| Titel: | Die Chemische Industrie auf der Columbischen Weltausstellung im J. 1893. | 
| Autor: | Otto Mühlhäuser | 
| Fundstelle: | Band 290, Jahrgang 1893, S. 16 | 
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                        Die Chemische Industrie auf der Columbischen
                           								Weltausstellung im J. 1893.
                        Von Dr. Otto Mühlhäuser.
                        Die Chemische Industrie auf der Columbischen Weltausstellung im J.
                           								1893.
                        
                     
                        
                           Wer im Nord-Osten der „Weissen Stadt“ an einem hellen Tage den Dampfer
                              									besteigt und auf dem blauen Michigan-See sich der Ausstellung nähert, gewahrt
                              									am fernen Horizont – lange ehe das Auge die im hellen Sonnenglanze erstrahlenden
                              									goldenen Kuppeln, die lichtübergossenen blendend weissen Paläste, Bauten und
                              									Säulenhallen zum fesselnden Bilde vereinigt – die Wahrzeichen der „Fair“: den
                              									Mammuthbau des Manufacturing-building und das
                              									gigantische Rad Ferri's Wheel. Diese wie von
                              									Cyklopenhand aufgeführten Eisenbauten symbolisiren aufs ausdrucksvollste den
                              									Charakter des Schöpfungsstyles unserer Zeit, seine Grosse und seinen Wechsel, den
                              									Fortschritt.
                           Auch die heutige chemische Industrie, deren Erzeugnisse jenes geräumigste aller
                              									Gebäude birgt, trägt diesen Stempel des Zeitgeistes. Angesichts ihrer Schöpfungen
                              									ersteht vor dem geistigen Auge des chemischen Technologen der Monumentalbau der
                              									chemischen Industrie mit all seinen Meistern und Gehilfen, die ihn errichteten und
                              									weiterführen. Man erkennt in den fundamentalen Theilen des Werkes die Hand des im
                              									grossen Style schaffenden Meisters, in anderen auch schon wieder eine Entfernung
                              									davon, einen zur Entartung führenden Manierismus, der – wenigstens in den Formen –
                              									über das Erlaubte hinausgeht und der nur dann gerechtfertigt erscheinen würde, wenn
                              									dadurch die Technik einer höheren Fabrikationsstufe angebahnt würde. Mehrtheilig
                              									erhebt sich der stolze Bau, auf die mächtigen Fundamente der Landwirthschaft und des
                              									Bergbaues gegründet. Er ist überspannt von dem Himmel der chemischen Wissenschaft
                              									mit seinen Sonnen, deren Namen Jedermann und in allen Zeiten ehrfurchtsvoll nennt,
                              									mit seinen Sternen erster, zweiter und dritter Grosse, mit Namen, welche nur die
                              									Zeit bezieh. nur der Fachmann kennt, und auch mit seinen ephemeren Kometen, deren
                              									Wesenheit der momentane Effect ist. Doch legen wir das Beobachtungsglas mit seinem
                              									die verschiedenen Momente im Focus vereinigenden Objectiv bei Seite und sehen wir
                              									zu, wie das alles so gekommen!
                           Die Producte der chemischen Industrie, wie sie uns auf der Weltausstellung
                              									entgegentreten, dienen den höheren Tagesbedürfnissen der Culturmenschen unserer
                              									Zeit. Bedürfnisse, deren Befriedigung selbst im vorigen Jahrhundert nur sehr wenigen
                              									vergönnt war und die als luxuriös galten, wie die Hautpflege (Reinigung des Körpers
                              									und des Unterzeuges mit Seife), Waschen der Kleidungsstücke mit Seife oder Soda,
                              									Beschaffung von Heilmitteln, Bekleidung mit prächtig gefärbten oder bedruckten
                              									Geweben, Beschaffung von Papier, von Licht u.s.w., dergleichen ist heute fast
                              									Jedermann möglich geworden. Künstliches Licht, das der Sonne den Eintritt in die
                              									Räume gewährende Glas, Reinigungs- und Heilmittel, Schreibmittel, kurz diese, die
                              									Existenz des modernen Menschen bedingenden Gegenstände kann heute Jedermann sich
                              									eignen, und eine mit Sinn für Farben begabte Menschheit erfreut sich an den bunten
                              									Erzeugnissen der Mode, dieses mächtigen Bundesgenossen der Industrie.
                           Die Zeit, in der sich dieser Umschwung vollzog, liegt in der Spanne eines
                              									Jahrhunderts. Die Ursachen, welche den Wechsel herbeiführten, können hier nicht
                              									einzeln aufgezählt werden, es soll aber versucht werden, die Hauptmomente
                              									hervorzuheben, welche die Entstehung und das Wachsthum der chemischen Industrie
                              									veranlassen. Die chemische Industrie verdankt ihre Entstehung dem die Zeit der
                              									Aufklärung charakterisirenden Drange nach Erkenntniss und muss in ihren Anfängen als
                              									der unmittelbare Ausdruck dieser Zeit auf technischem Gebiete bezeichnet werden. Der Drang jener
                              									Zeit nach Neuem gab den Anstoss zur erfinderischen Thätigkeit, schaffte die Mittel
                              									zur Ausführung der Idee, suchte und fand den Verwendungskreis. So folgte der Idee,
                              									die Baumwolle als Fasermaterial zu verwenden, in rascher Folge deren Verarbeitung
                              									auf Bekleidungsstoffe und die Formation des Marktes. Die neue Industrie riss die
                              									seit Jahrhunderten in primitivster Weise betriebene Seifenindustrie und mit dieser
                              									die eben ins Leben getretene Sodaindustrie und Chlorkalkfabrikation unwiderstehlich
                              									mit sich fort und eröffnete so auch der Bleicherei, der Färberei und dem Zeugdruck
                              									das breite Feld der Ausdehnung. Seife, Soda und Bleichkalk wurden zum billigen,
                              									Jedermann zugänglichen Artikel, deren reichliche Verwendung mehr und mehr die
                              									Medicin bezieh. die daraus sich entwickelnde Hygiene empfiehlt.
                           Die sich von nun an steigernde Nachfrage nach diesen Erzeugnissen hatte die
                              									Verarbeitung neuer Rohstoffe, die Eröffnung neuer Rohstoffquellen im Gefolge. Neue
                              									Salinen wurden angelegt, tropische Pflanzenfette werden eingeführt, an Stelle des
                              									Schwefels verwendet man Kiese u.s.w. Die neue Industrie diente jedoch nicht allein
                              									den Bedürfnissen der Textil- und Seifenindustrie bezieh. auch der Hauswirthschaft,
                              									sie hatte direct die Hebung der vordem nur in kleinerem Umfange betriebenen
                              									Papierindustrie im Gefolge. Baumwollabfälle und Lumpen bildeten eine neue Quelle für
                              									Cellulose; Soda und Bleichkalk gestatteten die Reinigung dieses vorzüglichen
                              									Papiermaterials. Auch die Glasindustrie, welche bis dahin mit Holzasche gearbeitet
                              									hatte, wurde im Laufe der Zeit eine Domäne der Sodaindustrie und gewann durch den
                              									Zufluss des billigen Vorstoffes die Basis zur Grossindustrie. Seitdem hat die
                              									Glasindustrie mächtige Ausdehnung in fast allen Culturstaaten gewonnen, Glasgefässe
                              									und -Platten haben aufgehört Luxusartikel zu sein.
                           Dass die Sodaindustrie und diejenigen Industrien, welche sie bedingten und mit ihr im
                              									engsten Zusammenhange standen, vorzüglich da zu Hause waren, wo die Verkehrswege die
                              									An- und Abfuhr der Materialien in unbeschränkter Weise gestatteten, ist ohne
                              									weiteres klar, und in der That sehen wir, dass England; das in den Kriegen zu Anfang
                              									dieses Jahrhunderts sich von Neuem die Weltherrschaft gesichert hatte, der Hauptsitz
                              									der neuen bezieh. auch neu belebten Industrien ist. In England siedelt sich die
                              									Baumwollerarbeitungsindustrie vorzüglich an, bedingt das Entstehen einer mächtigen
                              									Seifen- und Sodaindustrie, welche letztere wiederum die Papier- und Glasindustrie
                              									mit sich emporhebt; von England aus geht auch der Handel mit diesen Fabrikaten nach
                              									allen Theilen der Welt, wodurch jene Industrien nach und nach jenen ungeheuren
                              									Umfang annahmen. Mit dem Exporte der Waaren geht aber die Emigration der Industrie
                              									selbst Hand in Hand; Deutschland und Frankreich, welche bis dahin nur Rudimente
                              									einer Sodaindustrie besassen, beginnen in den Productionskreis zu treten, und nach
                              									sehr kurzer Zeit entwickelt sich an den von der Natur begünstigten Orten eine
                              									chemische Industrie, deren Bestrebungen von den Vertretern der chemischen
                              									Wissenschaft aufs lebhafteste unterstützt werden. Dass die Baumwollindustrie und die
                              									damit verknüpften Industrien, namentlich auch die mehr und mehr in den Vordergrund
                              									tretende Wollindustrie auf die Eisenindustrie bezieh. deren Entwickelung einen nicht
                              									zu unterschätzenden Einfluss, wegen des Bedarfs neuer Maschinen, ausübte, ist
                              									selbstredend, aber erst mit der allgemeineren Einführung moderner
                              									Transportmittel, vornehmlich der Eisenbahnen, begann diese wichtigste aller
                              									Industrien ihren allumfassenden Umfang und grossartigen Charakter anzunehmen, und
                              									die Koksindustrie wurde die Basis zur Massenerzeugung dieses nützlichen Metalles.
                              									Mit der Schaffung neuer Schienenwege wird auch der Verbrauch an Soda u.s.w. immer
                              									allgemeiner; die bis dahin lediglich der Sodafabrikation dienende
                              									Schwefelsäureindustrie kommt bald darauf auf eigene Füsse zu stehen, nachdem aus den
                              									Bestrebungen Liebig's die Düngerindustrie – auch wieder
                              									zuerst in England – hervorgewachsen war. Die neue Industrie macht sich aber bald von
                              									der Sodaindustrie unabhängig, legt eigene Schwefelsäurebetriebe an und gibt – indem
                              									sie die Schaffung vollkommener Dünger anstrebt – Anlass zur Mitverarbeitung kali-
                              									und ammoniakhaltiger Materialien, vor allem der bei Stassfurt gewonnenen Abraumsalze
                              									und des bei der Steinkohlendestillation fallenden Ammoniakwassers.
                           Inzwischen hatte sich auch die, Ende des letzten Jahrhunderts erstandene
                              									Leuchtgasfabrikation mächtig entwickelt. Das dabei abfallende Gaswasser bildete den
                              									Rohstoff der als besonderer Zweig sich ausbildenden Ammoniakindustrie. Der längere
                              									Zeit noch werthlose Theer hatte wenigstens theilweise Verwerthung gefunden, nachdem
                              									die Medicin in ihm die desinficirende Kraft gewisser Bestandtheile erkannt und in
                              									den Kriegen, Mitte dieses Jahrhunderts, zur Milderung der Leiden anwenden konnte.
                              									Volle Verwendung erhielt aber der Theer erst, nachdem es gelungen war, die in ihm
                              									enthaltenen Bestandtheile in prächtige Farbstoffe umzuwandeln. Die neue Industrie
                              									(die Anilinfarbenfabrikation) entstand in Frankreich und England, erhielt aber erst,
                              									nachdem Deutschland und die Schweiz die Industrie an sich gerissen hatten, ihre
                              									Entfaltung und hohe Bedeutung. Die Theerverarbeitung ging damit Hand in Hand, die
                              									Scheidungsmethoden wurden mehr und mehr vollkommen und bilden sich da aus, wo der
                              									Theer in grossen Massen abfällt, in Deutschland und England. Diese Länder bilden
                              									auch eine Vorproductenindustrie aus, welche für Anilinfarbenfabriken, für
                              									Heilmittel-, Sprengstoff- und Süsstoff-Fabriken arbeitet. Die neuen Theerfarbstoffe
                              									verdrängen aus den Färbereien und Druckereien mehr und mehr die bis dahin
                              									gebrauchten Holzfarbstoffe und geben Anlass zur vollständigen Umgestaltung der
                              									Färberei und der Druckerei und zu deren Erhebung auf wissenschaftliche Basis. Auch
                              									die Entstehung der Chromalkaliindustrie, dann die Nitritfabrikation gehört jener
                              									Zeit an.
                           Die Salpetersäureindustrie, welche ihr Material, den Salpeter, aus Chile zugeführt
                              									erhält, arbeitete ursprünglich nur für Dynamit- und Zwischenproductenfabrikation in
                              									grösserem Maasstabe; aber erst in neuester Zeit – seit Schaffung der
                              									Kriegssprengstoffindustrie – hat sie ihre feinere Ausarbeitung erfahren. Eine
                              									ausserordentlich grosse Menge Chilesalpeter diente bis dahin zur
                              									Schwarzpulverfabrikation und wurde zu diesem Zwecke in Kalisalpeter umgewandelt. Zur
                              									Darstellung dieses Conversionssalpeters, dann auch namentlich zu Düngezwecken haben
                              									die Stassfurter Abraumsalze das Material geliefert. Daraus ist dann, unter Anpassung
                              									des Leblanc'schen Verfahrens, die Potaschefabrikation
                              									erwachsen, welche mit ihren Fabrikaten einerseits eine Variation in der Verwendung
                              									der Alkalien
                              									gestattete und dadurch grössere Mannigfaltigkeit der damit hervorgebrachten Producte
                              									erzielen liess, andererseits auch neue Industriezweige, wie z.B. die
                              									Oxalsäureindustrie, im Gefolge hatte. In neuester Zeit hat man mit grossem Erfolge
                              									versucht, das Stassfurter Chlorkalium auf elektrolytischem Wege direct in Chlor und
                              									Kalihydrat zu spalten, und unter Anwendung desselben Verfahrens erzeugt man heute
                              									Kaliumchlorat.
                           Von eingreifendster Bedeutung für alle auf Soda gestellten Industrien war seiner Zeit
                              									die Einführung des Ammoniaksodaverfahrens. Diese neue Arbeitsweise, welche
                              									ihrerseits wieder die Verfeinerung der Ammoniakverarbeitung verursachte, entwickelte
                              									sich so mächtig, dass eine Zeitlang die Existenz der nach dem Leblanc-Verfahren
                              									arbeitenden Werke bedroht schien. Heute, nachdem diese Fabriken im Kampfe ums
                              									Dasein, durch Ueberarbeitung der Verfahren und Einführung zweckdienlicher Apparate
                              									und Oefen, unter voller Berücksichtigung der Portschritte der Wärmetechnik, dann
                              									durch Regeneration des Schwefels, den alten Process neubelebt und mit den
                              									Anforderungen der Zeit in Einklang gebracht haben, ist diese Furcht – namentlich da
                              									die Salzsäure immer mehr und mehr den Charakter des Hauptproductes annimmt –
                              									gewichen. Das alte Verfahren besteht neben dem neuen; letzteres nimmt aber als die
                              									reinste Soda- und Natronquelle nunmehr den ersten Rang ein und hat sich namentlich
                              									in Deutschland, Frankreich, Belgien, Russland und Amerika eingebürgert.
                           Enorme Steigerung der Production erlitt die Industrie der Säuren und Alkalien durch
                              									die Ausbeutung der Erdölquellen in Amerika und Russland. Lange Zeit wurden zur
                              									chemischen Reinigung der Erdöldestillate nur aus England importirte Alkalien und
                              									Säuren verwendet. Das hat nun grossentheils aufgehört, jene grossen Industrien gaben
                              									vielmehr den Anlass zu einer amerikanischen und russischen Schwefelsäure- und
                              									Sodafabrikation.
                           Die namentlich zur Vaselinölfabrikation, dann auch der Theerfarbenfabrikation
                              									dienende rauchende Schwefelsäure wird sowohl in England, als auch in Deutschland und
                              									Russland dargestellt.
                           Die chemische Industrie gleicht einem mächtigen, sich in das Meer des Consums
                              									ergiessenden Strome. Verfolgen wir ihn zeitlich zurück bis zur Quelle, so passiren
                              									wir alle Mündungen jener Seitenströme, die den Fluss anschwellen liessen, kommen ins
                              									Zeitalter der Aufklärung, passiren den Engpass der Wende mittelalterlicher
                              									Anschauung und begegnen dort den nicht minder wichtigen Quellflüssen, die sich in
                              									die zurückliegende Zeit verlieren. Wir meinen damit jene zum Theil uralten
                              									landwirthschaftlich-chemischen Gewerbe, wie Brauerei, Branntweinbrennerei,
                              									Zuckerfabrikation, Seifensiederei, Gerberei, die Apothekerei; ferner jene auf
                              									chemische Vorgänge basirten Industrien, die Keramik und Glasmachkunst. Diese Gewerbe
                              									früherer Jahrhunderte haben im Hauptstrom – so wie er in unserem Jahrhundert dahin
                              									fliesst – ihre Verjüngung und Kräftigung gefunden und verdanken der eigentlichen
                              									chemischen Industrie – mit der wir es hier hauptsächlich zu thun haben werden – ihre
                              									Renaissance.
                           Die Verwitterungsproducte der Urgesteine, die Natron- und Kalisalzlager, bilden die
                              									Basis der sogen. chemischen Grossindustrie. Das Zersetzungsproduct der Cellulose
                              									vorweltlicher Pflanzen, die Steinkohle, ist das Rohmaterial der der Eisenindustrie
                              									dienenden Koksindustrie und der Leuchtgasfabrikation, also auch der auf diese
                              									beiden Industrien gegründeten Theerfarbenindustrie. Das Zersetzungsproduct der Fette
                              									einer früheren Thierwelt, das Erdöl und seine Verwandten, machen die
                              									Mineralölindustrie möglich. Ausser diesen drei, das chemische Interesse vornehmlich
                              									in Anspruch nehmenden Industriekreisen sollen an dieser Stelle die
                              									Mineralfarbenfabrikation und die in das Gebiet der chemischen Kleinindustrie
                              									fallende Präparatenfabrikation eine Erörterung finden; diejenigen Industrien
                              									dagegen, welche auf die Verarbeitung der Pflanzen- und Thierproducte, von:
                              									Cellulose, Zucker, Stärkemehl, der thierischen Haut, Knochen, Fette u.s.w.,
                              									gegründet sind, werden hier nicht berücksichtigt werden.
                           Um den Bericht einem weiteren Leserkreise des Journals zugänglich zu machen, wird am
                              									passenden Orte mit ein paar Strichen die Fabrikationsweise der wichtigeren
                              									Industrien skizzirt werden. Dabei kann natürlich nur längst Bekanntes gegeben
                              									werden, es wird indessen auch Nachricht gegeben von Dingen, die bis dahin nur einem
                              									kleineren Kreise von Fachleuten bekannt waren.
                           ––––––
                           An der Ausstellung chemischer Producte haben sich Amerika, Belgien, Deutschland,
                              									England, Frankreich und Russland betheiligt, also alle eine chemische Industrie
                              									besitzenden Staaten, mit Ausnahme der Schweiz, welche in chemisch-industrieller
                              									Hinsicht mit Deutschland auf derselben hohen Stufe steht.
                           Der Versuch der Darstellung der Leistungsfähigkeit einer chemischen Weltindustrie ist
                              									insofern missglückt, als sich am Wettbewerbe nur sehr wenige Firmen, darunter
                              									allerdings sehr leistungsfähige, betheiligt haben, das Studium der Ausstellungen
                              									ausserdem dadurch sehr erschwert wird, dass dieselben überall hin zerstreut sind.
                              									Nur die deutsche Collectivausstellung gestattet vollen Einblick in die
                              									Leistungsfähigkeit und Mannigfaltigkeit und in die hohe Bedeutung, welche die
                              									chemische Industrie im Deutschen Reiche erlangt hat.
                           Ehe wir auf die einzelnen Ausstellungen eingehen, möge kurz der heutige Stand mit
                              									Ausblick in die wahrscheinliche fernere Entwickelung der chemischen Industrie in den
                              									verschiedenen Staaten eine wenigstens kurze Erörterung finden.
                           Die Vereinigten Staaten von Nordamerika besitzen eine
                              									chemische Industrie par excellence noch nicht. Das Land ist erst im Begriffe, sich
                              									eine solche zu schaffen, und hat es unter dem Schutzzollsysteme gerade diejenigen
                              									Gewerbe mächtig entwickelt, welche die gesunde und starke Basis höherer
                              									industrieller Thätigkeit – als welche sich die eigentliche chemische Industrie
                              									darstellt – bilden. Wir meinen die auf den Bergbau, auf Ackerbau und Viehzucht sich
                              									gründenden Industrien, die landwirthschaftlich-chemischen Gewerbe, die
                              									Metallgewinnung, die Kohle- und Erdölverarbeitung, den Phosphoritaufschluss.
                           Die Metallgewinnung: die Eisen-, Kupfer-, Blei-, Zink-, Silber-, Golderzeugung mit
                              									den sich anschliessenden Metallverarbeitungsindustrien, voran der Maschinen-,
                              									Transportmittel- und Brückenbau, die Erdöl- und Phosphoritverarbeitung, haben heute
                              									schon in gewisser Hinsicht in den Vereinigten Staaten die höchste Stufe, welche zur
                              									Zeit möglich ist, erreicht. Dem Europäer fällt angesichts der Arbeitsstätten vor
                              									allem die Bewältigung der Massen mit den grossen Hilfsmitteln auf, wie sie eben nur
                              									diesem Lande eigen
                              									sind. Das reiche Vorkommen der Erze, Mineralien, der hohe Lohn, die
                              									verhältnissmässig kurze, zwischen zwei Handelskrisen liegende, günstige Conjunctur
                              									fordern in Amerika weniger zur vollkommenen Ausbeutung einer Sache nach allen
                              									Richtungen hin auf, als vielmehr zur schnellen Massenproduction mit allen Mitteln
                              									moderner Technik.
                           Die landwirthschaftlich-chemischen Gewerbe, welche einerseits thierische Abfälle,
                              									Häute, Fette, auf Dünger, Leim, Gelatine, Pepsin, Leder, Seife, Glycerin,
                              									andererseits Pflanzenproducte, wie Baumwolle, Kohlehydrate, auf Papier, Cellulose,
                              									Traubenzucker, Branntwein, Bier, Rohrzucker verarbeiten; haben in Amerika dieselbe
                              									hohe Stufe innerer Durchbildung und Anpassung an den Ort erfahren, wie in Europa,
                              									unterscheiden sich aber im Allgemeinen von den entsprechenden europäischen Anlagen
                              									durch den grossen Styl der Rohstoffverarbeitung. Nur wer die hiesigen
                              									Metallgewinnungs- und -Verarbeitungsstätten, die Erdölraffinerien, Brennereien,
                              									Schlachthäuser, Gerbereien, Seifenfabriken, Zuckerraffinerien gesehen, kann sich ein
                              									Bild von dem hohen Stande dieser Industrien und den Zielen machen, die sich der
                              									vorurtheilsfreie, des Autoritätsglaubens bare amerikanische Grossindustrielle
                              									gesteckt hat.
                           Auch die KeramikDie Keramik ist
                                    											hochbedeutend, die Rockwood-Ausstellung zeigt uns, wie man in Amerika
                                    											Geschmack mit den schwierigen Mitteln einer neuen Glasirtechnik zum denkbar
                                    											feinsten Ausdruck bringt. und die Glasfabrikation sind seit etwa
                              									10 Jahren heimische Industrien geworden und haben den Import auf Kunstgegenstände
                              									und gewisse Specialitäten beschränkt.
                           Wie aus dem Gesagten ersichtlich, ist in den Vereinigten Staaten die breiteste Basis
                              									für eine eigentliche chemische Industrie geschaffen, welch letztere in ihren
                              									Anfängen auch schon besteht. Die Textilindustrie, der Haushalt, die Bäckerei, die
                              									Mineralwasserfabrikation, die Glas- und Seifenindustrie, die Erdölwerke consumiren
                              									ausserordentlich grosse Mengen von Alkalien und anderen grossindustriell gewonnenen
                              									Producten, welche heute noch grösstentheils von England bezogen werden. Es gibt zwar
                              									einige Sodafabriken, welche Alkalicarbonat nach den Verfahren von Leblanc, Thomsen und Solvay schon seit einer Anzahl von Jahren fabriciren, es gibt auch Alaun-
                              									und Chromatfabriken, aber bis heute sind diese Werke nicht im Stande gewesen, gegen
                              									die englische Concurrenz anzukämpfen. Das Land mit seinen Wasser- und
                              									Schienenstrassen, seinen unerschöpflichen Kohlen- und Salzlagern, ein idealer Boden
                              									für den Ammoniaksodaprocess u.s.w., leidet an Mängeln, welche dem Gedeihen einer
                              									Sodaindustrie zur Zeit noch im Wege stehen: hoher Lohn, schweifhafter Charakter des
                              									im Uebrigen ausgezeichneten Arbeiterstandes, schlechte Ammoniakverhältnisse, Mangel
                              									an einsichtsvollen, die Situation vollkommen beherrschenden Kapitalisten haben bis
                              									dahin jene Industrie nicht aufkommen lassen, es ist aber kein Zweifel, dass sich
                              									diese Verhältnisse in sehr kurzer Zeit ändern werden und das Land seinen Bedarf an
                              									den Producten der chemischen Grossindustrie selbst fabriciren wird.
                           Auf voller Höhe und den Verhältnissen angepasst steht die Schwefelsäureindustrie,
                              									welche den grossen Bedarf der Düngerfabriken und Erdölraffinerien u.s.w. deckt.
                              									Dabei ist es interessant, zu erfahren, von welch ungeheurer Bedeutung zur
                              									Ueberwindung der Pionirarbeit ein chemischtechnologisches Werk werden kann. Ich
                              									meine das klassische Werk Georg Lunge's, welches hier
                              									viele – bis dahin die Schwefelsäurefabrikation nicht kennende – Chemiker in den
                              									Stand setzte, die in dem Buche niedergelegten Ideen und Erfahrungen jenes Meisters
                              									in den Betrieb zu übersetzen.
                           Amerika hat auch verhältnissmässig alle Anfänge einer Präparatenindustrie, welche in
                              									einigen Specialitäten recht Tüchtiges leistet, im Grossen und Ganzen werden aber die
                              									von Apotheken, Photographen, wissenschaftlichen Anstalten u.s.w. gebrauchten Artikel
                              									aus Deutschland bezogen und Gleiches gilt von denjenigen Producten, welche die auf
                              									hoher Stufe stehende amerikanische Färberei und Druckerei benöthigt.
                           Die Leuchtgasfabrikation, seiner Zeit sehr bedeutend, erweitert sich seit Einführung
                              									des elektrischen Lichtes nicht mehr und geht zurück. Auch die bescheidenen Anfänge
                              									der Theer verarbeitenden Industrien, Theerproducten- und -Farbenindustrie, halten
                              									einen Vergleich mit selbst auf niederer Stufe stehenden europäischen Werken kaum
                              									aus, und haben auch in nächster Zeit noch keine Zukunft, da die hiesigen Schulen
                              									keine Chemiker im deutschen Sinne des Worts, wohl aber sehr tüchtige Analytiker
                              									ausbilden, welche bis dahin das Land eigentlich allein benöthigte.
                           Diese Einseitigkeit in der Erziehung des Chemikers wird indessen selbst heute schon
                              									nicht mehr angestrebt und man beginnt die Ausbildung des Chemikers auf breiterer
                              									Grundlage, nach deutschem Universitäts- und nach Polytechnicumsmuster, und ist gar
                              									kein Zweifel, dass ersteres dem Lande tüchtige Lehrer, letzteres geeignete chemische
                              									Technologen schaffen wird.
                           Die University of ChicagoDas etwa 250000 Doll.
                                    											kostende chemische Laboratorium dieser Universität zeichnet sich durch
                                    											äusserst praktische Einrichtung, Solidität, Einfachheit und äussere
                                    											Schönheit aus. Das von U. Nef eingerichtete
                                    											Institut ist durchaus originell gehalten, und kann man daran sehen, zu welch
                                    											schönen Resultaten man kommt, wenn man sich von früheren Anlagen nicht
                                    											beeinflussen lässt., die University of Pennsylvania, John
                              									Hopkin's University, Yale-College, Harvard College sind hervorragende
                              									wissenschaftliche Institute, deren Lehrer hohes Streben mit umfangreichem Wissen und
                              									Können verbinden.
                           Die Hauptimporteure chemischer Grossindustrieproducte sind Brunner, Mond und Co. und die United Alkali
                                 										Company of England. Es ist nicht uninteressant, zu erfahren, zu welchen
                              									Preisen z.B. die letztgenannte Firma gegenwärtig – Juli 1893 – ihre Waaren in New
                              									York abgibt:
                           
                              
                                 Artikel
                                 ZollinCents
                                 proPrund
                                 ad valo-reminProc.
                                 Aequivalentin Proc. desjetzigenNew
                                    											YorkerPreises
                                 
                              
                                 Kaustische Soda
                                 1,0
                                 1
                                 –
                                 35
                                 
                              
                                 Natriumbicarbonat
                                 1,0
                                 1
                                 –
                                 40
                                 
                              
                                 Krystallsoda
                                   0,25
                                 1
                                 –
                                 15
                                 
                              
                                 Natriumsulfat
                                   1,25
                                 2000
                                 –
                                 15
                                 
                              
                                 Wasserglas
                                 0,5
                                 1
                                 –
                                 30
                                 
                              
                                 Unterschwefligsaures Natron
                                 –
                                 –
                                 25
                                 20
                                 
                              
                                 Kupfersulfat
                                 2,0
                                 1
                                 –
                                 50
                                 
                              
                                 Ammonsulfat
                                 0,5
                                 1
                                 –
                                 20
                                 
                              
                                 Salmiak
                                   0,75
                                 1
                                 –
                                 15
                                 
                              
                                 Aluminiumsulfat
                                 0,6
                                 1
                                 –
                                 30
                                 
                              
                                 Chlorcalcium
                                 –
                                 –
                                 25
                                 20
                                 
                              
                                 Chlormagnesium
                                 –
                                 –
                                 25
                                 20
                                 
                              
                                 Chromsäure
                                 6,0
                                 1
                                 –
                                 50
                                 
                              
                                 Ultramarin
                                   4,25
                                 1
                                 –
                                 45
                                 
                              
                                 Salz
                                   0,12
                                 1
                                 –
                                 40
                                 
                              
                           
                           Diejenigen Städte, welche vornehmlich eine chemische Industrie besitzen, sind:
                              									Boston, New York, Philadelphia, Baltimore, Cincinnati, St. Louis, New Orleans und
                              									Charleston.
                           Belgien, das grosse Eisen- und Koksland mit seinen
                              									riesigen Glasfabriken, dessen Kunst und Gewerbe seit Jahrhunderten blühen, dem
                              									England die Textilindustrie entlehnte, dessen Farbengewerbe einem Rubens das Material lieferte, in dem wir heute die
                              									Farbenphantasie dieses Meisters bewundern, ist seit Mitte der 60 er Jahre als
                              									chemisches Industrieland in den Vordergrund getreten und producirt heute neben Theer
                              									namentlich Soda und Ammoniak. Der Belgier Solvay ist
                              									es, welcher das von Dyar und Hemming erfundene Ammoniaksodaverfahren lebensfähig gemacht und in fast
                              									allen Industrieländern eingeführt hat.
                           Solvay nahm sich seit 1863 des erwähnten Verfahrens an,
                              									und es gelang seinem Genie und seiner Thatkraft, dasselbe allmählich zu einem
                              									technisch brauchbaren zu gestalten, so dass er schon 10 Jahre nachher mit dem
                              									Leblanc-Verfahren, dessen Alleinherrschaft 50 Jahre lang unbestritten gewesen war,
                              									ernstlich in Wettbewerb treten konnte. Solvay erreichte
                              									den Erfolg nicht als Chemiker, sondern als IngenieurAuch heute noch beschäftigt Solvay in seinen Fabriken keine Chemiker,
                                    											sondern Ingenieure, während andererseits Brunner,
                                       												Mond und Co. mit grossem Erfolge nur Chemiker
                                    									verwenden., indem er die Apparate, namentlich die zur
                              									Ammoniakwiedergewinnung nöthigen, verbesserte. Auf die kleine Anlage (1864) in
                              									Couillet bei Charleroi folgten 10 Jahre später die grossen Werke von Dombasle und
                              									Northwich. Seitdem sind fast in allen Ländern, namentlich auch in Deutschland,
                              									Ammoniaksodafabriken nach belgischem Muster erstanden.
                           Auch in der rationellen Kohlenverarbeitung hat Solvay
                              									Hervorragendes geleistet, und lassen die zur Koksbereitung dienenden, für Theer- und
                              									Ammoniakgewinnung eingerichteten Semet-Solvay-Oefen bei billiger Anlage
                              									ausgezeichnete Betriebsresultate erzielen.
                           Deutschland, Die vor dem 30 jährigen Kriege auf
                              									deutschem Boden gepflegten und blühenden Gewerbe, vor allem auch diejenigen, welche
                              									wir heute zu den chemischen rechnen: die Keramik, Glashüttenkunst, die Darstellung
                              									der Maler- und Schmelzfarben und der Arzneimittel, die Brauerei, Färberei und
                              									Gerberei, waren nach dem langen Kriege auf viele Jahre hinaus entweder ganz zu
                              									Grunde gerichtet oder in ihrer Entwickelung gehemmt worden. Erst mit Anfang des 18.
                              									Jahrhunderts beginnt das erschöpfte Land wieder aufzuathmen, die Gewerbe erstehen
                              									wieder und werden durch neue Erfindungen belebt, erweitert bezieh. auch vermehrt.
                              									1700 wird das Berliner Blau, 1709 das Porzellan durch Böttcher, 1740 die Sächsischblaufärberei durch Barth, 1747 der Rübenzucker von Margraff,
                              									1774 das Chlor von Scheele entdeckt.
                           Das Ende des Jahrhunderts und der Anfang des 19. bringen neue schwere Kämpfe und
                              									damit eine Stagnation in den Gewerben. Das Ausland hat die grossen Lehrer, die
                              									besseren Methoden und macht daher auch die wichtigen Erfindungen. Paris ist die hohe
                              									Schule für Chemie, dort studiren junge Deutsche und verpflanzen die neue
                              									Wissenschaft nach Deutschland. Liebig, Wöhler, Bunsen
                              									erstehen, beginnen zu wirken, gründen Schulen, bekommen Schüler und schaffen
                              									dem Lande den Boden, auf welchem geackert und gesäet werden konnte. Es werden zwar
                              									auch schon vorher chemische Fabriken angelegt, man macht auch Erfindungen, so
                              									entdeckt Fuchs im J. 1818 das Wasserglas und die
                              									Stereochromie, L. Gmelin in den 20 er Jahren das
                              									Ultramarin, das dann von F. A. Köttig 1828 und von Leverkus 1834 im Grossen dargestellt wurde. Aber erst
                              									in den 40 er Jahren, seit dem Wirken der grossen Lehrer, findet der
                              									chemisch-industrielle Aufschwung in ausgedehnterem Maasse statt und wird der Anfang
                              									von dem geschaffen, was man heute die chemische Industrie Deutschlands nennt. Man
                              									baut Sodafabriken, Zuckerfabriken, versucht aus Holz und Stroh Cellulose für die
                              									Papierfabrikation zu schaffen, Schönbein und Böttcher entdecken die Schiessbaumwolle; die
                              									folgenschwere Entdeckung Liebig's, dass neutrales
                              									Calciumphosphat, um von der Pflanze aufgenommen zu werden, erst mit Schwefelsäure
                              									aufgeschlossen werden muss, schafft die Düngerindustrie und erweitert die
                              									Schwefelsäurefabrikation.
                           In den 50 er Jahren wird das Begonnene gefördert und erweitert, Neues tritt hinzu,
                              									wie die von Riebeck gegründete Mineralölindustrie zu
                              									Halle, Weissenfels und Zeitz. Derselben Zeit gehören die Versuche Kuhnheim's an, die Soda nach dem Ammoniaksodaverfahren
                              									zu fabriciren. Da während des Krimkrieges fühlbarer Mangel an Salpeter, den man bis
                              									dahin von Ostindien bezogen hatte, auftritt, so versucht H.
                                 										Grüneberg mit Erfolg die Umwandlung des massenhaft vorkommenden
                              									Chilesalpeters in Kalisalpeter mit Chlorkalium, welches er aus der Potasche der
                              									Strandpflanzen und Schlempekohle bereitet hatte.
                           Die Entdeckung der Bedeutung der Stassfurter Abraumsalze durch A. Frank, ihre Verwendbarkeit zur Fabrikation von
                              									Potasche, zur Chilesalpeterconversion, zu Düngezwecken bedeutet eine Epoche für die
                              									chemische Industrie Deutschlands und erhält dieselbe zum ersten Male seit ihrer
                              									Existenz eine originelle Seite. 1861 kam das erste Stassfurter Chlorkalium in den
                              									Handel, verdrängt das Chlorkalium der Strandpflanzen und bringt auch die Versuche,
                              									dasselbe aus Kalisilicaten und Meereslaugen zu gewinnen, zum Stocken. Vorster und Grüneberg
                              									verwendeten es zunächst zur Darstellung von Kalisalpeter, wodurch der ostindische
                              									Salpeter verdrängt wurde, später auch zur Darstellung von Potasche nach dem
                              									Leblanc-Verfahren, aber erst im Laufe der Zeit wird die natürliche Potasche
                              									verdrängt. Der Verbrauch an Carbonat steigt immer noch, Kaliseifen und -gläser
                              									werden mehr und mehr geschätzt, für viele technische wichtige Säuren wird es
                              									unentbehrlich, weil es mit denselben die erwünschten gut krystallisirenden Salze
                              									erzeugt: Kaliumbichromat, Jodkalium, Kaliumchlorat, Ferrocyankalium,
                              									Kaliumpermanganat. Hervorragende Bedeutung bekommen die Stassfurter Salze, vor allem
                              									Chlorkalium, Kainit, Kaliumsulfat für Amerika, welches jene Salze für seine
                              									Kalipflanzen: Tabak und Baumwolle in ausserordentlich grossen Mengen einführt. Die
                              									Düngerindustrie, welche bis dahin ausschliesslich nur die Knochenkohlenrückstände
                              									der Zuckerindustrie verarbeitet hatte, erhielt neue Nahrung durch die Entdeckung der
                              									grossen Phosphoritlager an der Lahn im J. 1864. In die 60 er Jahre fallen auch die
                              									Anfänge der deutschen Theerverarbeitungsindustrie: die Theerproducten- und
                              									Theerfarbenindustrie, welche anfangs nach den in England und Frankreich erfundenen
                              									Verfahren arbeitete.
                              									Doch ertheilen wir jetzt das Wort einem Manne, der den nun auf industriellem Gebiete
                              									beginnenden Siegeslauf als Bannerträger, Vorkämpfer und Bahnbrecher mitgemacht hat.
                              									Bitten wir H. CaroUeber die Entwickelung der Theerfarbenindustrie
                                    											1893, S. 64 und S. 7., uns die Erfolge der kommenden Zeit zu
                              									schildern:
                           
                              „Kein goldtragendes Monopol stand an der Wiege der deutschen Industrie. Noch gab
                                 										es kein deutsches Reich und kein deutsches Patent. Es fehlte der
                                 										Unternehmungsgeist und das Kapital. Man misstraute der eigenen Kraft und ahmte
                                 										die fremden Erfindungen nach, England und Frankreich waren dem Absatze durch
                                 										Patente verschlossen, nur schüchtern und ungeschützt wagten wir uns auf den
                                 										Weltmarkt hinaus. Noch war der deutsche Gewerbefleiss nicht in fremden Ländern
                                 										geachtet, im Inland hemmte die staatliche Zerrissenheit seine Entfaltung; kein
                                 										einheitliches Recht, Geld, Maass und Gewicht, schwerfällig und unentwickelt der
                                 										Verkehr, abhängig von den Rohproducten, Maschinen und Erzeugnissen des
                                 										Auslandes, im ersten Aufschwung begriffen unsere Montan- und Textilindustrie.
                                 										Noch unterschätzten die deutschen Bundesregierungen die mächtige,
                                 										wirthschaftliche Triebkraft der chemischen Lehre. Noch waren die flammenden
                                 										Worte von Liebig ȟber den Zustand der Chemie in
                                 										Preussen« nicht beherzigt, noch harrten die grossen Lehrstätten von Bonn und
                                 										Berlin ihrer glänzenden Auferstehung. Es wirkte Hofmann in England als geistiger Mittelpunkt der dortigen Industrie,
                                 										es gründete Kekulé seine Schule in Gent, in fremder
                                 										Sprache und Schrift mussten wir die erste Kunde seiner neuen Lehre vernehmen,
                                 										und in den Laboratorien und Fabriken des Auslandes weilten spätere Gründer,
                                 										Leiter und Berather unserer grossen Werke.
                              
                           
                              „Da haben wir denn mit schwachen, geistigen und materiellen Waffen, auf engem
                                 										Gebiete, vorsichtig und zagend den Industriekampf aufgenommen. Die freie
                                 										Concurrenz war unser Sporn. Hart kämpfte man mit dem Landsmann um die eigene
                                 										Existenz, zur gewagten Selbstausbeutung neuer Erfindungen fehlte der Muth und
                                 										der Schutz. Man ging den sicheren und leichteren Weg. Zuerst ermittelte man die
                                 										Absatzquellen für die im Auslande bezogenen neuen Producte und machte sich auf
                                 										das genaueste mit den Bedürfnissen des Marktes vertraut. Dann griff man zur
                                 										Auswahl unter den bewährtesten fremden Patenten und begann die eigene
                                 										Fabrikation. Bald aber unterband das französische Monopol auf das Fuchsin und
                                 										seine Anwendung die freie Entwickelung der dortigen Farbenindustrie und, sich
                                 										wiegend in der geträumten Sicherheit des Patentes, blickte man sorglos auf den
                                 										strebsamen deutschen Nachbar. In England fiel das Fuchsinpatent und der Markt
                                 										wurde frei. Die Führer der englischen Farbentechnik traten von dem Schauplatze
                                 										ihrer Thätigkeit ab, ein ebenbürtiger Nachwuchs war nicht vorhanden, Hofmann kehrte nach Deutschland zurück.
                              
                           
                              „So ist unsere deutsche Industrie aus kümmerlichen Anfängen hervorgegangen, eine
                                 										ernste und sorgenvolle Schule hat sie durchgemacht. Aber die Arbeit hat ihre
                                 										Kräfte gestärkt und die Wissenschaft war ihre treue Stütze.
                              
                           
                              „Und als dann die grosse Zeit der deutschen Siege kam und nach ihnen die
                                 										Auferstehung des deutschen Reiches, da fand auch die Industrie auf den
                                 										Schlachtfeldern, was ihr noch fehlte: das Selbstvertrauen, das Bewusstsein
                                 										der eigenen Kraft. Ueberall regte sich frischer Unternehmungsgeist, das
                                 										Kapital wandte sich den chemischen Betrieben zu, grosse Werke und Gesellschaften
                                 										entstanden. Deutsche Erfindungen traten bei uns in das Leben, allen voran das
                                 										künstliche Alizarin. Bald macht sich auch der Einfluss des deutschen Patentes
                                 										geltend. Sein erstes Gebot heisst: Du sollst nicht nachahmen! Finde selbst!
                              
                           
                              „Der Bedarf der Farbstofftechnik hat in erheblichem Grade auf die
                                 										Productionssteigerung und Verbesserung der chemischen Grossindustrie eingewirkt
                                 										und das Hinzutreten neuer Fabrikationszweige veranlasst. Gleich anfangs rief die
                                 										Beschaffung des Nitrobenzols für die Erzeugung des Anilins eine vermehrte, sich
                                 										schnell steigernde Nachfrage nach Schwefelsäure und Salpetersäure wach, in
                                 										rascher Folge wurden zahlreiche neue Gebrauchszwecke für das Nitrirgemisch
                                 										ermittelt und bald musste man auf eine Verwerthung der Abfallsäure im
                                 										Schwefelsäurebetriebe bedacht sein. Das Fuchsin führte zur Massenfabrikation der
                                 										früher nur in geringen Mengen für den Kattundruck hergestellten Arsensäure und
                                 										damit zu einer weiteren Ausdehnung der Salpetersäurefabrikation, zugleich auch
                                 										zu der Regeneration der Salpetersäure aus den nitrosen Dämpfen und zu der
                                 										Wiedergewinnung des Arseniks aus den sich bedrohlich anhäufenden
                                 										Fuchsinrückständen. Mit dem Eintritt der Sulfosäuren in die Technik, namentlich
                                 										als Hilfsmittel der Alizarin-, Resorcin- und Naphtolfarbenindustrie, wurden an
                                 										die Schwefelsäureproduction neue Anforderungen gestellt, man verlangte nicht nur
                                 										mehr, sondern auch stärkere Säure, vom Monohydrat bis zum Anhydrid.
                                 										Verbesserungen entstanden im Bleikammerbetrieb, in den Concentrationsmethoden,
                                 										und das mittelalterliche Verfahren des Nordhäuser Vitriolöles musste der
                                 										eleganten Synthese von Clemens Winkler weichen.
                                 										Durch das nun zugänglich gewordene Anhydrid sind wiederum Fortschritte auf dem
                                 										Gebiete der Sulfosäuren, der Anthracenfarbstoffe und des künstlichen Indigo
                                 										ermöglicht und damit auch neue Impulse dem Schwefelsäurebetrieb und der
                                 										Gewinnung seines Ausgangsmaterials, der schwefligen Säure, aus den Röstgasen des
                                 										Schwefelkieses und der Zinkblende gegeben worden. Auch für das
                                 										Schwefelsäurechlorhydrin stellt sich eine Nachfrage ein. Eine mächtige
                                 										Triebfeder in der Productionserhöhung des kaustischen Natrons war die
                                 										Alkalischmelze der Anthrachinonsulfosäuren und die später folgende Anwendung
                                 										derselben Methode zur Erzeugung des Resorcins, der Naphtole und zahlreicher
                                 										anderer Schmelzproducte. Unterstützend wirkte der inzwischen begonnene
                                 										Concurrenzkampf der Solvay- und Leblanc-Sodaverfahren und die in der Perspective
                                 										sich zeigende Elektrolyse des Kochsalzes. Mit der Ammoniaksoda war die
                                 										Alkaliindustrie in eine neue Phase der Entwickelung und geographischen
                                 										Vertheilung eingetreten, die bis dahin bestandene Suprematie Englands fühlte
                                 										sich bedroht, zu ihrer Erhaltung musste auf wissenschaftlicher Bahn die
                                 										bisherige Productionsmethode vervollkommnet, eine bessere Verwerthung der
                                 										Nebenproducte, des Sodaschlammes und der Salzsäure, aufgesucht werden. Doch auch
                                 										die deutsche chemische Grossindustrie nahm frühzeitig Antheil an dieser Bewegung
                                 										und, obgleich hart bedrängt, stellte sie mehr und mehr der heimischen
                                 										Farbstofftechnik die früher vom Ausland bezogenen, durch Fracht und Zoll
                                 										vertheuerten Hilfsmaterialien zur Verfügung. Und mehr noch; unter
                                 										einer einsichtsvollen Zollpolitik trat an Stelle des Imports in immer steigendem
                                 										Maasse die Ausfuhr der Soda, des zu ⅘ aus Ammoniaksoda erzeugten kaustischen
                                 										Natrons, selbst der Schwefelsäure, der Salzsäure und des Chlorkalks. Aber die
                                 										Gegenbewegung der englischen Alkaliindustrie hat eine mächtige Vereinigung ihrer
                                 										Betriebe in das Leben gerufen und es wird unablässiger Fortschritte bedürfen, um
                                 										den bisherigen Erfolg zu sichern.
                              
                           
                              „Auch auf andere Erzeugnisse der anorganischen Chemie sehen wir den Einfluss der
                                 										Farbenindustrie sich erstrecken. Die Chlorirung des Toluols, des Naphtalins, des
                                 										Anthracens, die Darstellung des Phosphors, der Chloride des Phosphors und
                                 										anderer Chlorverbindungen gesellt sich zu den früheren Verwendungen des Chlors
                                 										und führt schliesslich zu seiner Darstellung im verflüssigten transportfähigen
                                 										Zustande. Die Druckschmelze des Alizarins, die Erzeugung des Anilinschwarz in
                                 										der Faser erfordern die Mitwirkung der Chlorate, die Oxydation des Anthracens
                                 										zum Anthrachinon ruft die Fabrikation des chromsauren Natrons in grossem Umfange
                                 										hervor, die Hofmann'schen Jodviolette und das
                                 										Jodgrün steigern zuerst den Absatz des Jods, das Eosin erhöht den Bedarf an
                                 										Stassfurter Brom, durch die Diazo- und Nitrosoverbindungen wird das
                                 										Natriumnitrit zu einem Handelsartikel, Bleisuperoxyd erweist sich als das
                                 										geeignete Oxydationsmittel der Leukoverbindungen, und Natrium findet seine
                                 										Verwendung in der Darstellung des Antipyrins. Verflüssigte Kohlensäure,
                                 										schweflige Säure, Ammoniak werden gebräuchliche Reagentien. Der Färberei der
                                 										Theerfarben werden neue Chrom-, Antimon-, Rhodan- und Fluorverbindungen als
                                 										Beizen zugeführt.
                              
                           
                              „Aus der anorganischen Technik, abhängig von deren Erzeugnissen und industriellen
                                 										Entwickelung, sind aber auch die Fabrikationszweige der organischen
                                 										Hilfsmaterialien hervorgewachsen, welche für die Herstellung und den
                                 										gewerblichen Gebrauch der synthetischen Theerfabrikate erforderlich sind, vor
                                 										allem die Producte der Alkoholindustrie und der trockenen Destillation des
                                 										Holzes: Alkohole, Halogenalkyle, Aether, Aldehyde, Aceton, Essigsäure, daran
                                 										sich anschliessend: das Glycerin der Fette, die aus der Kalischmelze des
                                 										Sägemehls hervorgehende Oxalsäure, ferner Weinsäure und Bernsteinsäure, die
                                 										Gallussäure der Galläpfel und das, Tannin. Die bewährte Beize der basischen
                                 										Anilinfarbstoffe, das aus dem Ricinusöl mittels Schwefelsäure erzeugte
                                 										Türkischrothöl.“
                              
                           Die Aufrichtung des Deutschen Reichs, die einheitliche Regelung von Recht, Geld,
                              									Maass und Gewicht, die Zollpolitik, das Patentgesetz, das Zusammenarbeiten von
                              									Wissenschaft und Technik, die unversiegbar fliessende Quelle wissenschaftlich
                              									gebildeter Chemiker, welche der Industrie die Wahl unter Vielen lässt, die Erziehung
                              									des Arbeiterstandes in Volksschule und Heer, alle diese Umstände haben
                              									zusammengewirkt und der deutschen chemischen Industrie die erste Stellung auf dem
                              									Weltmarkte verschafft.
                           Ueber die Ausbildung des Chemikers, dieses wichtigsten Faktors, der bei chemischen
                              									Unternehmungen in Frage kommt, hat man sich in Deutschland lange darüber gestritten,
                              									ob es besser sei, erst auf dem Gymnasium Latein und Griechisch und dann auf der
                              									Universität Chemie und verwandte Fächer zu studiren, oder aber, ob der spätere
                              									Erfolg dadurch eher gewährleistet sei, dass der zukünftige Chemiker auf der
                              									Realschule Französisch und Englisch, Mathematik und Zeichnen, später dann auf der
                              									technischen Hochschule ausser dem gründlichen Studium von Chemie und anderen
                              									naturwissenschaftlichen Fächern auch die Sprachen lerne, mittels derer man sich dem
                              									Ingenieur gegenüber bezieh. in der Technik überhaupt ausdrückt. Seitdem Männer wie
                              										G. Lunge, W. H Perkin, H. Caro sich zu Gunsten der
                              									letzteren Auffassung geäussert haben, hängt die Wagschale, auf welche die
                              									Gewichtsgründe für die humanistische Ausbildung des Chemikers niedergelegt worden
                              									sind, hoch in der Luft. Heinrich Caro, jener eminente
                              									Chemiker und Techniker, äussert sich über seinen Standpunkt wie folgt:
                           
                              „Man unterscheidet gegenwärtig zwischen dem Laboratoriums- und Betriebschemiker.
                                 										Der eine ersinnt die Verfahren und stellt ihre wissenschaftlichen Bedingungen
                                 										fest. Der andere führt sie in die Praxis ein, überwacht und verbessert ihren
                                 										täglichen Betrieb. Beide Berufstätigkeiten lassen sich selten heute noch
                                 										vereinigen. Für beide ist eine das gesammte chemische Gebiet umfassende und bis
                                 										zur selbständigen Lösung chemischer Probleme gesteigerte, theoretische
                                 										Vorbildung die Grundbedingung des späteren Erfolges, insbesondere für den
                                 										Betriebschemiker, der durch seine Berufspflichten leichter die Fühlung mit der
                                 										Wissenschaft verliert. Diese Vorbildung kann man sich auf der Universität wie
                                 										auf der technischen Hochschule erwerben. Es hängt von dem Lehrer und seinem
                                 										persönlichen Beispiele ab, ob der Chemiker zum Forscher erzogen wird. Auch die
                                 										für jeden erforderliche allgemeine Kenntniss der angewandten Chemie und ihrer
                                 										Arbeitsund Untersuchungsmethoden lässt sich an beiden Lehrstätten erlangen. Aber
                                 										der Betriebschemiker – will er nicht, bei der immer mehr sich vollziehenden
                                 										Arbeitstheilung, ein einseitiger Autodidakt in seiner späteren Praxis verbleiben
                                 										– bedarf ausserdem einer Vorbildung in den mechanischen Fächern, wie sie bis
                                 										jetzt nur die technische Hochschule bietet. Allerdings haben erfahrungsgemäss
                                 										auch besonders praktisch veranlagte Jünger der wissenschaftlichen Hochschulen
                                 										sich zu hervorragenden Betriebsleitern in der Farbstofftechnik herangebildet.
                                 										Doch sind dies Ausnahmen, mit welchen sich schwer im Voraus rechnen lässt. Daher
                                 										gibt man in der Regel dem wissenschaftlich und technisch vorgeschulten Chemiker
                                 										den Vorzug bei der Anstellung im Betriebe.“
                              
                           Nicht unerheblichen Antheil an der Schaffung fabrikatorisch gesunder Zustände hat die
                              									chemische Berufsgenossenschaft: S. S. 14: Ueber die
                                 										Entwickelung der Theerfarbenindustrie 1893.
                           Der Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie DeutschlandsVgl. den Führer durch
                                       												die Ausstellung der chemischen Industrie Deutschlands, S.
                                    										8., dessen Sitz in Berlin ist, gibt jährlich Gelegenheit zum
                              									mündlichen Meinungsaustausche an wechselnden Orten und behandelt alle die Industrie
                              									interessirenden Fragen in einer von ihm herausgegebenen Zeitschrift: Die chemische Industrie. Er sorgt für die Vertretung
                              									der deutschen chemischen Industrie nach aussen, für die Geltendmachung ihrer
                              									Bedürfnisse der Reichsregierung gegenüber, sowie für den erspriesslichen Verkehr der
                              									Fabriken unter sich. Der Verein besteht aus 8 Sectionen, deren Sitz in denjenigen
                              									Industriebezirken Deutschlands ist, wo sich in Folge günstiger
                              										Verkehrsverhältnisse
                              									oder in Folge anderer Momente, wie z.B. Vorkommen von Rohstoffen,
                              									Industriecentren gebildet haben. Folgende Tabelle zeigt, wo die Industrie sich
                              									hauptsächlich angesiedelt hat, sie gibt auch Einblicke in die Bedeutung der Betriebe
                              									und die Zahl der darin beschäftigten Arbeiter.
                           
                              
                                 Section:
                                 Zahl derBetriebe:
                                 Zahl derArbeiter:
                                 
                              
                                 I.
                                 Berlin
                                   884
                                 13596
                                 
                              
                                 II.
                                 Breslau
                                   497
                                   6267
                                 
                              
                                 III.
                                 Hamburg
                                   737
                                 15337
                                 
                              
                                 IV.
                                 Köln
                                   810
                                 16585
                                 
                              
                                 V.
                                 Leipzig
                                 1090
                                 16478
                                 
                              
                                 VI.
                                 Mannheim
                                   418
                                 15683
                                 
                              
                                 VII.
                                 Frankfurt a. M.
                                   369
                                 10590
                                 
                              
                                 VIII.
                                 Nürnberg
                                   470
                                   5749
                                 
                              
                           1891 erhielten in Deutschland 100285, in 5273 chemischen Betrieben beschäftigte und
                              									versicherte Arbeiter an Löhnen und Gehältern 83855957 M. für 29979280
                              									Arbeitstage.
                           Frankreich. Die Gewerbe der früheren Jahrhunderte haben
                              									sich in dem frühzeitig geeinten Frankreich stetig und verhältnissmässig ungestört
                              									entwickeln können und haben auch vielfach durch von Franzosen ausgehende
                              									Erfindungen, theils auch durch Herübernahme fremdländischer Gewerbe Vervollkommnung,
                              									Erweiterung und Vervielfältigung erfahren.
                           Schon gegen Ende des Mittelalters legte man in Frankreich grössere Glasfabriken an
                              									und später erfindet man die Kunst: Glas zu giessen, stellt Tafelglas her. Im 16.
                              									Jahrhundert nimmt man die Majolika von Italien herüber, welche durch Pallissy ihre hohe Blüthe erreicht; etwa zur selben
                              									Zeit wird die bis dahin nur in Spanien ausgeübte Kunst der Bereitung des
                              										„weissgaren Leders“ in Frankreich eingeführt. Auch die Arzneimittel und
                              									Malerfarbenbereitung stand in jener Blüthezeit der französischen Kunst und
                              									Wissenschaft in hohem Ansehen.
                           Seit 1695 machte man Frittenporzellan in St. Cloud, später seit 1740 auch in Sevres.
                              									Nach der Entdeckung der Kaolinlager zu St. Yrieix im J. 1774 fabricirte man auch
                              									Hartporzellan am letztgenannten Orte. Mitte des 18. Jahrhunderts wird auch die
                              									Türkischrothfärberei eingeführt und der Zeugdruck ausgebildet.
                           Die französische Revolution reizte und förderte eher den Erfindungsgeist, legte aber
                              									die Gewerbe lahm und zog das Interesse von der Verwerthung der Erfindungen ab. So
                              									ist die 1793 von Clément und Desormes gemachte Erfindung: die schweflige Säure mit Luftsauerstoff unter
                              									Verwendung von Salpeter als Sauerstoffüberträger zu oxydiren, für Frankreich
                              									zunächst wenig fruchtbringend geworden. Man fabricirt zwar Schwefelsäure, aber nur
                              									in kleinem Maasstabe, weil die Gewerbe darniederliegen. Man fabricirt auch andere
                              									Chemikalien, zersetzt Kochsalz mit Schwefelsäure, bereitet Glaubersalz, fängt die
                              									Salzsäure auf und spaltet letztere nach der Scheele'schen Methode. Das entstehende Chlor leitet man auf Anregung Berthollet's in Potaschenlauge ein und bereitet die zum
                              									Bleichen und Aetzen verwendete Flüssigkeit, das „Eau de Javelle“.
                           Als zur selben Zeit die natürliche Soda und die grossen Mengen aus Landpflanzen
                              									gewonnene Potasche für den, namentlich durch die Baumwollindustrie mächtig
                              									gesteigerten Verbrauch an Seife nicht mehr ausreichten, löste Leblanc 1791 das Problem, Soda aus Kochsalz bezieh.
                              									Natriumsulfat darzustellen. Aber auch er erhält nicht die nöthige Unterstützung, er
                              									stirbt 1806 im Armenhause und nach wie vor importirt man von Spanien die
                              									Barilla-Soda und verwendet diese zur Herstellung der weltberühmten Marseiller Seife.
                              									Nicht die Industrie und der Handel, sondern die Politik nimmt in jener Europa
                              									erschütternden Zeit das Interesse in Anspruch. So kommt es, dass die in Frankreich
                              									ihren Anfang nehmende moderne chemische Industrie erst im Auslande lebensfähig und
                              									leistungsfähig wird. Die Schwefelsäureapparatur erhält zwar durch Gay-Lussac 1827 noch einen ihrer wesentlichsten Theile
                              									zugefügt, aber England hat bereits die neue Industrie an sich gezogen und seinem
                              									grossen Industrieorganismus eingegliedert und bildet in der Folge das aus, was wir
                              									die chemische Grossindustrie nennen. Nach englischem Muster richtet man dann in
                              									anderen Ländern, vor allem auch in Frankreich, Sodafabriken ein.
                           Dagegen entwickelt sich die von Deutschland nach Frankreich verpflanzte
                              									Rübenzuckerindustrie so rasch, dass in diesem Lande Ende der 20 er Jahre schon über
                              									50 Fabriken bestehen. Auch die Erfindung Guimet's hat
                              									die Schaffung einer nationalen Ultramarinindustrie im Gefolge, welche Fabrikation
                              									ihrerseits wieder anregend auf die in Frankreich seit Jahrhunderten gepflegte
                              									Farbenbereitung wirkt. Die folgende Zeit festigt und erweitert das Bestehende und
                              									bringt Neues hinzu. Die Producte der landwirthschaftlich chemischen Gewerbe, vor
                              									allem Zucker, Leder, Seife, ätherische Oele, die Fabrikate der Färberei und
                              									Druckerei, die Farbholzextracte erobern sich erste Stellung auf dem Weltmarkte. Die
                              									Ende der 50 er Jahre in französischen Färbereien erblühende Anilinfarbenindustrie
                              									scheint für Frankreich eine Epoche zu bedeuten. Aber schon nach kurzer Zeit
                              									unterbindet ein Monopol die freie Entwickelung der jungen Industrie, das Ausland
                              									reisst dieselbe an sich und ehe das Land den Schaden repariren kann, bricht der
                              									Krieg herein, nimmt der französischen Industrie eines seiner besten Absatzgebiete,
                              									dazu auf Jahre das Vertrauen in die eigene Kraft und in die Zukunft.
                           Erst seit Mitte der 70 er Jahre nimmt Frankreich wieder regeren Antheil an der
                              									Schaffung einer nationalen chemischen Industrie. Man errichtete Theerfarbenfabriken
                              									und Präparatenfabriken, man gründet die grosse Ammoniaksodafabrik in Dombasle. Heute
                              									besitzt Frankreich eine anderen Ländern ebenbürtige Grossindustrie, auch eine den
                              									inländischen Bedarf grossentheils deckende chemische Kleinindustrie, es nimmt
                              									Antheil an der Lösung der grossen chemisch – technischen Probleme der Zeit (Pechiney) und hat die moderne Industrie der
                              									Kriegssprengstoffe lebensfähig gemacht (Berthelot) und
                              									geschaffen (Vieille, Turpin).
                           Grossbritannien. Die chemische Grossindustrie ist eine
                              									englische Industrie, die im Laufe der Zeit, namentlich in den letzten drei
                              									Jahrzehnten auch nach anderen Ländern verpflanzt worden ist und dort eigenartige
                              									Ausarbeitung bezieh. Umgestaltung erfahren hat.
                           Seiner Zeit als zweifelhaftes Samenkorn von Frankreich nach England gebracht, ist sie
                              									in diesem Lande zum herrlichen Früchte tragenden Baume ausgewachsen. Der Baum ist im
                              									Laufe der Zeit vielfach veredelt worden, auch andere Länder haben ihm frische Reiser
                              									aufgepfropft und neue prächtige Früchte sind davon erhalten worden. Ein Trieb hat
                              									sich besonders rasch und kräftig entwickelt, ist zum riesigen, den einstigen Wipfel
                              									überschattenden, ihm die Lebensbedingungen raubenden Aste geworden, ein anderer Spross scheint
                              									schon in der Knospe die zukünftige Kraft und Macht der Entfaltung errathen zu
                              									lassen. Wir meinen den in der Vollkraft sich befindenden Ammoniaksodaprocess und das
                              									erst sich entwickelnde elektrolytische Kochsalzspaltverfahren.
                           Das Ammoniaksodaverfahren ist es, welches dem Leblanc-Processe in England als
                              									unversöhnlicher Gegner den Untergang bereitet, und man muss nach neuesten
                              									Nachrichten glauben, dass das Leben der alten Industrie eigentlich nur noch von der
                              									Gnade des Gegners abhängt, bezieh. dass man bei jenem Processe seit neuerer Zeit
                              									Salzsäure als Hauptproduct gewinnt, dass Natriumsulfat aber als lästiges
                              									Nebenproduct abfällt, das man, so gut es geht, auf Soda, Antichlor und Schwefel
                              									verarbeitet. Aber auch der heute in vollem Lichte erstrahlende Ammoniaksodaprocess
                              									scheint in nicht allzuferner Zukunft vor dem wie eine neue Sonne am fernen Horizonte
                              									auftauchenden Kochsalzzersetzungsprocesse auf elektrolytischem Wege erbleichen zu
                              									sollen. Die Katastrophen sind aufgethürmt und wird bei einer Auslösung England als
                              										„nur Soda producirendes Land“ vor allem ein grosser „Trust“ am
                              									meisten davon betroffen werden, wird am meisten Anstrengungen machen müssen, das
                              									gewonnene Terrain auf dem Weltmarkte zu behaupten. Heute liefert England noch einen
                              									grossen Theil seiner von der chemischen Grossindustrie erzeugten Producte nach
                              									überseeischen Ländern, vor allem Amerika, Russland u.s.w. Für Deutschland kommt
                              									England nur noch als Quelle für Ammoniak und Theerproducte in Betracht, Stoffe, die
                              									bei der sehr entwickelten Kohlen Verarbeitungsindustrie abfallen. Mit jenen
                              									Producten kann es selbst darum nichts anfangen, weil ihm die Bedingungen fehlen,
                              									welche zur Veredlung der Theerproducte nöthig sind, vor allem der billige, dabei
                              									wissenschaftlich hochgebildete, der Fabrikdisciplin sich willig unterordnende, jeder
                              									Zeit auswechselbare Chemiker, der mit einem Fusse in der Technik, mit dem anderen in
                              									der Wissenschaft steht. England besitzt wohl grosse Theerverarbeitungsanlagen, aber
                              									keine dem Lande auch nur annähernd angemessene 1und Ganzen bereitet man in den
                              									englischen Theerfarbenfabriken nur die alten, durch Patente nicht geschützten
                              									Farbstoffe. Nur sehr wenige Neuerungen gehen auf jenem Gebiete von englischen
                              									Chemikern aus. Auch die Fabrikation chemischer Präparate ist zurückgeblieben, hat
                              									mit der deutschen Schwesterindustrie nicht Schritt gehalten, dagegen leistet man in
                              									der Bereitung der Malerfarben von jeher Hervorragendes.
                           Russland hat eine bedeutende Leder-, Spiritus- und
                              									Zuckerindustrie, es besitzt Seifen-, Soda- und Schwefelsäurefabriken,
                              									Düngerfabriken, Farbholzextract- und Ultramarinfabriken, auch einige Werkstätten, in
                              									denen man chemische und pharmaceutische Präparate bereitet, es hat eine sehr
                              									ausgedehnte und auf hoher Stufe stehende Färberei und Druckerei, kurz das Land
                              									emancipirt sich, sucht sich unabhängig zu machen und steht zu erwarten, dass ihm
                              									das, wenn auch langsam, gelingen wird und das um so eher, da Russland alljährlich in
                              									seinen chemischen Instituten eine grosse Anzahl tüchtiger Chemiker, die
                              									ausserordentlich billige Arbeit leisten, heranbildet.
                           Hochbedeutend ist die russische Naphtaindustrie, welche Erdöl auf Leucht- und
                              									Schmieröle verarbeitet. Ihr Hauptsitz ist Baku, die Raffinerien sind indessen über
                              									das ganze Reich verbreitet und liegen dann entweder an den grossen Strömen oder
                              									an Seehäfen. Die zum Raffiniren der Mineralöle nöthige Schwefelsäure wird in
                              									Russland selbst bereitet, ebenso die zur Vaselindarstellung gebrauchte rauchende
                              									Schwefelsäure, dagegen führt man den grössten Theil des kaustischen Kalis immer noch
                              									von England aus ein. In neuerer Zeit regenerirt man in Baku auch die Abfallsäuren
                              									und selbst das zum Laugen der sauren Oele gebrauchte Alkali.
                           Die Hauptindustriesitze sind Baku, Odessa, Moskau, Warschau, St. Petersburg,
                              									Riga.
                           
                              
                                 (Fortsetzung folgt.)