| Titel: | Die Semmering-Locomotiven. | 
| Fundstelle: | Band 133, Jahrgang 1854, Nr. XCV., S. 406 | 
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                        XCV.
                        Die Semmering-Locomotiven.Nach der Eisenbahn-Zeitung Nr. 36 aus der kürzlich in Stuttgart gedruckten Broschüre: „Die Locomotive der österreichischen
                                    Staats-Eisenbahn über den Semmering; insbesondere Beschreibung der in
                                    der deutschen Industrieausstellung in München von der Maschinenfabrik
                                    Eßlingen aufgestellten Locomotive Sonnenstein etc.“ Die in
                                 Nachfolgendem vorkommenden Maaße sind österreichische: 1 Klafter = 6 Fuß, 1 Fuß
                                 = 12 Zoll (1 österreichischer Fuß = 0 316 Meter). 1 Wiener Centner = 56
                                 Kilogramme.
                           
                        Ueber die Semmering-Locomotiven.
                        
                     
                        
                           In dem Maaße als sich die Eisenbahnen in gebirgigen Gegenden entwickelten und man
                              demzufolge genöthigt war, starke Steigungen und kleine Krümmungen anzuwenden, machte
                              sich das Bedürfniß geltend, ein System kräftiger Locomotiven, welche zugleich im
                              Stande sind, kleine Curven mit Leichtigkeit zu durchfahren, zu besitzen. Dieses
                              Bedürfniß stellte sich ganz besonders bei der von der österreichischen Regierung
                              über den Semmering gebauten Eisenbahn heraus, und sah sich deßhalb das
                              österreichische Ministerium veranlaßt, einen hohen Preis für Lieferung tüchtiger
                              Locomotiven auszuschreiben. Die Resultate dieser Maßregel sind bekannt; weder die
                              mit Preisen gekrönten Maschinen, noch die zahlreichen Projecte welche dem
                              Ministerium vorgelegt wurden, genügten, und es wurde beschlossen, das von dem
                              technischen Rath im österreichischen Handelsministerium, Hrn. W. v. Engerth, construirte und in verschiedenen Ländern
                              privilegirte System anzuwenden, wornach 26 Locomotiven in den Maschinenfabriken von
                              Emil Keßler in Eßlingen und John Cockerill in Seraing bestellt wurden. Der größere Theil dieser Maschinen
                              ist geliefert und seit Winter 1853 – 1854 im Gebrauch.
                           Die Resultate, welche mit diesen Maschinen seither erzielt wurden, sind
                              außerordentlich günstig und zeugen von ihrer guten Construction. Um aber noch besser
                              ihren Werth beurtheilen zu können, ist es nöthig, einige Notizen über die
                              Steigungs- und Krümmungsverhältnisse der Semmeringbahn vorauszuschicken.
                           Beschreibung der Bahn. Die Bahn geht von Gloggnitz über
                              den Semmeringberg nach Mürzzuschlag in einer Länge von 5 1/2 Meilen, hat aber von
                              Gloggnitz bis zur Station Payerbach nur eine mittlere Steigung von 1 : 117, weßhalb
                              als die eigentliche Gebirgsbahn bloß die Strecke von Payerbach nach Mürzzuschlag
                              angenommen wird. Die Bahn geht von Payerbach in einer mittleren Steigung von 10 :
                              468 zur nächsten Station
                              Eichberg; von Eichberg nach Klamm ist die Steigung 10 : 400; von Klamm nach
                              Breitenstein 10 : 476; von Breitenstein nach Semmering 10 : 540. Von da aus fällt
                              die Bahn nach Passirung des 755 Klafter langen Haupttunnels nach Spital mit einem
                              mittleren Gefälle von 10 : 509 und von Spital nach Mürzzuschlag mit einem mittleren
                              Gefälle von 10 : 500. Die mittlere Steigung von Payerbach nach Semmering ist 10 :
                              470, jene von Mürzzuschlag nach Semmering 10 : 500, und der Stationsplatz Semmering
                              liegt um 212 Klafter höher als Payerbach.
                           Auf der, nach Ausscheidung der Stationsplätze 9975 Klafter langen Strecke von
                              Payerbach nach Semmering sind die Steigungen wie folgt vertheilt:
                           
                              
                                 auf
                                 4411,6
                                 Klafter,
                                 die
                                 Steigung
                                 1 : 40,
                                 
                              
                                   „
                                 2825,5
                                     „
                                  „
                                      „
                                 1 : 45,
                                 
                              
                                   „
                                   603,8
                                     „
                                  „
                                      „
                                 1 : 50,
                                 
                              
                                   „
                                   802,5
                                     „
                                  „
                                      „
                                 1 : 60,
                                 
                              
                                   „
                                   171,0
                                     „
                                  „
                                      „
                                 1 : 80,
                                 
                              
                                   „
                                   983,8
                                     „
                                  „
                                      „
                                 1 : 100,
                                 
                              
                                   „
                                     86,9
                                     „
                                  „
                                      „
                                 1 : 200,
                                 
                              
                                   „
                                     90,0
                                     „
                                 horizontal.
                                 
                              
                           Die Schwierigkeit der Bahn liegt aber nicht allein in den starken Steigungen, welche
                              selbst in den Tunnels vorkommen, sondern vorzüglich in den scharfen Krümmungen. In
                              den Tunnels kommen Steigungen bis 1 : 45 vor, und nur der Haupttunnel hat eine
                              Steigung von 1 : 300. Die Krümmungen der Bahn von 100 bis 150 Klafter Radius
                              wechseln continuirlich; so besteht die Strecke von Payerbach nach Eichberg aus 15
                              Contrecurven von 100 bis 150 Klafter Radius in der Gesammtlänge von 1700 Klaftern,
                              zwischen welchen die geraden Bahnstrecken von zusammen 1134 Klaftern liegen. Von
                              Eichberg nach Klamm ist die ungünstigste 1895 Klafter lange Strecke. Die ganze
                              Strecke hat eine Steigung von 1 : 40 und besteht aus 14 Contrecurven von 150 Klafter
                              Radius und einer Gesammtlänge von 1383 Klaftern, welche durch einzelne gerade
                              Bahnstücke von 20 bis 40 Klafter Länge verbunden sind. Von Klamm nach Breitenstein
                              kommen 16 Bogen, fast alle von einem Radius von 100 Klafter vor, welche zusammen die
                              Bahnlänge von 1630 Klaftern ausmachen; ähnlich ist die Strecke von Breitenstein nach
                              Station Semmering.
                           Günstiger ist die Strecke von Mürzzuschlag bis zur Wasserscheide; denn obgleich auch
                              hier Steigungen von 1 : 42 vorkommen und die mittlere Steigung dieser Strecke von
                              jener von Payerback nach Semmering nicht viel verschieden ist, so sind doch die
                              geraden Strecken vorherrschend und auf 6549 Klafter Bahnlänge entfallen 4636 Klafter auf
                              die gerade und bloß 1913 Klafter auf die mit sanften Bogen von 200 bis 500 Klafter
                              Radius versehene Bahn.
                           Dieß gibt sich auch bei der Befahrung der Semmeringbahn auffallend zu erkennen, indem
                              die Leistung der Locomotive auf der Strecke von Mürzzuschlag nach Semmering
                              mindestens 25 Proc. größer ist, als jene von Payerbach nach Semmering angenommen
                              werden kann.
                           Die Entfernung einer Station von der andern, von Wasserkrahn zu Wasserkrahn gemessen,
                              ist folgende:
                           
                              
                                 von
                                 Payerbach
                                 nach
                                 Eichberg
                                 0,817 Meilen,
                                 
                              
                                   „
                                 Eichberg
                                   „
                                 Klamm
                                 0,537     „
                                 
                              
                                   „
                                 Klamm
                                   „
                                 Breitenstein
                                 0,697     „
                                 
                              
                                   „
                                 Breitenstein
                                   „
                                 Semmering
                                 0,759     „
                                 
                              
                                   „
                                 Semmering
                                   „
                                 Spital
                                 0,944     „
                                 
                              
                                   „
                                 Spital bis zur Einfahrt in die Station
                                    Mürzzuschlag
                                 0,816     „
                                 
                              
                                 
                                 
                                 
                                 
                                 ––––––––––––
                                 
                              
                                 
                                 
                                 
                                 Zusammen
                                 4,570 Meilen.
                                 
                              
                           Beschreibung der Semmering-Locomotiven. Die
                              Maschinenfabrik Eßlingen hat zur Semmeringbahn 10 Locomotiven geliefert; die erste
                              dieser Maschinen trägt den Namen „Kapellen“, die letzte steht
                              in der Industrieausstellung in München und heißt „Sonnenstein“,
                              alle zehn Locomotiven sind in ihrer Construction vollkommen gleich. Sie bestehen aus
                              zwei Gestellen, dem vordern oder Maschinengestelle und dem hintern oder
                              Tendergestelle. Das erstere enthält 3 Achsen mit 6 gekuppelten Rädern. Die
                              Dampfcylinder, der ganze Mechanismus, der Kessel, sowie auch die beiden Wasserkästen
                              sind auf diesem Gestell angebracht. Das Tendergestell, welches sich unter einen
                              Theil des Kessels erstreckt und auf diese Art zum Unterstützen der Feuerbüchse
                              bestimmt ist, nimmt das zur Fahrt nöthige Brennmaterial und das Führungspersonal
                              auf. Die beiden Gestelle sind vor der Feuerbüchse mittelst starker Kreuze und eines
                              Kugelbolzens, solid mit einander in der Art verbunden, daß eine beliebige Bewegung
                              sowohl in verticaler als horizontaler Richtung stattfinden kann, so daß diese
                              Maschinen sich leicht in die stärksten Krümmungen einzustellen vermögen. Der
                              Durchmesser der Räder ist 3 Fuß 6 Zoll. Die Dampfcylinder haben 18 Zoll Durchmesser
                              und 23 Zoll 2 Linien (24 Zoll engl.) Kolbenhub.
                           
                              
                                 Die gesammte innere Feuerfläche des
                                    gewöhnlichen   Röhrenkessels ist bei der
                                    Feuerbüchse
                                     70,
                                 
                              
                                 bei den 189 Feuerröhren von 15 Fuß Länge
                                    und 2 Zoll   äußerem Durchmesser
                                 1330,
                                 
                              
                                 
                                 ––––––––––––––
                                 
                              
                                 Zusammen
                                 1400 Quadratfuß.
                                 
                              
                           
                           Die äußere Heizfläche, wie sie gewöhnlich gerechnet wird, beträgt 1554
                              Quadratfuß.
                           Die beiden zur Seite des cylindrischen Kessels liegenden Wasserkästen fassen 200
                              Kubikfuß und der hintere Tenderkasten hat Raum für circa
                              100 Kubikfuß Holz.
                           Das ganze Gewicht der mit Wasser und Holz ausgerüsteten Locomotive ist 1002 Wiener
                              Centner, welches auf die 5 Achsen wie folgt vertheilt ist:
                           
                              
                                 auf der vordersten Maschinenachse
                                 
                                   245 1/2 Cntr.
                                 
                              
                                   „    „  
                                    zweiten                
                                    „
                                 
                                   223        
                                    „
                                 
                              
                                   „    „  
                                    dritten                  
                                    „
                                 
                                   233 1/2   „
                                 
                              
                                   „    „  
                                    vierten, d. i. I. Tenderachse
                                 
                                   145        
                                    „
                                 
                              
                                   „    „  
                                    fünften,  
                                    „  II.      
                                    „
                                 
                                   155        
                                    „
                                 
                              
                                 
                                 
                                 –––––––––––––
                                 
                              
                                 
                                 Zusammen
                                 1002     Cntr.
                                 
                              
                           Leistung der Locomotive. Die Semmering-Locomotiven
                              haben die von ihnen gehegten Erwartungen in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit
                              übertroffen; die von dem k. k. österreichischen Ministerium aufgestellten
                              Bedingungen lauteten: „Die Maschine muß bei günstiger Witterung und bei
                                 trockenen Schienen eine Bruttolast von 2000 Wiener Centnern mit einer mittleren
                                 Geschwindigkeit von 2 Meilen in der Stunde fortbewegen und darf dabei höchstens
                                 2/3 Klafter 36zölliges weiches Holz pro Zeitstunde
                                 verbrennen.“
                              
                           Seit Anfangs December 1853 ist nun die Semmeringbahn dem Betrieb für Güterbeförderung
                              und seit dem 17. Juli d. J. auch dem Personenverkehr übergeben; die seit 8 Monaten
                              in sehr großer Anzahl gemachten Fahrten haben dargethan, daß bei der
                              vorgeschriebenen Geschwindigkeit von 2 Meilen (sehr oft war die erlangte
                              Geschwindigkeit größer) die Locomotiven
                           
                              
                                 bei der schlechtesten Witterung, bei
                                    heftigem Wind   und Schneegestöber
                                 2000 Wien. Cntr.
                                 
                              
                                 bei mittlerer Witterung
                                 2500        „
                                 
                              
                                 und bei ganz schönem Wetter selbst bis
                                    zu
                                 3000        „
                                 
                              
                           Bruttolast von Payerbach nach Semmering ziehen mit einer
                              mittleren Dampfspannung im Kessel von 90 Wiener Pfund auf den Wiener Quadratzoll.
                              Der Holzverbrauch stellt sich dabei durchschnittlich auf 1/2 Klafter pro Zeitstunde.
                           Auf der Bahnstrecke von Gloggnitz nach Payerbach mit einer durchschnittlichen
                              Steigung von 1 : 117 ziehen diese Semmering-Locomotiven mit 2 Meilen
                              Geschwindigkeit 7500 Wiener Centner Bruttolast.
                           
                           Kuppelung aller zehn Räder der Locomotive. Wie aus dem
                              vorstehenden Resultate ersichtlich ist, sind die mechanischen Verhältnisse der
                              Locomotive im vollständigsten Einklang mit denjenigen der Bahn; es blieb nur noch
                              übrig, durch Kuppelung aller zehn Räder der Locomotive das ganze Gewicht zur
                              Adhäsion nutzbar zu machen. Nach Angabe des kaiserl. Rathes Hrn. v. Engerth wurden an einer der Semmering-Locomotiven
                              alle Räder mit Anwendung von verzahnten Rädern versuchsweise gekuppelt, und alle
                              Locomotiven sind bereits so vorgerichtet, daß diese Kuppelung nachträglich
                              angebracht werden kann.
                           Die Räder bestehen aus schmiedeisernen Scheiben, in welche die Gußstahlzähne, immer 6
                              Zähne in einem Stück, eingesetzt sind. Die Zähne sind so stark, daß sie einem Druck
                              von 40,000 Pfd. widerstehen können. Der Drehungspunkt des Tenders befindet sich
                              genau über dem Eingriffe der auf den Achsen befindlichen Räder, und die mittlere
                              Achse ist so verschiebbar, daß die Zahnräder, wenn sie nicht nöthig sind, außer
                              Dienst gesetzt werden können. Durch diese Anordnung bleiben die drei Mittelpunkte
                              der Zahnräder immer in einer geraden Linie, und da die horizontale Drehung der
                              Achsen gegen einander bloß zwei Grad beträgt, so war zu erwarten, daß diese
                              Räderverkuppelung ihren Dienst nicht versagen werde.
                           Das Schmieren der Zahnräder geschieht auf eine einfache und wirksame Weise. Die
                              Zahnräder sind nämlich schon zum Schütze vor Staub und Sand in einem Blechkasten
                              eingeschlossen, auf dessen Boden eine dünnflüssige seifige Schmiere und Oel
                              eingelegt wird, in welche die Zähne bei der Umdrehung der Räder eintauchen; außerdem
                              tropfen aus das mittlere Zahnrad circa 60–80
                              Tropfen Oel pro Minute.
                           Die mit dieser Räderkuppelung versehene Locomotive „Lanau“ ist
                              bereits seit 12. Juni d. J. im Dienste und die Kuppelung hat sich als vollkommen
                              haltbar und sehr wirksam erwiesen. Das Schmieren der Zähne geschieht sehr regelmäßig
                              und vollkommen, und bei der geringen Geschwindigkeit der Räder und bei dem Umstande,
                              daß die Zahnräder gegen einander laufen, wird von der Schmiere nichts verworfen. Die
                              Räderverkuppelung bedarf während der ganzen Fahrt keiner Bedienung; die Zähne haben
                              sich während der Zeit gar nicht abgenützt und bekommen ein glänzendes Aussehen, auf
                              manchen Stellen sind noch die alten Feilstriche zu sehen.
                           Die Locomotive geht äußerst ruhig, von dem Eingreifen der Zähne hört man nicht das
                              mindeste, und in allen Curven und Ueberhöhungen der Bahn wurde nicht die geringste
                              Klemmung wahrgenommen. Die Leistung der Locomotive wird durch die Räderkuppelung
                              namhaft vermehrt, die Locomotive „Lanau“ zog zum öftern mit 2
                              Meilen Geschwindigkeit von Payerbach nach Semmering 3300 Cntr. und von Mürzzuschlag
                              nach Semmering 3700 Cntr. und hätten unter gleichen Witterungsverhältnissen die
                              andern Semmeringmaschinen nicht unbedeutend weniger geleistet.
                           Aus dem Mitgeteilten geht nunmehr zur Evidenz hervor, daß das zur Befahrung der
                              Semmeringbahn in Anwendung gebrachte Locomotivsystem des Hrn. v. Engerth als in jeder Beziehung vollkommen gelungen und
                              dem Zwecke entsprechend zu betrachten ist; die Technik hat somit einen weitern
                              großen Schritt vorwärts gethan, die zweckmäßige Befahrung großer Gebirgsbahnen durch
                              Locomotiven ist zur Gewißheit geworden.Nähere detaillirte Auskunft gibt die bei Karl Gerold und Sohn in Wien erschienene
                                    Broschüre mit Atlas: „Die Locomotive der Staats-Eisenbahn
                                       über den Semmering von Wilhelm Engerth“