| Titel: | Ueber die Theorie der Stahlbildung; von F. Margueritte. | 
| Fundstelle: | Band 175, Jahrgang 1865, Nr. XC., S. 364 | 
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                        XC.
                        Ueber die Theorie der Stahlbildung; von F. Margueritte.
                        Aus den Comptes
                                 rendus, 1864, t. LIX p. 376.
                        Margueritte, über die Theorie der Stahlbildung.
                        
                     
                        
                           Durch meine der Akademie unlängst mitgetheilten Untersuchungen über die Kohlung des
                              EisensComptes rendus, t. LIX p. 185; polytechn. Journal Bd. CLXXIV S. 226. erhält die jetzige Theorie der Stahlbildung, welche in Wirklichkeit nur der
                              einfache Ausdruck der Thatsachen ist, ihre Bestätigung; dieselbe läßt sich in
                              folgenden Sätzen zusammenfassen:
                           Durch Erhitzen in Holzkohle erhält das Stabeisen eigenthümliche, constante,
                              charakteristische Eigenschaften. Das auf diese Weise behandelte Eisen wird beim
                              Ablöschen hart, spröde, elastisch, erlangt dagegen durch Anlassen oder Tempern seine
                              ursprüngliche Dehnbarkeit wieder und verliert seine Elasticität. Es ist zu Stahl geworden.
                           Bei der Umwandlung in Stahl verbindet sich das Eisen mit einigen Tausendtheilen
                              Kohlenstoff; der Gehalt des Stahls an letzterem ist stets weit geringer, als der
                              Kohlenstoffgehalt des Roh- oder Gußeisens. Die analytische Bestimmung des mit dem
                              Eisen verbundenen Kohlenstoffs genügt zur Feststellung eines auffallenden
                              Unterschiedes zwischen Gußeisen und Stahl, und die charakteristischen Eigenschaften
                              des letzteren machen jede Verwechslung unmöglich. Daß Gußeisen und Stahl manche
                              Eigenschaften gemeinsam besitzen, ist natürlich, da beide Eisencarburete sind; auch
                              Gußeisen kann, gleich dem Stahle, durch Ablöschen gehärtet werden, es läßt sich
                              indessen weder strecken noch schweißen, es bleibt immer mehr oder weniger spröde,
                              zeigt nie Elasticität und kann z.B. nicht zur Anfertigung einer Rappierklinge oder
                              einer Uhrfeder benutzt werden.
                           Demnach ist der Stahl ein Zwischenproduct zwischen dem Stabeisen und Gußeisen.
                           Der Kohlenstoff, bisher als der einzige Körper erkannt, welcher dem Eisen die in
                              Folge des Ablöschens und Anlassens hervortretenden Eigenschaften zu ertheilen
                              vermag, wird mit Recht als das für die Stahlbildung unerläßliche Agens betrachtet,
                              denn kohlenstofffreien Stahl kennt man noch nicht.Abgesehen von Faraday's und Stoddart's Versuchen, welche unter dem Gesichtspunkt des
                                    Kohlenstoffs zu wiederholen sind.
                              
                           
                           Niemals ist indessen der Stahl (Eisencarburet) chemisch rein; er enthält gewisse
                              Substanzen, welche ursprünglich im Roheisen und in Folge dessen auch im Stabeisen
                              vorhanden sind. Jeder dieser Körper oder alle zusammen beeinflussen die
                              Eigenschaften des Stahls in bedeutendem Grade, und müssen deßhalb in der technischen
                              Praxis selbstverständlich ihre Berücksichtigung finden; bezüglich der Theorie der
                              Stahlbildung hingegen würde es keineswegs rationell seyn, anzunehmen, daß durch ihre
                              Gegenwart das Vorhandenseyn von Kohlenstoff entbehrlich werde; denn wenn letzterer
                              nicht vorhanden ist, so wird der Stahl als solcher vollständig vernichtet, indem er
                              alle seine charakteristischen Eigenschaften einbüßt; überdieß ist experimentell
                              nicht nachgewiesen, daß jene anderen Körper zur Stahlbildung unerläßlich nothwendig
                              sind. Dagegen hat Chevreul
                              Polytechn. Journal Bd. CLX S. 129. schon vor längerer Zeit drei Kategorien von Stahl angenommen, bestehend
                              aus:
                           1) Eisen und Kohlenstoff;
                           2) Eisen, Kohlenstoff und einem dritten Körper;.
                           3) Eisen und einem anderen Körper, welcher nicht Kohlenstoff ist, also Stahl ohne
                              Kohlenstoff.
                           Diese allgemeiner gehaltene Classification, welche sowohl die bereits dargestellten
                              Stahlsorten, als diejenigen, welche später entdeckt werden können, umfaßt,
                              entspricht allen Anforderungen der Theorie wie der Praxis.
                           Ich habe an diese allgemein bekannten Thatsachen nur erinnert um zu zeigen, welche
                              Ansichten über die charakteristischen Eigenschaften und die chemische Constitution
                              des Stahls heutzutage die herrschenden sind.
                           Was die Entstehungsweise des Stahls, d.h. die Art wie der Kohlenstoff sich mit dem
                              Eisen verbindet, anbetrifft, so werden, wie ich glaube, die seit den Arbeiten von
                              Guyton-Morveau und Clouet
                              über die Kohlung des Eisens bezüglich dieses Punktes noch gebliebenen Zweifel durch
                              die von mir veröffentlichten Versuche gehoben.
                           Das Eisen verbindet sich mit dem Kohlenstoff und verwandelt sich in Stahl durch
                              Contact oder Cementirung, und auch durch die Zersetzung eines Kohlenstoff
                              enthaltenden Gases; in den Cementirkästen wirken beide Kohlungsursachen
                              gleichzeitig.
                           Wie man sieht, ist nichts einfacher und logischer, nichts entspricht den Thatsachen
                              besser, als die nach diesen Daten aufgestellte Stahlbildungstheorie. Indessen hat
                              Saunderson über die Stahlbildung ganz abweichende
                              Ansichten aufgestellt. Er suchte nämlich zu beweisen, daß die Kohle, das Kohlenoxyd, das
                              Ammoniak, die reinen und von anderen Gasen freien Kohlenwasserstoffe zur Cementirung
                              nicht geeignet sind; daß die gleichzeitige Wirkung von Stickstoff und Kohlenstoff
                              zur Umwandlung des Stabeisens in Stahl erforderlich ist, in welchem letzteren er die
                              Gegenwart von Stickstoff nachwies, ohne sich jedoch über dessen absolute
                              Nothwendigkeit auszusprechen.
                           Frémy schreibt in seinen „Untersuchungen
                                 über die chemische Constitution des Roheisens und des Stahls“ dem
                              Stickstoff bei der Cementirung eine ganz besondere und unentbehrliche Rolle zu, und
                              nimmt übereinstimmend mit Saunderson's Ansicht an, daß
                              durch reinen Kohlenstoff keine Stählung stattfinden und daß die Cementirung nicht
                              ausschließlich durch eine flüchtige Kohlenstoffverbindung herbeigeführt werden kann,
                              weil man bei Anwendung von Leuchtgas nur Roheisen (Gußeisen) erhält, während, wenn
                              in dem Metalle bereits Stickstoff enthalten ist, sofort Stahl entsteht; daß ferner
                              die in einem Eisen enthaltene Stickstoffmenge es ist, durch welche im Momente der
                              Kohlung, der Grad der Stählung bedingt wird; daß endlich der Stahl nicht ein bloßes
                              Carburet, sondern ein Nitrocarburet (Kohlenstickstoff-Eisen) ist. Dieß ist die Basis
                              der neuen von ihm aufgestellten Theorie.
                           Gegen Frémy's Ansichten wurden verschiedene
                              Einwürfe erhoben; auch blieben sie mit Versuchen, denen sich Bedeutung und Werth
                              nicht absprechen läßt, in Widerspruch.
                           Caron hat gezeigt, daß das Eisen sich durch stickstofffreie Kohlenstoffverbindungen (reines Sumpfgas)
                              in Stahl verwandeln läßt, sofern dieselben nicht durch die Hitze zersetzt werden
                              können, bevor sie auf das Eisen reagiren.
                           Andererseits glaube ich klar nachgewiesen zu haben, daß das (vorher durch
                              siebzehnstündiges Glühen im Wasserstoffstrom von seinem Stickstoff befreite) Eisen
                              mittelst reinen, in Form von Diamant oder Kohlenoxyd angewendeten Kohlenstoffs in
                              Stahl verwandelt werden kann. Wenn der Wasserstoff, wie Frémy angibt, dem Eisen den Stickstoff entzieht, der Stickstoff
                              aber für die Constitution des Stahls unerläßlich nothwendig ist, so würde die
                              Stahlbildung in einem Wasserstoffstrom unmöglich seyn. Durch das Experiment wird nun
                              aber das Gegentheil bewiesen. Demnach ist der Stickstoff kein wesentlicher
                              Bestandtheil des Stahls. Indessen sind die meisten Stahlsorten stickstoffhaltig.
                              Nach den Untersuchungen sehr tüchtiger Chemiker, wie Marchand,
                                 Schafhäutl, Caron, Bouis, Boussingault, ist aber
                              dieser Stickstoffgehalt unendlich klein, und wenn derselbe wirklich den Maaßstab für
                              die Stahlbildung abgäbe, wäre daher letztere beinahe gleich Null.
                           
                           Die Wahrheit ist, daß heutzutage Niemand beweisen kann, daß der Stahl ausschließlich
                              ein Eisen-Nitrocarbür, oder Phosphorcarbür, oder Kieselcarbür, oder Mangancarbür,
                              oder Chromcarbür, oder Titancarbür, oder Wolframcarbür etc. sey. Aber unter diesen
                              so zahlreichen und durch so verschiedene Eigenschaften charakterisirten Stahlclassen
                              ist es der typische, der aus
                                 Eisencarburet bestehende Stahl, welcher mit dem Kohlenstoff entsteht und
                              verschwindet, und welcher die anderen Stahlsorten erzeugt, indem er sich unter dem
                              Einfluß aller Metalloide und Metalle, welche sich mit ihm verbinden können,
                              modificirt.