| Titel: | Ramie. | 
| Autor: | H. Gl. | 
| Fundstelle: | Band 280, Jahrgang 1891, S. 56 | 
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                        Ramie.
                        Ramie.
                        
                     
                        
                           Einem von Jules Juvenet im Franklin-Institut gehaltenen und in dem Journal desselben zum Abdruck
                              									gebrachten Vortrag über die Cultur und Verarbeitung der Ramie entnehmen wir
                              									Folgendes:
                           Die Ramie rechneten die Naturforscher früher zur Klasse der Urtica (Brennnessel),
                              									heute jedoch bezeichnet man sie als eine Boehmeria (schiessende Nessel). In Folge
                              									ihres starken Wachsthums, ihrer bedeutenden Entwickelungsfähigkeit und ihres grossen
                              									Gehalts an Fasern, kann man sie wohl als die reichste der Gespinnstfasern führenden
                              									Pflanzen bezeichnen.
                              									In leichtem Boden gebaut, bei massiger Nässe und genügendem Regen wächst keine
                              									Pflanze so rasch, als die Ramie. Einmal gepflanzt, überdauert sie 20 Winter ohne
                              									abzusterben und liefert bei günstigem Klima drei bis vier Ernten das Jahr. Der Anbau
                              									der Ramie erfordert keine Ueberwindung von Schwierigkeiten; sie wird in dichten
                              									Reihen von 3 bis 4 Fuss Abstand gepflanzt und treibt dann ähnlich der Weide 15 bis
                              									20 Stengel von 6 bis 8, ja 10 Fuss Höhe, die an ihrer Spitze mit breiten Blättern,
                              									welche auf der Rückseite weiss aussehen, bedeckt, sind. Durch diese Blätter entzieht
                              									die Pflanze der Luft ihre Nahrung und durch den grossen Hang ihrer Hauptwurzeln mit
                              									vielen Nebenwurzeln dem Erdboden und dies erklärt ihre ausserordentliche
                              									Lebenskraft.
                           Trotzdem die Chinesen seit über einem Jahrtausend die Ramie angebaut, vor ihnen die
                              									Egypter ihre Todten in ausgezeichnete Grabtücher von Ramie eingehüllt haben, welche
                              									man noch heute in den Binden ihrer Mumien findet und obschon in Europa Prof. Roseburgh, der Director des botanischen Gartens zu
                              									Calcutta, bereits im J. 1803 die Ramie beschrieben hat, hat dieselbe bis zum
                              									heutigen Tage eine grosse Verwendung in der Textilindustrie nicht gefunden. Der
                              									Grund muss darin gesucht werden, dass man stets bestrebt war, eine Maschine zu
                              									schaffen, welche im Stande sein sollte, die gesammte Handarbeit der Chinesen
                              									nachzuahmen, während man auf der eigentlich richtigen Bahn, eine Maschine zum
                              									Abschälen der Rinde von den Stengeln, einen chemischen Process zum Auflösen des
                              									Pflanzengummis und geeignete Maschinen zum Verarbeiten der Fasern ausfindig zu
                              									machen, nicht fortschritt.
                           Auf der Bloomsdale Farm bei Bristol, Pa., angestellte Versuche über den Anbau der
                              									Ramie haben Folgendes ergeben. Ein 5 Acre grosses Feld wurde im Mai bepflanzt, und
                              									zwar kamen 10000 Pflanzen auf 1 Acre, von denen eine jede etwa im Durchschnitt 15
                              									Stengel trieb, so dass also ein Acre 150000 bis 200000 Stengel lieferte.
                           Das Abschälen der Stengel geschieht nach dem Ernten in der Weise, dass dieselben
                              									zunächst durch ein geeignetes Schlägerwerk von den Blättern befreit, sodann behufs
                              									Brechens der Holzbestandtheile durch ein Walzwerk und drittens durch ein zweites
                              									Schlägerwerk geführt werden, welches die Holzbestandtheile von den rohen Fasern
                              									löst. Dieser mechanischen Bearbeitung folgt nun der chemische Process, welcher den
                              									Zweck hat, die Pflanzenfaser von Leim u. dgl. zu befreien.
                           Die Borke setzt sich chemisch zusammen aus dem Cellulose, Paracellulose,
                              									Metacellulose enthaltenden zellenförmigen Theil, weiter aus Vasculose, Pectose,
                              									Cutose, Eiweisssubstanzen, pectinsauerem Kalk und mineralischen Bestandtheilen. Die
                              									Cellulose, von der etwa 70 Proc. vorhanden sind; ist
                              									die Faser selbst und muss erhalten bleiben, die Vasculose, Pectose und Cutose werden
                              									je nach dem Zweck, dem die Ramie dienen soll, entfernt. Sollen Seilerwaren aus
                              									derselben hergestellt werden, so ist nur die Cutose zu entfernen, für Spitzen
                              									dagegen muss eine vollständig reine Faser gewonnen werden. Kochende verdünnte
                              									Salzsäure löst den pectinsauren Kalk, indem sie die Pectinsäure frei macht, die
                              									durch ein Alkali neutralisirt werden kann, ebenso verwandelt sie Pectose in Pectin,
                              									das durch Alkohol niedergeschlagen werden kann. Cellulose wird durch Kupferammonium
                              									in Lösung gebracht und Salzsäure macht Paracellulose ebenfalls löslich in
                              									Kupferammonium. Zweifach schweflige Säure löst Cellulosebestandtheile, und eine
                              									kochende Lösung von Kali bringt Cutose in Lösung und unter Druck auch Vasculose.
                              									Verdünnte Salpetersäure macht Vasculose lösbar in Alkali.
                           Der Bleichprocess besteht in der Anwendung derjenigen chemischen Mittel, welche
                              									befähigt sind, allmählich auch diejenigen Bestandtheile zu entfernen, die der Faser
                              									ein unreines Aussehen geben. Nach diesem Bleichprocess ist die Faser fertig zum
                              									Verspinnen. Der Spinnprocess selbst verlangt eine Reihenfolge von Maschinen, deren
                              									jede ebenso, wie diejenigen der Flachs-, Hanf- und Jutespinnereien eine
                              									entsprechende Vervollkommnung erfahren müssen.
                           Aus mit in Louisiana gebauter Ramie angestellten Wägungen hat sich ergeben, dass 150
                              									Stengel, als das Product von zehn Pflanzen, mit den Blättern 49, ohne die Blätter
                              									dagegen 29 Pfund wogen. Die rohe Faser ergab nass 6, trocken 1 Pfund, und die
                              									gebleichte Faser wog nur 7 Unzen. Es ergaben also die 10000 Pflanzen auf 1 Acre 1000
                              									Pfund rohe Faser und 437 Pfund gebleichte Ramie, und da die Ernte eine dreifache
                              									ist, das Dreifache.
                           Ramie hat doppelt so grosse Festigkeit als Flachs und Hanf, sie wäscht sich besser
                              									als irgend eine andere Faser und wird weisser als die erstgenannten. Wenn sie
                              									richtig verarbeitet wird, hat sie einen solchen Glanz, dass sie zur Herstellung von
                              									Putz, feinen Posamenten, Thürverhängen u.s.w. verwendet werden kann. Ramie ist
                              									gesünder als Flachs, Hanf oder Baumwolle und kann daher auch zu Verbandzeug mit
                              									Vortheil verarbeitet werden. Ramie fault nicht im Wasser und deswegen werden Segel,
                              									Taue und Netze mit Vorliebe daraus angefertigt. Ramie vereinigt also alle Vortheile
                              									in sich, die ihr eine ausgedehnte Verwendung sichern.
                           
                              
                                 H. Gl.