| Titel: | Ueber Leichenverbrennung und Friedhöfe; von Ferd. Fischer. | 
| Fundstelle: | Band 214, Jahrgang 1874, Nr. CXXI., S. 477 | 
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                        CXXI.
                        Ueber Leichenverbrennung und Friedhöfe; von
                           Ferd.
                              Fischer.
                        (Schluß von S. 392 des vorhergehenden
                           Heftes.)
                        Fischer, über Leichenverbrennung und Friedhöfe.
                        
                     
                        
                           Fragen wir nun nach den Gründen, weshalb die bisherige Bestattung durch die
                              Leichenverbrennung ersetzt werden soll, so wird angegeben:
                           1) Die Beerdigung inficirt Boden, Grundwasser und Luft.
                           2) Es fehlt an Platz für die Friedhöfe.
                           3) Die Beerdigung ist zu theuer.
                           4) Die Verbrennung schützt gegen das Lebendig-Begrabenwerden.
                           5) Die Beerdigung läßt die Gräberschändung zu.
                           6) Die Beerdigung ist unästhetisch.
                           Die außerdem von Lieball
                              Lieball: Der Welt Verderben durch
                                    Leichenbeerdigung, und das neue Paradies durch Leichenverbrennung (München
                                    1868).Das ganze Buch ist das Product der gröbsten
                                       Unwissenheit! vorgebrachten Gründe für Leichenverbrennung entziehen sich jeder ernsten
                              Besprechung.
                           1) Auf die Vergiftung des Bodens, des Wassers und der Luft
                              wird allgemein das Hauptgewicht gelegt.Beilage zur Augsburger Allgemeinen Zeitung, 1874 S. 4166. So erzählt namentlich Ullersperger
                              Ullersperger: Urne oder Grab (Erlangen 1874) S.
                                    51., daß im Jahre 1774 bei einer Beerdigung drei Personen in der stickstoffhaltigen (wohl richtiger kohlensäurehaltigen)
                              Atmosphäre des frisch ausgehobenen Grabes erstickt seien, ferner daß schon im J.
                              1711 ein Arzt gesagt habe, geöffneten Grüften entströme eine verderbliche Luft,
                              „woran jedes lebende Wesen unversehens ersticken kann.“
                              Selmi (Ullersperger, S. 93) behauptet, in der Luft über
                              den Gräbern befinde sich ein organischer Körper, das Septopneuma. (?) – Mit
                              derartigen oberflächlichen Angaben wird eben Nichts bewiesen.
                           
                           Bekanntlich bestehen die festen und flüssigen menschlichen Auswurfstoffe im
                              Wesentlichen aus in Zersetzung begriffenen Bestandtheilen unseres Körpers, erstere
                              mit fäulnißfähigen Speiseresten vermischt. Nun haben aber die neueren Beobachtungen
                              ergeben, daß gerade diese Auswurfstoffe die Träger der Infection bei Ruhr,
                              TyphusVergl. Zeitschrift für Epidemiologie, 1874 S. 1, 31, 71, 99, 132 und 400. und Cholera sind. Professor v. Gietl
                              F. v. Gietl: Gedrängte Uebersicht meiner
                                    Beobachtungen über die Cholera vom Jahre 1831 bis 1873 (München 1873). schließt aus seinen langjährigen Beobachtungen, daß der Leib und die Leiche
                              der Cholerakranken, wenn rein gehalten, nicht anstecken, daß dagegen die
                              diarrhöischen Stühle die Erzeuger und Träger des Ansteckungsgiftes sind.Vergl. auch Küchenmeister: Verbreitung der
                                    Cholera, S. 65 und 92; Zeitschrift für Epidemiologie, 1874 S. 346. Qualitativ sind die menschlichen Auswurfstoffe also gefährlicher, oder doch
                              mindestens ebenso bedenklich als die Leichen selbst.
                           Bei einer mittleren Sterblichkeit von 24 auf 1000 und einem Durchschnittsgewicht der
                              Leichen von 40 Kilogrm. mit 32,5 Proc. organischen StoffenS. 384 des vorhergehenden Heftes. liefern 1000 Menschen also jährlich 312 Kilogrm. organische Substanz in
                              ihren Leichen. An Auswurfstoffen geben dieselben nach Wolf und Lehmann jährlich 33170 Kilogrm.
                              FäcesDingler's polytechn. Journal, 1873 Bd. CCX S.
                                    144. darin 7200 Kilogrm. organische Stoffe, 428300 Kilogrm. Urin und darin 15000
                              Kilogrm., zusammen also 22200 Kilogrm. fäulnißfähige Substanz. Der Mensch liefert
                              also in seiner Leiche nur 1,4 Proc. derjenigen organischen Stoffe, welche er bei
                              Lebzeiten ausscheidet, ja bei Berücksichtigung der sonstigen Abfälle kaum 0,5 Proc.;
                              Fleck
                              Dritter Jahresbericht der chemischen Centralstelle (Dresden 1874) S. 34. berechnet für Dresden sogar nur 0,3 Proc.
                           Die fäulnißfähigen Stoffe der menschlichen Leichen sind also qualitativ und
                              quantitativ fast verschwindend gegen die Massen, welche der Mensch bei Lebzeiten der
                              Luft, dem Boden und dem Wasser überliefert.
                           Dieses wird bestätigt durch die Untersuchung der Grundwässer. So hat Pettenkofer
                              Zeitschrift für Biologie, Bd. I S 45. für München, Weltzien
                              Weltzien: Die Brunnenwässer der Stadt Karlsruhe
                                    (Karlsruhe 1866). für Karlsruhe, Reich
                              Reich: die Salpetersäure im Brunnenwasser und ihr
                                    Verhältniß zur Cholera (Berlin 1868). für Berlin, Fleck
                              Dritter Jahresbericht S. 25. für Dresden, und Bach
                              Journal für praktische Chemie, 1874 Bd. IX S. 374. für Leipzig gezeigt, daß die Brunnenwässer der Kirchhöfe weniger
                              Fäulnißproducte enthalten als die meisten städtischen Brunnenwässer, welche unter dem Einflusse
                              von Abortsgruben, unreinen Straßengossen und schlecht angelegten Canälen stehen.
                              Auch die im behördlichen Auftrage vom Verf. ausgeführten Analysen (S. 480 und 481)
                              zeigen, daß das Grundwasser eines der ältesten Kirchhöfe Hannovers weniger
                              Fäulnißstoffe enthält als eine große Anzahl öffentlicher und
                              Privat-Brunnen.Vergl. Fischer, das Trinkwasser, seine
                                    Beschaffenheit, Untersuchung und Reinigung (Hannover 1873) S. 51.
                              
                           Die Behauptung, daß durch Einführung der Leichenverbrennung die Inficirung des Bodens
                              und des Wassers vermieden werde, ist demnach durchaus falsch. – Damit soll
                              aber nicht gesagt sein, daß nicht einige der jetzigen
                              Friedhöfe gesundheitsschädlich sind. Namentlich sollte die Aufstellung der Särge in
                              ausgemauerten Gruben nicht gestattet werden; die Särge können nicht völlig dicht
                              sein, so daß die gasförmigen Zersetzungsproducte direct in die Atmosphäre
                              entweichen. Daß ferner Friedhöfe, welche in unmittelbarer Nähe der Wohnungen liegen,
                              geschlossen werden müssen, ist selbstverständlich. In Italien soll die Entfernung
                              der Begräbnißplätze von den Wohngebäuden 100 Meter, in Sachsen 136, in Oesterreich
                              und Frankreich 200 Meter betragen; der hygienische Congreß zu Brüssel im J. 1852
                              forderte 400 Meter.
                           Ein Friedhof sollte stets mindestens 1000 Meter von dem Orte entfernt angelegt
                              werden. – Am günstigsten für die Verwesung ist ein trockener thonhaltiger
                              Sandboden. Thonboden hindert den Zutritt der Luft, und loser Kiesboden hat ein zu
                              geringes Absorptionsvermögen, so daß unter Umständen Zersetzungsproducte entweichen
                              könnten, bevor sie von dem Sauerstoff der Luft völlig oxydirt und unschädlich
                              gemacht sind, obgleich selbst in diesem Falle keine nennenswerthe Verunreinigung der
                              Atmosphäre zu befürchten ist.Vergl. Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege, 1873 S.
                                    502. Der Boden sollte 3 Meter tief drainirt, das Drainwasser auf eine Wiese
                              geleitet werden; etwa abfließende faulige Wässer würden so auf die einfachste und
                              zuverlässigste Weise desinficirt und unschädlich gemacht.Dingler's polytechn. Journal, 1874 Bd. CCXI S.
                                    221. Selbstverständlich gebietet es die Vorsicht, nicht einen Platz zu wählen,
                              dessen Grundwasser nach einem in der Nähe liegenden bewohnten Orte oder gar nach
                              einer städtischen Wasserversorgungsanlage abfließen. – Der Sarg muß mit einer
                              1,5 Meter dicken Schicht Erde bedeckt sein; ein Grab darf nicht früher als nach 30
                              Jahren wieder benützt werden.Vergl. Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege, 1870 S. 100 und
                                    128. Grotefend, das Leichen und Begräbnißwesen im
                                    preußischen Staate (Arnsberg 1869). Gewiß würde es sich auch empfehlen, in die Särge eine Schicht Eisenoxyd und
                              Kalk zu bringen.
                           
                           
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 214, S. 480–481
                              Nr.; Standort; Chlor;
                                 Schwefelsäure; Kohlensäure; Salpetersäure; Salpetrige Säure; Ammoniak;
                                 Organische Stoffe; Calcium; Magnesium; Härte; Veränderlich; Gesammt;
                                 Mikroskopische Prüfung; Bemerkungen; Andreaskirchhof; Braun, blau und violett
                                 gefärbte organische Massen mit kleinen Kugelbatterien. Einige große
                                 Gypskrystalle; Desgl. Röhrenbrunnen; Braun bis violett gefärbte organische
                                 Substanz mit Zooglöa-ähnlichen Massen; Umgeben von alten und neuen
                                 Gräbern; Kurzestraße; Blaue organische Stoffe mit einigen Stäbchenbakterien;
                                 Langelaube; Schön violett gefärbte organische Substanz mit gestreckten Zellen.
                                 Gut ausgebildete Gypskrystalle; Brühlstraße; Graue und blaue organische Stoffe.
                                 Gypskrystalle mit undeutlichen Kanten; hygroskopische Salze; Körnerstraße;
                                 Braun, gelb und schön violett gefärbte organische Substanz mit einigen
                                 Kugelbakterien. Farblose Kalkkrystalle; 5 bis 15 Meter vom Andreaskirchhofe
                                 entfernt; Wenige graue und schön violette organische Stoffe; sehr kleine
                                 Kalkkrystalle; Etwas blau gefärbte organische Substanz und graue,
                                 Zooglöa-ähnliche Massen. Gut ausgebildete Gypskrystalle; Körnerstraße;
                                 Grau und violett gefärbte organische Stoffe mit einigen Kugelbakterien; große
                                 Gypskrystalle; Josephstraße; Spur; Blei blauschwarz und violett gefärbte
                                 organische Substanz mit Stäbchenbakterien; 5 bis 15 Meter vom Andreaskirchhofe
                                 entfernt; Graue, weniger blaue Fäulnißstoffe. Gypskrystalle und hygroskopische
                                 Salze; Theodorstraße; Violettblaue, organische Substanz mit wenigen Bakterien;
                                 einige schöne Gypskrystalle; Bahnhof; Viel organische Stoffe mit sehr kleinen
                                 Kugelbakterien und violetten Pilzfäden; Als „Trinkwasser“
                                 für das reisende Publicum verwendet; Königstraße; stark; Am Schiffgraben;
                                 Auffallend viel braun, gelb und violett gefärbte Fäulnißproducte; Ihmestraße 2;
                                 Sehr viel graue, weniger blaue organische Stoffe mit Bakterien;
                                 Vahrenwalderstraße; Sehr stark; Sehr viel braun und blaugefärbte organische
                                 Massen mit zahlreichen violettgefärbten Pilzfäden; Das Wasser schäumt stark.
                                 Vergl. D. p. J. 1874 Bd. CCXII S. 405; Trübe; Röhrenbrunnen auf der Bult;
                                 Schwach braun gefärbte Stoffe und kleine Kalkkrystalle; Torfiger Untergrund;
                                 Grenzwerth; Vergl. D. p. J 1873 Bd. CCX S. 287 und 300
                              
                           
                           2) Der zweite angebliche Nachtheil der Beerdigung, daß es an Platz für Anlage der Friedhöfe fehle, und daß der Landwirtschaft eine
                              ungeheuer große Fläche entzogen werde, ist ebenso wenig gerechtfertigt. Ein
                              Verstorbener sollte doch wenigstens 2 bis 3 Quadratmeter auf 30 oder 40 Jahre
                              beanspruchen können, um der Erde zurückzugeben, was er von ihr genommen!
                           3) Die Beerdigung ist zu theuer und bedingt große
                                 Holzverschwendung. Es ist wirklich nicht einzusehen, welche Ersparung die
                              Leichenverbrennung bieten soll, die nicht auch bei der Beerdigung zu erreichen ist.
                              Will man etwa die Leichen nur in ein Tuch gehüllt verbrennen, so können sie auch
                              ohne Sarg beerdigt werden, wie dieses nach Kriegk bis zum
                              17. Jahrhundert noch allgemein üblich war. (Deutsches Bürgerthum im Mittelalter.
                              Neue Folge.)
                           4) Die Behauptung, daß durch die Leichenverbrennung jede Möglichkeit genommen ist,
                              einen Scheintodten lebendig zu begraben, verdient kaum
                              eine ernste Besprechung. Wir wollen unsere Verstorbenen ebenso wenig lebendig
                              verbrennen, als lebendig begraben. Es sollte überhaupt nicht mehr vorkommen, daß
                              Jemand beerdigt wird, bevor der Tod durch einen Arzt constatirt ist, in
                              zweifelhaften Fällen durch Section.
                           5) Die Gefahr der Gräberschändung bei der bisherigen
                              Bestattungsweise ist für Deutschland nicht vorhanden und dürfte selbst für England,
                              wo man sogar Patente für Befestigung der Leichen in den Särgen genommen hatDingler's polytechn. Journal, 1824 Bd. XIII S.
                                    341; 1826 Bd. XXI S. 318; 1832 Bd. XXXXVI S. 439., mindestens stark übertrieben sein. Jedenfalls ist die Gefahr der Aschenschändung weit größer, mögen die Aschenkrüge in
                              gemeinschaftlichen Hallen, Columbarien, oder in den Wohnungen der Ueberlebenden
                              aufbewahrt werden.
                           6) Auf den Vorwurf die Beerdigung sei unästhetisch näher
                              einzugehen, ist hier nicht der Ort. Es liegt jedoch in der bisherigen Bestattung ein
                              durch alle sophistische Künste nicht wegzuleugnender poetischer Gedanke, der
                              vielleicht durch die feierliche Verbrennung auf einem Scheiterhaufen unter freiem
                              Himmel, niemals aber durch die Feuerbestattung in einem Ofen ersetzt werden
                              kann!
                           Wenn übrigens die bisherigen Versuche mit dem Siemens'schen Ofen auch befriedigend ausgefallen sind, so werden sich doch bei
                              minder sorgfältiger Behandlung des Apparates gewiß übelriechende Gase entwickeln,
                              welche für die Umgegend mindestens ebenso unangenehm sind als jene eines
                              Friedhofes.
                           
                           Auch criminalistische Bedenken stehen der
                              Leichenverbrennung entgegen. Wie manches Verbrechen ist schon durch Exhumirung der
                              Leichen entdecktendeckt worden.Adler: Die Leichenverbrennung (Wien 1874); vergl.
                                    auch Zeitschrift für Epidemiologie, 1874 S. 174. Der Vorschlag von Ullersperger (S. 72) den Magen
                              mehrere Jahre aufzubewahren, ist doch völlig unausführbar.
                           Gegen eine facultative Leichenverbrennung, nach
                              vorausgegangener Section durch zwei Aerzte, wird allerdings kaum etwas einzuwenden
                              sein, als daß sämmtliche angebliche Vortheile dieser sogenannten Feuerbestattung
                              dadurch völlig hinfällig werden.
                           Das Bedürfniß die Leichen zu verbrennen, ist vorläufig
                              offenbar nicht vorhanden. Erst möge man für zweckmäßige Beseitigung und Verwerthung
                              der übrigen 99 Proc. fäulnißfähiger Stoffe, welche der Mensch bei Lebzeiten liefert,
                              sorgen, gute Canäle, Wasserleitungen u. dgl. ausführen und für Verbesserung der
                              Friedhöfe thätig sein, und dann zur Prüfung der Leichenverbrennungs-Frage
                              zurückkehren.Nach einem vom Verf. im hannoverschen Bezirksvereine deutscher Ingenieure
                                    gehaltenen Vortrage.D. R. v D. p. J.