| Titel: | Ramée, eine neue Gespinnstpflanze. | 
| Autor: | Fraas | 
| Fundstelle: | Band 130, Jahrgang 1853, Nr. LXXIV., S. 309 | 
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                        LXXIV.
                        Ramée, eine neue
                           Gespinnstpflanze.
                        Ueber die Ramée.
                        
                     
                        
                           Schon seit einigen Jahren ist von einer neuen Gespinnstpflanze, aus Ostindien
                              stammend, die Rede, und ihre Eigenschaften werden hochgerühmt. Man bezeichnete sie
                              botanisch als Urtica nivea und in den Jury reports der Londoner Industrie-Ausstellung
                              ist Bd. I. S. 239 davon als China grass die weitere
                              Rede. In neuester Zeit ist aber noch eine andere, jedenfalls zur Familie der Urticeae gehörige, vielleicht mit der u. nivea oder tenacissima
                              Roxb. synonyme Art als Boehmeria utilis
                              Bl. (Ramée malayisch) von Holland aus aufs
                              Angelegenste empfohlen. Sie komme im indischen Archipel, auf Java, Borneo, Sumatra
                              vor. Die Abbildung der letzteren und noch mehr die von Hrn. v. Blume verschickten Exemplare ähneln
                              wenigstens sehr mit jener, soweit etwas ohne Blüthe und Frucht, welche die u. nivea bei uns noch nicht trug, unterschieden werden
                              kann. Im obengenannten Werke wird das Product von u.
                                 tenacissima auch Ramy (Ramée)
                              genannt.
                           Da ich nun schon seit drei Jahren Versuche mit der letzteren Pflanze im Garten des
                              Generalcomité des landwirthschaftlichen Vereins zu München angestellt habe,
                              deren Resultat etwas verspricht, so stehe ich nicht an, sie mitzutheilen.
                           Was zuerst die Culturverhältnisse dieser perennirenden
                              Pflanze betrifft, so erfror sie bei uns (München) an Zäunen, Hecken, geschützten
                              Orten im Freien bis jetzt nicht, wohl aber zerstört schon der Novemberfrost ihre
                              Blätter und Zweige, welche darauf bis auf den Boden abgeschnitten werden und eben
                              das zum Gespinnste benutzbare Material bieten.
                           Man vergesse nicht, daß dieß bei einem oberbayerischen Clima, bei 6° R.
                              mittlerer Temperatur stattfindet.
                           Die Pflanze treibt eine Menge üppig wachsender Schosse im Frühjahr, welche indessen
                              bis jetzt niemals auch nur zur Blüthe ansetzten. Abgeschnittene Zweige wurzeln als
                              Stecklinge sehr leicht im Boden – die Vertheilung des Wurzelstockes nach Art unserer
                              gemeinen Urt. dioica gibt Material zur Fortpflanzung und
                              Vermehrung in Fülle.
                           Die Pflanze, welche angeschwollene, dem Hopfen ähnliche Wurzelenden hat, scheint
                              überhaupt, ähnlich unserer gemeinen Nessel, an schattigen Orten, Zäunen, Hecken,
                              Schutthaufen, in der Nähe von Gebäuden, im feuchten aber nicht magern Boden, am
                              besten zu gedeihen.
                           Besondere Schwierigkeit setzte der Benutzung entgegen: der stark holzige Theil des
                              Zweiges und eine der Korksubstanz ähnliche Epidermis, welche durch die Röste nicht
                              zu entfernen war und beim Hecheln die schönsten Gruppen von Bastzellen zerreißen
                              machte. Ich verfiel endlich auf mechanisches Abstreifen mit hölzernen Kluppen,
                              ähnlich wie diese bei den Weiden zum Schälen gebraucht werden. Dasselbe sollen nach
                              Hrn. v. Blume auch die
                              Savanesen thun.
                           Nach 8 bis 10 Tagen Wasserröste läßt sich dann die ganze Rinde sammt dem Baste sehr
                              gut abziehen und eine gewöhnliche Thauröste des Abgezogenen vollendet das
                              Uebrige.
                           Indessen führte der Versuch mich zu der Erfahrung, daß Einweichen der Schosse in mit
                              Salzsäure versetztem Wasser dieses Abgehen der Epidermis und Abziehen des Bastes
                              schon nach 24 Stunden ermöglicht. Gleich nach dem ersten Froste aber geht Alles
                              dieses am allerbesten nur durch gewöhnliches Abstreifen
                              mit der Hand vor sich.
                           Die durch Frost von den Parenchym gelöste Epidermis scheint auch, wie weitere
                              Versuche zeigen dürften, nach dem Rösten nicht mehr den störenden Einfluß beim
                              Hecheln geltend zu machen.
                           Das spinnwürdige Material, welches diese Pflanze liefert, ist ebenso wie die
                              Haltbarkeit desselben ausgezeichnet. So liefert z.B. nach meinen Versuchen die
                              gemeine Nessel (urtica dioica) in ihrem Zweige nur halb
                              soviel, als die Ramée und, was die Hauptsache ist, überdieß eine sehr grobe
                              Bastfaser.
                           Der Bast (oder der Hanf) von der Ramée übertrifft an Stärke den besten Lein um
                              50 Procent, er erträgt insbesondere den wechselnden Einfluß der Feuchtigkeit viel
                              besser als der gemeine Hanf. Gleichwohl läßt er sich fast so fein wie der Lein
                              spinnen. Ueberdieß kommt er von einer perennirenden Pflanze, was bei Haltbarkeit und
                              Feinheit der Faser diese Aller Aufmerksamkeit würdig macht.
                           München, im November 1853.
                           Dr. Fraas.