| Titel: | Wie können die Theaterbesucher gegen Feuersgefahr während der Vorstellung geschützt werden? | 
| Autor: | Carl Wegener | 
| Fundstelle: | Band 319, Jahrgang 1904, S. 79 | 
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                        Wie können die Theaterbesucher gegen Feuersgefahr
                           								während der Vorstellung geschützt werden?
                        Von Civil-Ingenieur Carl
                                 								Wegener.
                        Wie können die Theaterbesucher gegen Feuersgefahr während der
                           								Vorstellung geschützt werden?
                        
                     
                        
                           Der Theaterbrand in Chikago hat der Menschheit wiederum
                              									mit grauenerregender Deutlichkeit gezeigt, dass wir gegen die Allgewalt des Feuers
                              									schlecht gewappnet sind, sicher noch nicht besser wie etwa vor 50 Jahren.
                           Während die auf allen möglichen naturwissenschaftlichen Gebieten in der genannten
                              									Zeitspanne gesammelte Erkenntnis und die daraus folgernde Nutzanwendung bedeutend
                              									genannt zu sein verdient, macht sich auf dem besonderen Gebiete der
                              									Verhütungsmassregeln gegen das rasche Umsichgreifen von Theaterbränden eine
                              									verhängnisvolle Unkenntnis der bei solchen Fällen ins Auge zu fassenden
                              									physikalischen Grunderscheinungen bemerkbar.
                           Das Unglück besteht nämlich darin, dass man es durch einen in folgendem näher
                              									beleuchteten Kardinal-Baufehler überhaupt soweit kommen lässt, dass sich ein
                              									anfänglich unerheblicher Bühnenbrand in wenigen Sekunden auf dem ganzen
                              									Zuschauerraum ausdehnt. In der Behauptung, wenige Sekunden seien zu einer so
                              									phänomenalen Entwicklung einer Feuersbrunst, wie die Chikagoer es gewesen ist,
                              									genügend, liegt keine Uebertreibung. Es unterliegt ja keinem Zweifel, dass der
                              									Sensenhieb des Todes über denjenigen Opfern, die beim Hervorbrechen der Flammen
                              									unter dem halbgesenkten Asbestvorhang noch nicht das Parkett und die ersten
                              									Logenreihen verlassen hatten, nur sekundenlang geschwirrt hat, denn diese
                              									Unglücklichen sollen zum Teil in erschreckt starrender Haltung auf ihren Sitzen als
                              									Leichen vorgefunden worden sein.
                           Wie bei dem Wiener Ringtheaterbrand, so auch im Iroquois-Theater ergoss sich das
                              									entfesselte Flammenmeer in ganz unbegreiflich kurzer Zeit über den Zuschauerraum und
                              									schoss blitzähnlich zu den Logenbrüstungen empor.
                           Selbst wenn die angeblich zahlreich vorhandenen Notausgänge sofort geöffnet gewesen
                              									wären, hätten Hunderte ihrem Schicksal nicht entgehen können, weil es kein Mittel
                              									gibt und solches auch nicht denkbar ist, um ein gefülltes Theater in einer so kurzen
                              									Zeitspanne zu entleeren, als die hochtemperierten und daher expansiven
                              									Verbrennungsgase des „Bühnenfeuerherdes“ nötig haben, um durch den
                              									Zuschauerraum hindurch nach der an dessen Decke befindlichen Hauptventilation zu
                              									entweichen. Der Zuschauerraum gibt, um im Bilde zu bleiben, das denkbar günstigste
                              										„Zugrohr für den Feuerherd“ ab. Wenn, was leider allgemein der Fall ist,
                              									die Hauptventilation des Theaters über dem Zuschauerraum liegt, so ist der Ausartung
                              									eines Bühnenbrandes in der hier angedeuteten Weise mit allen den Mittelchen, auf
                              									welche man in Unkenntnis der eigentlichen Gefahr einen übergrossen Wert legt, nicht
                              									wirksam entgegenzutreten.
                           Mit dieser elementaren Gewalt, die in dem ChikagoerFalle zur Abdeckung des
                              									Glasdaches geführt haben soll, haben wir also in erster Linie zu rechnen, und nur
                              									eine Polizeibestimmung, die an dieser Stelle den Hebel ansetzte, könnte die drohende
                              									Gefahr ausschalten.
                           Obgleich es so leicht gewesen wäre, die Gefahr von vornherein auf ein Minimum zu
                              									beschränken, mussten abermals nahezu tausend blühende Menschenleben ein Opfer der
                              									Unwissenheit werden, trotzdem eine grosse Zahl gleichartiger Unglücksfälle während
                              									der letzten Jahrzehnte furchtbar mahnend voraufgegangen ist.
                           Das Haupterfordernis ist und bleibt eine einschneidende Veränderung der
                              									Ventilationsverhältnisse in den Theatern. Es ist eine durchaus falsche weil
                              									gefährliche Anordnung, den Hauptventilationsschacht über den Zuschauerraum zu
                              									verlegen. Dadurch werden die bei einem Brande der Bühne entstehenden
                              									hochtemperierten und daher stark expansiven Gase augenblicklich durch den
                              									Zuschauerraum hindurch nach dem Hauptventilationsschacht gesogen. Für diesen
                              									elementaren Vorgang bedarf es nicht der Spanne einer halben Sekunde. Der
                              									feuersichere Vorhang ist bei einer derartigen Ventilationsanlage in jedem Falle eine
                              									Illusion, sei er aus Asbest, sogar auch aus Eisen; denn auch ein eiserner Vorhang
                              									kann unter Umständen der Stauung der hochtemperierten Gase nicht widerstehen,
                              									abgesehen von unvorhergesehenen mechanischen Störungen. Das Absaugen der heissen
                              									Gase von der Bühne nach dem Zuschauerraum hat auch in dem Chikagoer Falle das Blähen
                              									des Asbestvorhanges und sein vollständiges Versagen verursacht. Das teilweise
                              									Herablassen desselben musste zum Unglück auch noch die Zugwirkung erhöhen. Der
                              									Vorgang ist dieser: die brennenden, mit Rauch geschwängerten Gase stauen sich
                              									momentan, um im nächsten Augenblicke mit elementarer Gewalt unter dem Vorhang
                              									hervorzubrechen, sie ergiessen sich in breitem Strom über das Orchester, das Parkett
                              									und steigen dann, um ihren natürlichen Ausweg durch den Hauptventilationsschacht zu
                              									finden, an den Logenbrüstungen empor, auf ihrem Wege alles Leben versengend, neue
                              									Flammenherde entzündend. Die geschilderte Entwicklung eines Theaterbrandes stellt
                              									sich also bei unseren heutigen Einrichtungen als ein unabwendbares Naturereignis
                              									dar, sobald der Bühnenbrand nicht im ersten Stadium, d.h. im Moment der Entstehung,
                              									erstickt wird. Es ergibt sich somit die Notwendigkeit, den Ventilationsschacht an
                              									das hintere Ende der Bühne zu verlegen und den ganzen Zuschauerraum über die Bühne
                              									zu ventilieren. Zu diesem Zwecke müssen an geeigneten Stellen vielleicht drei oder
                              									besser noch mehr Schächte angeordnet und mit zuverlässigen Absaugevorrichtungen,
                              									deren es ja heutzutage genügend gibt, versehen sein. In den Schächten müssten an
                              									verschiedenen Stellen von unten nach oben Absaugeöffnungen vorgesehen werden, damit die
                              									Gase in jeder Höhenlage einen Abfluss finden. Die
                              									Feuergase würden, der gegebenen wagerechten Zugrichtung folgend, durch diese
                              									Oeffnungen sofort nach aussen abfliessen. Bei einer solchen Anordnung würden
                              									Katastrophen, wie die jüngst erlebte, zur Unmöglichkeit werden. Die Künstler sowohl
                              									als auch das Publikum würden bei eintretender Feuersgefahr genügend Zeit finden,
                              									sich in Sicherheit zu bringen. Eine abnormale Verbreitung der Feuersbrunst in der
                              
                              									leider bisher gewöhnten Weise wäre durch die neue Anordnung von vornherein
                              									ausgeschlossen und die Bewältigung des also beschränkten Herdes würde mit geringer
                              									Mühe zu ermöglichen sein.
                           Bei derartig geregelten Ventilationsverhältnissen würde auch ein feuersicherer
                              									Vorhang, vermutlich sogar schon ein Asbestvorhang, funktionieren und seinen Zweck,
                              									ein Uebergreifen des Bühnenbrandes auf den Zuschauerraum zu verhindern, erfüllen; es
                              									würden sich überhaupt zweifellos alle modernen Schutzvorrichtungen, – die an und
                              									fürsich gut und zweckmässig erdacht, aber durch den soeben kritisierten
                              									Kardinal-Baufehler im entscheidenden Augenblick wirkungslos werden, – tadellos
                              									bewähren. Darüber aber sollte kein Zweifel herrschen, dass alle diese Mittel sich
                              									gegenüber einer durch heftigen Zug nach dem Hauptventilationsschacht künstlich
                              									angefachten Feuerslohe gleichsam als Kinderspielzeuge erweisen.
                           Die Schuld an der Tragweite des Unglücks kann in einem Falle, wo eine derartige
                              									gemeingefährliche Ventilationsanlage von den wissensollenden Organen der
                              									Polizeibehörde bei Abnahme des Baues doch anscheinend genehmigt ist, keiner
                              									bestimmten Person zur Last gelegt werden. Wenn sich das Gerücht bewahrheitet, dass
                              									man u.a. auch die mit der Bedienung des Vorhanges und der Löschapparate betraut
                              
                              									gewesenen unteren Organe zur gerichtlichen Verantwortung ziehen wird, so ist nur zu
                              									wünschen, dass die Bedauernswerten eine sachverständige Beurteilung erfahren mögen,
                              									da jeder andere an derselben Stelle die absolute Ohnmacht ihrer Hilfsmittel
                              									ebenfalls erfahren hätte.