| Titel: | Ueber das Amylen, ein neues anästhesirendes Mittel; von Heinrich v. Sicherer. | 
| Autor: | Heinrich Sicherer | 
| Fundstelle: | Band 144, Jahrgang 1857, Nr. XXIII., S. 73 | 
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                        XXIII.
                        Ueber das Amylen, ein neues anästhesirendes
                           								Mittel; von Heinrich v.
                              								Sicherer.
                        v. Sicherer, über das Amylen.
                        
                     
                        
                           Je öfter die Anwendung von Aether und Chloroform als anästhesirende Mittel den Tod
                              									zur unmittelbaren Folge hatte, desto beachtungswerther ist die Einführung des
                              									Amylens durch Dr. Snow in
                              									London als ein neues Anästheticum, besonders nachdem sich dasselbe schon in so
                              									vielen Fällen erprobt hat. Es mag daher wohl werth erscheinen, einige Notizen über
                              									seine Entstehung und Bereitung, so wie über seine allgemeinen Eigenschaften zu
                              									geben.
                           Das Amylen ist analog dem ölbildenden Gas und hat nach Prof. Balard die Zusammensetzung C₁₀H₁₀. Da es aus
                              									dem Fuselöl oder Amylalkohol C₁₀H₁₁O, HO dargestellt
                              									wird, so hat man letzterem nur zwei Aequivalente Wasser zu entziehen, um das Amylen
                              									zu erhalten, und dieses geschieht durch die Einwirkung von wasserfreiem Chlorzink
                              									auf dasselbe mit Hülfe der Wärme. In derselben Zeit bilden sich jedoch außer dem
                              									Amylen noch verschiedene gasartige, wie auch verdichtbare höhere
                              									Kohlenwasserstoff-Verbindungen nebst Wasser. Diese fremdartigen Stoffe
                              									entfernt man durch wiederholte Rectification, wodurch man zuletzt das Amylen mit
                              									einem constanten Kochpunkt von 39° C. erhält, in welchem Zustande es eine
                              									äußerst flüchtige, farblose, sehr leicht bewegliche Flüssigkeit mit einem
                              									eigenthümlichen erfrischenden Geruche darstellt, ohne Geschmack ist, sich gegen
                              									Lackmus neutral verhält und beim Verdunsten keinen Geruch nach Fuselöl hinterläßt.
                              									Beim Verdunsten desselben auf einer feuchten Oberfläche erzeugt sich eine solche
                              									Kälte, daß die Feuchtigkeit alsbald als Schnee zum Vorschein kommt. Nach Dr. Snow hat das reine Amylen das specifische
                              									Gewicht 0,659. Dasselbe ist fast unlöslich im Wasser, jedoch leicht löslich im
                              									Weingeist und Aether.
                           Die nächst höhere Verbindungen sind alle isomer mit Amylen, wie
                              									C₂₀H₂₀, C₄₀H₄₀,
                              									C₈₀H₈₀ u.s.w., haben jedoch viel höhere Kochpunkte.
                           Da in London sehr verschiedenartige Producte, meistens mit sehr unangenehmem Geruch
                              									als Amylen verkauft werden, jedoch dasselbe ganz und gar nicht repräsentiren, so
                              									will ich hier im Allgemeinen den Weg angeben, den ich als Chemiker der General-Apothecaries-Company in London in
                              									deren Laboratorien einschlug, um ein reines Product zu erhalten.
                           Vor allem muß ich bemerken, daß man bei der ganzen Darstellung die größte Vorsicht
                              									anwenden muß, wenn man nicht den größten Theil des Amylens verloren gehen lassen
                              									will. Zuerst muß man das Fuselöl vollkommen rein darstellen (da es immer Wasser und
                              									Weingeist enthält), was am besten durch so lange wiederholte Destillation erreicht
                              									wird, bis man einen constanten Kochpunkt von 130–134° C. erhält. Nun
                              									wird dasselbe in einer geräumigen Retorte, die mit einem sehr langen Liebig'schen Kühlapparat verbunden ist, mit fast gleichen
                              									Theilen wasserfreiem Chlorzink beinahe zur Trockne destillirt, wobei die Temperatur
                              									höher steigt, als der Kochpunkt des Quecksilbers ist. Dieses Destillat wird nun
                              									zuerst von dem Wasser durch Abgießen befreit, dann in einer Retorte behutsam
                              									destillirt, bis die Temperatur auf 100° C. steigi. Den Rückstand in der
                              									Retorte, der meistentheils Fuselöl ist, gießt man auf das Chlorzink zurück, während
                              									man das Destillat längere Zeit mit Chlorcalcium digerirt und dann die Flüssigkeit in
                              									einer Retorte sehr vorsichtig destillirt. Alles was unter 40° C. destillirt,
                              									ist alsdann reines Amylen.
                           Nach der Angabe von Balard soll das Amylen von den höheren
                              									Kohlenwasserstoff-Verbindungen durch concentrirte Schwefelsäure getrennt
                              									werden, in welcher sich dieselben lösen sollen, während das Amylen an der Oberfläche
                              									unverändert schwimmen soll.
                           Nach meinen Versuchen jedoch wird nicht bloß die sämmtliche Reihe jener Verbindungen
                              									durch concentrirte Schwefelsäure umgewandelt (wobei zuletzt allerdings eine ölige
                              									Schichte an der Oberfläche erscheint), sondern durch stets vorhandenes Fuselöl
                              									werden neben schwefliger Säure auch schwefelhaltige Verbindungen erzeugt, welche
                              									einen äußerst unangenehmen Geruch haben, sehr nachtheilig auf die Gesundheit
                              									einwirken und kaum zu beseitigen sind. Am meisten aber steht diesem Wege entgegen,
                              									daß das hierdurch erhaltene Product keine anästhesirende Wirkung ausübt.
                           Die Vorzüge des Amylens in Beziehung zu Aether und Chloroform, bestehen hauptsächlich
                              									darin, daß es ohne alle Gefahr eingeathmet werden kann und zwar schon nach 1/2
                              									Minute in voller Stärke, ohne Krämpfe oder sonstige Beschwerden herbeizuführen, daß
                              									es den Patienten in keinen so tiefen Schlaf versetzt, wie jene und das vollkommene
                              									Bewußtseyn fast augenblicklich nach seiner Entfernung zurückkehrt, wobei weder ein
                              									Uebelbefinden, noch andere Belästigungen fühlbar sind; ja daß im Gegentheil das
                              									Amylen eine sehr angenehme Empfindung macht.
                           Da Reichenbach's Cupion aus dem Steinkohlentheer, dieselbe
                              									Zusammensetzung, wie Amylen Haben soll, so ist es wahrscheinlich, daß ein ähnliches
                              									Product sich auch in den flüchtigen Destillations-Producten des bituminösen
                              									Schiefers vorfindet.
                           London, im April 1857.