| Titel: | Ueber die Concurrenz unserer Baumwollspinnereien mit den englischen. Von C. B. | 
| Autor: | Prof. Christoph Bernoulli [GND] | 
| Fundstelle: | Band 55, Jahrgang 1835, Nr. LI., S. 279 | 
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                        LI.
                        Ueber die Concurrenz unserer Baumwollspinnereien
                           mit den englischen. Von C. B.
                        Ueber die Concurrenz unserer Baumwollspinnereien mit den
                           englischen.
                        
                     
                        
                           Das Polytechnische Journal enthaͤlt (Bd. LIII. S. 403 ff. und Bd. LIV. S. 200
                              ff.) zwei Aufsaͤze, wodurch Hr. Cowell darzuthun
                              sucht, daß der Arbeitslohn in England keineswegs
                              hoͤher sey als auf dem Continente, sondern vielmehr niedriger; und zum
                              Beweise stellt er folgende Berechnung an.
                           In den besten Spinnereien des Elsasses fuͤhre jeder Spinner nur einen
                              Spinnstuhl, und dieser habe nur 200 Spindeln; in England hingegen fuͤhre
                              jeder Spinner zwei Stuͤhle, und zwar Stuͤhle von wenigstens 400
                              Spindeln; obschon also der franzoͤsische Spinner woͤchentlich nur 14
                              Schill, und der englische 33 erhalte, so sey der Arbeitslohn des ersteren doch
                              niedriger, denn er spinne nicht nur 33/14, sondern 800/300 oder vier Mal mehr.
                           Diese Angaben, aus denen hervorginge, daß unsere Spinnereien noch unendlich
                              zuruͤk seyn muͤssen, verdienen eine Berichtigung.
                           Ich will nur im Vorbeigehen bemerken, daß Hr. Cowell hier
                              das Wort Arbeitslohn nur in einem, und nicht dem gebraͤuchlichern Sinne
                              nimmt. Gewoͤhnlich versteht man darunter den Verdienst, und dieser
                              waͤre sicherlich in England auch relativ
                              groͤßer als in Frankreich, wenn dort ein Arbeiter derselben Classe 2 1/3 Mal
                              mehr lohn erhielte, die Lebensbeduͤrfnisse aber lange nicht in diesem
                              Verhaͤltnisse theurer waͤren. Ich glaube aber behaupten zu
                              duͤrfen, daß der
                              Spinnerlohn auch in bloßer Beziehung auf den Fabrikanten keineswegs in England
                              niedriger ist.
                           Vorerst ist durchaus unwahr, daß die Spinnstuͤhle in den ersten Spinnereien
                              des Elsasses nur 200 Spindeln haben; in den meisten vielmehr betraͤgt die
                              Zahl uͤber 300. Machte doch eine elsassische Maschinenfabrik vor 10 Jahren
                              schon Stuͤhle von 392 Spindeln! Eben so bedient haͤufig auch da ein
                              Spinner 2 Stuͤhle, und dasselbe gilt von der Schweiz und wohl von sehr vielen
                              Spinnereien des Continents.
                           Daß in England die Mules in der Regel mehr Spindeln haben, und daß dort allgemein 2
                              Stuͤhle durch einen Spinner gefuͤhrt werden, will ich gern annehmen,
                              obschon es kaum glaublich ist, daß manche Stuͤhle (zumal fuͤr niedrige
                              Nummern) bis 600, ja bis 800 Spindeln haben sollen! Wahrscheinlich haben jene
                              Doppelstuͤhle selten uͤber 360 Spindeln.
                           Noch weniger ist aber zuzugeben, daß ein Spinner mit 2 Stuͤhlen doppelt so
                              viel spinne, als mit einem von gleicher Groͤße. Da die Arbeit weit
                              beschwerlicher ist, so wuͤrden sicherlich in einer Stunde weniger
                              Auszuͤge Statt haben, und der Spinner die Arbeit weniger Stunden aushalten
                              koͤnnen. Deßhalb wird ein Doppelspinner auch groͤßeren Lohn erhalten;
                              die Spinnkosten werden aber um so weniger auf die Haͤlfte reducirt seyn, da 2
                              Stuͤhle immerhin doppelt so viele Kinder zum Anknuͤpfen erfordern.
                           Cowell spricht von einer neuen Spinnerei, in der ein
                              Spinner mit drei Kindern 1024 Spindeln fuͤhre, und taͤglich an 40 Pfd.
                              Garn von Nr. 70 bis 80 spinne. Der Wagen mache taͤglich an 1500 Gaͤnge
                              (2 per Minute) von 59''. Ein solcher Spinner verdiene
                              woͤchentlich (nebst den Kindern) 50 Schill. – Nach ihm selbst scheinen
                              indessen Stuͤhle von 312 Spindeln viel gewoͤhnlicher zu seyn, und ein
                              solches Paar 4 bis 5 Kinder zu erfordern. Dasselbe geht aus Tuffnell's Bericht (Polytechn. Journ. Bd. LIII. S. 407) hervor. Auch sagt dieser, daß bei niederen Nummern (30
                              bis 40) etwa drei, bei hohen kaum ein Auszug auf die Minute komme.
                           Nach Cowell lieferten 2 Stuͤhle von 312 Spindeln
                              woͤchentlich nur 16 Pfd. Garn von Nr. 200; also 1 Spindel 16/624 × 200
                              × 840, oder 4308 Yards, und kaum 64 Yards per
                              Stunde, so daß auf eine Stunde nur 42 Auszuͤge zu 1 1/2 Yard kommen.
                           In der Schweiz kenne ich hingegen Spinnereien, wo 1
                              Spinner mit einem Stuhle von 390 Spindeln jaͤhrlich 300 Cntr. oder
                              taͤglich 1 Cntr. von Nr. 22 in 14 Arbeitsstunden liefert. Ein solcher Stuhl
                              erzeugt taͤglich demnach 100 × 22 × 840 oder 1,848,000 Yards,
                              und eine Spindel stuͤndlich 4710/14 oder 326 Yards, so daß 
                              per Minute der Wagen wenigstens 4 Gaͤnge machen
                              muß. Auch mit den besten Maschinen wird man in England schwerlich nur um die
                              Haͤlfte wehr erzeugen koͤnnen, waͤhrend der Lohn wenigstens der
                              doppelte, wo nicht der dreifache ist.
                           Und was vom Spinnstuhle, gilt auch von den Praͤparationsmaschinen. Noch in den
                              lezten Jahren ist Vieles vereinfacht worden. In manchen Karderien ist die Zahl der
                              Arbeiter auf die Haͤlfte reducirt. Immer allgemeiner wird das Bodmer'sche Kardirsystem, die Anwendung der
                              Spindelbaͤnke und der double speeders u.s.w. Alle
                              Fortschritte gehen wohl von den Englaͤndern aus, aber das Festland bleibt
                              kaum zuruͤk, da wenigstens, wo kein Prohibitivsystem dem Fabrikanten ein
                              Ruhekissen darbietet. Im Spinnen der feineren Nummern nur mag der Vorsprung, den die
                              Englaͤnder gewonnen, viel großer seyn; geringere Garne hingegen
                              koͤnnen die Schweizer seit manchen Jahren schon wohlfeiler als die
                              Englaͤnder stellen, und daraus allein geht hervor, daß die Productionskosten,
                              in so fern sie von der Handarbeit abhaͤngen, also die Arbeitsloͤhne in
                              England bedeutend groͤßer seyn muͤssen.
                           Noch kuͤrzlich hat zwar und amtlich Hr. Roman (in
                              der gegenwaͤrtigen Enquête) die Behauptung
                              gewagt, auch die schweizerischen Spinnereien koͤnnten mit den englischen
                              durchaus nicht concurriren; und andere haben an das haͤufige Auswandern der
                              schweizerischen Arbeiter erinnert, um die Unentbehrlichkeit der Prohibitivmaßregeln
                              fuͤr alle Continentallaͤnder darzuthun. Wie ungegruͤndet aber
                              diese Angaben sind, liegt am Tage, da die Schweiz, obschon alles englische Garn
                              voͤllig zollfrei eingehen kann, schon laͤngst ihren ganzen und nicht
                              kleinen Bedarf an Baumwollgespinnst (mit Ausnahme der feinsten) producirt,
                              betraͤchtliche Quantitaͤten sogar ausfuͤhrt, und die Zahl der
                              Spinnereien von Jahr zu Jahr vermehrt wird. Auch geht daraus deutlich hervor, wie
                              abgeschmackt die so allgemein in dieser Enquête
                              vorkommende Aeußerung ist, die Englaͤnder wuͤrden, waͤren ihre
                              Waaren nicht prohibirt, durch Verschleuderung sofort alle Continentalfabriken zu
                              Grunde richten. Wollten oder koͤnnten sie es darauf anlegen, so
                              wuͤrden sie ohne Zweifel laͤngst schon dieses System gegen die Schweiz
                              versucht haben, da sie durch diese allmaͤhlich vom dortigen, und selbst von
                              fremden Maͤrkten verdraͤngt wurden. Sie wuͤrden, waͤre
                              ein solches System ausfuͤhrbar, nicht abwarten, bis andere und ungleich
                              groͤßere Laͤnder mit in die Schranken treten.
                           Daß die franzoͤsischen Spinnherren die fortdauernde Prohibition oder ihr
                              gleichkommende Eingangszoͤlle wuͤnschen, ist begreiflich; auch
                              glaublich, daß sie dermalen und bei ihren kostbaren Einrichtungen die freie Concurrenz des
                              Auslandes zu fuͤrchten haben. Sachsen und die Schweiz beweisen aber, daß troz
                              mancher den Englaͤndern guͤnstigen Verhaͤltnisse es keineswegs
                              unmoͤglich ist, mit ihnen im Preise Schritt zu halten.