hr. W. H. James von Birmingham ein Patent auf diese
                              Erfindung erhalten, wovon im XIX. Band, 6. Heft des Polyt. Journals, S. 562–566 eine deutliche Beschreibung
                              und Abbildung zu finden ist. Beide Vorrichtungen beruhen auf demselben Princip, und
                              unterscheiden sich in der Ausfuͤhrung nur dadurch, daß Hr. James den Bahnschienen an den
                              krummen Stellen Rippen von verschiedener Hoͤhe, und den Raͤdern,
                              welche darauf laufen muͤssen, Umkreise oder Furchen von verschiedenem
                              Durchmesser gibt, waͤhrend Hr. Laignel den Felgen seiner Raͤder eine konische Form gibt.
                              Beide Methoden entsprechen zwar dem vorgesezten Zweke bis auf einen gewissen Grad,
                              haben aber beide den wesentlichen Nachtheil, daß die Raͤder mit drei bis vier
                              Mal breiteren Felgen auch um so viel schwerer werden. In Bezug auf die Leichtigkeit
                              der Bewegung ist jedoch offenbar die Vorrichtung des Hrn. James, bei welcher jede Furche einen
                              cylindrischen Radkranz bildet, der Anordnung des Hrn. Laignel, dessen Felgen wegen ihrer konischen
                              Gestalt einer viel staͤrkeren Reibung und Abnuͤzung unterworfen sind,
                              weit vorzuziehen. Dieß beweisen selbst die hier angefuͤhrten, auf einer
                              Kruͤmmung von 28 Meter der Eisenbahn von Roanne vorgenommenen Versuche. Hier
                              haͤtte naͤmlich der Widerstand der Reibung,
                              wenn derselbe nicht groͤßer als auf der geradlinigten Streke gewesen
                              waͤre, 1/200 des ganzen Gewichtes des Wagens, also 1250/200 = 6,25
                              Kilogrammen, und bei einem Steigen von 1/182 der Widerstand der Schwere = 1250/186 =
                              6,86 Kilogr., also im Ganzen nur 13,11 Kilogr. seyn sollen: er betrug aber 25 bis 30
                              Kilogrammen, oder im Durchschnitt 27 1/3 Kilogr. Zieht man davon den Widerstand der
                              Schwere mit 6,89 Kilogr. ab, so ergeben sich fuͤr den Widerstand der Reibung
                              allein 20,64 Kilogrammen, und folglich war dieser lezte auf einer so sanften
                              Kruͤmmung von 28 Meter (96 bayerische Fuß) mehr als drei Mal so groß als auf
                              der geraden Bahn; was, nach meiner Ansicht, eben kein sehr glaͤnzendes oder
                              merkwuͤrdiges Resultat gibt.
                           
                           Wie uͤbrigens Hr. Aug.
                                 Perdonnet und einige franzoͤsische Journale (wie z.B. das Journal des Debats) ganz neuerlich behaupten
                              koͤnnen, daß Hr. Laignel im Jahre 1830 ein Problem geloͤset habe, welches man
                              bis dahin fuͤr unmoͤglich gehalten habe, kann nur durch eine
                              voͤllige Unbekanntschaft nicht nur mit der deutschen, sondern selbst mit der
                              franzoͤsischen technologischen Literatur einiger Maßen erklaͤrt
                              werden.
                           Es ist ziemlich allgemein (wenigstens in Deutschland) bekannt, daß ich bereits in den
                              Jahren 1817 und 1818 an der koͤniglichen Maschinen-Werkstaͤtte
                              in der St. Anna Vorstadt dahier mit einer von mir erfundenen neuen Bauart von
                              Eisenbahnen und Wagen zahllose oͤffentliche Versuche angestellt habe, durch
                              welche mehrere Hunderte von hiesigen Einwohnern und von Fremden sich
                              uͤberzeugten, daß eine Reihe von drei an einander gehaͤngten, mit 36
                              bis 40 Centnern belasteten, Wagen von einem Manne uͤber zwei
                              halbkreisfoͤrmige Wendungen, deren Radius nur dreizehn Fuß betrug, mit der groͤßten Leichtigkeit gezogen wurden,
                              wobei das am Zugseile angebrachte Dynamometer einen kaum merklichen Unterschied im
                              Widerstande gegen jenen auf den geradlinigem Streken derselben Bahn zeigte.
                           Eben so habe ich an der im Jahre 1826 im koͤniglichen Garten von Nymphenburg,
                              nach meiner fruͤheren Erfindung ausgefuͤhrten Probebahn bewiesen, daß
                              eine Reihe von fuͤnf an einander gehaͤngten, mit mehr als 200 Centner
                              beladenen Wagen von gewoͤhnlicher Laͤnge von einem Pferde ohne den
                              geringsten Zwang uͤber eine halbkreisrunde Bahn gezogen ward, deren Radius
                              nur zwanzig Fuß betraͤgt; und diese von zweien
                              Commissionen bestaͤtigten Resultate sind damals nicht nur in mehreren
                              deutschen Zeitschriften, sondern im Jahre 1827 selbst in dem zu Paris erscheinenden
                              Bulletin des Sciences technologiques
                              oͤffentlich bekannt gemacht worden.
                           Muͤnchen, den 12. Februar 1832.
                           Joseph v. Baader.