| Titel: | Ueber die gezogenen Kanonen und ihre Zukunft; von Favé. | 
| Fundstelle: | Band 165, Jahrgang 1862, Nr. LXVILXV., S. 255 | 
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                        LXVILXV.
                        Ueber die gezogenen Kanonen und ihre Zukunft; von
                           Favé.
                        Aus den Comptes
                                 rendus, Juni 1862, t. LIV p. 1175.
                        Favé, über gezogene Kanonen.
                        
                     
                        
                           Schon im 16. Jahrhundert hat man Büchsen mit gezogenen Läufen gebraucht, ohne daß man
                              sich die Vortheile dieser Construction recht klar zu machen und dieselben weiter zu
                              verfolgen gewußt hätte.
                           In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts fand jedoch Robins schon den Grund der Ueberlegenheit der gezogenen Geschütze über die
                              nichtgezogenen. Nachdem er nämlich erkannt hatte, daß die kugelförmigen Geschosse,
                              die von gewöhnlichen glatten Geschützen geschossen werden, auf ihrer Bahn eine
                              Rotationsbewegung um veränderliche Achsen verfolgen, fand er im Gegentheil daß bei
                              gezogenen Rohren die Kugel sich immer nur um eine und dieselbe Achse, und zwar um
                              die welche mit der Achse des Laufes zusammenfällt, bewegt (zu welchem Zwecke man
                              auch den Geschossen für gezogene Geschütze eine in Bezug auf diese Achse
                              symmetrische, d.h. im Allgemeinen cylindrische Form gibt). Vergebens versuchte Robins seiner Theorie bei der damaligen Artillerie
                              Eingang zu verschaffen, und im Jahr 1740 schrieb er die folgenden denkwürdigen
                              Worte: „Diejenige Nation, welche zuerst die Eigenthümlichkeit und die
                                 Vortheile der gezogenen Geschütze erkennen, welche dieselben am leichtesten
                                 construiren und deren Armee sie geschickt handhaben wird, diese Nation, sage
                                 ich, wird über die anderen eine eben solche Ueberlegenheit erlangen, als ihr
                                 alle Erfindungen, die in irgend einer Waffe bis heute gemacht worden sind, geben
                                 könnten; ja, ich behaupte sogar, die Truppen dieser Nation würden allen anderen
                                 ebenso überlegen seyn, als seiner Zeit die ersten Erfinder der Feuerwaffe
                                 überhaupt es waren, wie uns die Geschichte lehrt!“..... So schrieb
                              Robins vor 120 Jahren; sein Zeitgenosse, der berühmte
                              deutsche Mathematiker Euler, glaubte aber, ohne auf das
                              Experiment zurückzugehen, die Theorie Robins' widerlegen
                              zu können. Die Autorität dieses großen Mathematikers, der zuerst die Frage über die
                              Wurflinie in der Luft gelöst hatte, bewirkte daß man den von Robins nur angedeutenden Weg nicht einschlug; und erst im Jahr 1825 war
                              es, daß die französische Artillerie durch ihre Versuche mit gezogenen Carabinern
                              allem Streit ein Ende machte. Nach den Carabinern construirte man nun auch gezogene
                              Kanonen, deren große Ueberlegenheit über die gewöhnlichen jetzt überall anerkannt
                              wird.
                           Die französische Artillerie hat Bronze als das Material für die gezogenen Geschütze beibehalten, und die
                              Ladung geschieht von vorn. Das Geschoß ist mit Vorsprüngen von Zink versehen, welche
                              gerade in die Züge passen. Da das Zink viel weicher ist als die Bronze, so nützt
                              sich beim Schuß das Zink ab, ohne die Schärfe der Form der Bronze zu
                              beeinträchtigen.
                           Die englische Artillerie hat Kanonen eingeführt die von hinten geladen werden;
                              dieselben sind aus Schmiedeeisen, und zwar aus zusammengeschweißten Bändern
                              construirt.Man s. die Beschreibung ihrer Anfertigung im polytechn. Journal Bd. CLVI S.
                                       107. Der cylindrische Theil des gußeisernen Geschosses hat eine Hülle von Blei,
                              welche sich beim Schuß in die Züge eindrückt und so dem Geschoß die
                              Rotationsbewegung um eine Achse ertheilt, die mit der Achse des Feuerrohrs
                              zusammenfällt. Das weiche Blei, das sich auf dem Eisen reibt, erfüllt dann ganz die
                              Bedingungen der Büchsenkugel. Diese Kanonen werden mit starken Pulverladungen
                              geschossen und scheinen sehr solid gebaut zu seyn; ihr Schuß ist schnell, allein sie
                              sind nicht so leicht, und folglich auch nicht so beweglich wie die neuen Geschütze
                              der französischen Feldartillerie.
                           Das Schießen mit sogenannten Kartätschen war bisher der schwache Punkt der gezogenen
                              Geschütze; aber Sir William Armstrong hat ein Geschoß
                              erfunden, welches im Innern aus einem mit Pulver gefüllten Rohre gebildet wird, um
                              das schichtenweise Segmente aus Gußeisen liegen, die zusammen äußerlich eine
                              cylindrische Eiform geben; eine Hülle von Blei umschließt das Ganze, und man
                              versichert daß dieses Geschoß ein Widerstand leistendes Hinderniß, ohne
                              außeinanderzugehen, ebenso gut durchbricht wie ein gewöhnliches Vollgeschoß, während
                              es am Ende seiner Bahn in eine große Zahl von Stücken zerspringt. Nichtsdestoweniger
                              läßt die Anbringung eines Zünders, der das Zerplatzen des Geschosses an einem
                              gewissen Punkte bewirken soll, noch viel zu wünschen übrig, und macht zur Zeit diese
                              Neuerung in der englischen Artillerie noch wenig wirksam.
                           Die preußischen Kanonen werden, ebenso wie die englischen, von hinten geladen. Sie
                              sind von Gußstahl, aber da ihr Mechanismus keinen großen Widerstand auszuhalten
                              vermag, vertragen sie nur eine schwache Ladung, wodurch die Schußlinien mehr
                              gekrümmt werden. Diese Artillerie hat die Demolirung der Festungswerke von Jülich
                              benützen können, um Versuche über die Wirkung ihrer Geschosse im Brescheschießen zu
                              machen.
                           Man weiß bereits daß die oblongen Geschosse der gezogenen Kanonen, sobald sie
                              Mauerwerk durchdringen, ohne selbst dabei in Stücke zu gehen, eine sehr bedeutende Demolirung
                              veranlassen; die preußische Artillerie hat aber noch weitergehende Erfahrungen
                              gemacht. Die Krümmung und die Regelmäßigkeit ihrer Wurflinien hat sie darauf
                              geführt, die Wirkung des etwas niederwärts gerichteten Schusses (tir plongeant) zu versuchen. Man hat Kanonen auf der
                              Fläche des Erdbodens aufgestellt und auf Distanzen von 1800 bis 2500 Fuß gegen
                              Mauerwerk geschossen, welches sich in einem Graben befand und von einem Erdwall
                              gedeckt war. Diese Versuche haben einen sehr bemerkenswerthen Erfolg gehabt, und
                              wenn die Feldartillerie sich bemühen muß die Schüsse mit Kartätschen für die
                              gezogenen Geschütze in Anwendung bringen zu können, so scheint ebenso die
                              Belagerungsartillerie eine ganz andere Richtung nehmen zu müssen. Denn da man es
                              hier nur mit bekannten Entfernungen zu thun hat, so kommt es nicht so sehr darauf
                              an, den Geschossen möglichst gerade Wurflinien zu geben, sondern es wäre hier von
                              dem größten Vortheil, wenn man von fern in die Festungsmauern, ungeachtet der sie
                              deckenden Erdwälle, Bresche schießen könnte. Die Fortification ist aus diesem Grund
                              ebenso bedroht eine zweite Umformung zu erfahren, vergleichbar der die sie im 16.
                              Jahrhundert nöthigte die Gräben zu vertiefen und die Mauern tiefer herabzusetzen, um
                              sie den indirecten Einwirkungen der Kanonen zu entziehen.
                           Die Artillerie der Marine dagegen hat eine ganz andere Aufgabe zu lösen; denn um
                              einen wirksamen Schuß gegen ein Panzerschiff auszuführen, muß eine Kugel von 80 bis
                              100 Pfd. Gewicht den Kanonenlauf mit einer Geschwindigkeit von etwa 1200 Fuß in der
                              Secunde verlassen. Es ist aber sehr schwierig, dazu gezogene Geschütze von der
                              nöthigen Widerstandsfähigkeit zu construiren. Der General Piobert hat deßhalb vorgeschlagen die Zusammensetzung des Pulvers für
                              diesen Zweck etwas zu ändern, nämlich die Quantität des Salpeters etwas zu
                              verringern, um die Entwickelung der Pulvergase langsamer zu machen.