| Titel: | Die Weltausstellung in Lüttich 1905. | 
| Autor: | M. Richter | 
| Fundstelle: | Band 321, Jahrgang 1906, S. 484 | 
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                        Die Weltausstellung in Lüttich 1905.
                        Das Eisenbahnwesen, mit besonderer
                           								Berücksichtigung der Lokomotiven.
                        Von Ingenieur M.
                                 									Richter, Bingen.
                        (Fortsetzung von S. 471 d. Bd.)
                        Das Eisenbahnwesen auf der Weltausstellung in Lüttich
                           								1905.
                        
                     
                        
                           Interessant ist die Anfahrvorrichtung; in bezug auf mehrere Grundzüge der
                              									Anordnung stimmt sie mit der de Glehnschen überein. Ein
                              										„Servomoteur“, d.h. ein doppeltwirkender Pressluftzylinder befindet sich
                              									senkrecht über dem linken Vorderrad des Drehgestells am Hauptrahmen und bedient die
                              									beiden durch Kurbeln und Zugstange miteinander gekuppelten Drehschieber, welche in
                              									die Verbinderrohre zwischen Hoch- und Niederdruckzylinder beiderseits eingebaut sind
                              										(Fig. 18).
                           Je nach Belieben schaltet dieser Luftzylinder auf Verbund- oder Zwillingswirkung um,
                              									indem die beiden Drehschieber die Ausströmrohre der Hochdruckzylinder entweder mit
                              									dem zwischen den Niederdruckschiebern liegenden und mit dem Innenraum der letzteren
                              									verbundenen Zwischenbehälter oder statt dessen mit dem ausserhalb der Kolbenschieber
                              									befindlichen Auspuffraum in Verbindung setzen. Mittels einer besonderen Hilfsleitung
                              									erhalten die Niederdruckzylinder aus dem Zwischenbehalter in diesem Fall vom Dom
                              									aus, Frischdampf.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 321, S. 484
                              Fig. 18. Steuerung der Anfahrvorrichtung zu Fig. 17. S. 470; A.
                                 										Anfahrstellung; V. Verbundstellung; o. Pressluftleitungen zum Steuerzylinder; p.
                                 										Steuerzylinder
                              
                           Mit Hilfe der Schnittzeichnungen lässt sich die Dampfführung bei beiden Arten von
                              									Schaltung ohne weiteres verstehen (Fig. 19, 20, 21).
                           Von Einzelheiten ist noch folgendes erwähnenswert.
                           Der auf dem Mittelschuss sitzende Dom enthält eine Wasserabscheidehaube; der
                              									Regler befindet sich vor dem Fuss des Doms in einem besonderen Kopf (nach
                              									schweizerisch-französischer Mode) und ist ein wagerechter flacher Zugschieber auf
                              									dreieckiger Oeffnung; die Einströmrohre liegen aussen. Von den auf 15 at gestellten
                              									beiden Sicherheitsventilen hat das eine die Bauart Adams, das andere die gewöhnliche. Die Injektoren sind Friedmannsche. Die Rauchkammer hat keinen Aschfall.
                           Bei einem Kolbenhub von 640 mm für beide Maschinen und einer Länge der Schubstangen
                              									von 1900 und 1800 mm beträgt das Längenverhältnis zwischen Stange und Kurbel 5,94
                              									bezw. 5,62. Die Kröpfachse hat die gewöhnliche Form mit getrennten Kurbeln. Bei dem
                              									guten inneren Massenausgleich der vier Zylinder ist nur für die kreisenden Massen
                              									der Ausgleich durch Gegengewichte bewirkt; freie Fliehkräfte können daher nicht
                              									auftreten.
                           Die Zylinder, deren Kolbenstangen sämtlich vorne durchgeführt sind, sind mit
                              									Sicherheitsventilen auf jeder Kolbenseite versehen, welche bei 35 mm Durchmesser dem
                              									etwaigen Niederschlagwasser oder vom Dampf mitgerissenen Wasser bequemen Austritt
                              									verschaffen sollen, da es bei Kolbenschiebern nicht möglich ist, diesen Austritt wie
                              									bei Flachschiebern durch einfaches Abheben vom Sitz zu gewähren. Bei den
                              
                              									Hochdruckzylindern blasen diese Ventile mit 15½, bei den Niederdruckzylindern mit 6½
                              									at ab. Der Zwischenbehälter hat ebenfalls ein Sicherheitsventil, welches auf 6 at
                              									gestellt ist. Ferner ist an das rechtseitige Einströmrohr vor dem Eintritt in den
                              									Hochdruckschieberkasten, sowie an die Hilfsleitung zum Zwischenbehälter je ein
                              									Luftsaugventil einfachster Art angeschlossen, welches bei Leerfahrt zur Wirkung
                              									kommt. Endlich ist für das Fahren mit Gegendampf nach Le
                                 										Chatelier eine Spritzleitung vorgesehen, welche Wasser und Dampf zu den
                              									Ausströmrohren der Hochdruckzylinder, sowie zu den beiden Auspuffseiten der
                              									Niederdruckschieber führt.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 321, S. 485
                              Fig. 19, 19a, 19b. Dampfführung der vierzylindrigen
                                 										Verbund-Personenzuglokomotive. Fig. 17. S. 470.
                              Fig. 19a. A. Anfahrstellung; Fig.
                                 										19b. V. Verbundstellung; a Regler für die Hochdruckzylinder. b Frischdampf für
                                 										die Niederdruckzylinder. c Luftsaugventil. d, e Sicherheitsventile. f
                                 										Luftsaugventil des Verbinders. g Verbinder. h Sicherheitsventil des
                                 										Verbinders.
                              
                           Die automatische Westinghouse-Bremse mit zweiphasigem Kompressor der Bauart von Fives-Lille wirkt auf sämtliche Räder und zwar
                              									einseitig auf die Triebräder mittels zweier senkrechter Bremszylinder von 305 mm
                              									Durchmesser und zweiseitig auf die Drehgestellräder mittels beiderseitigen
                              									doppelkolbigen, wagerechten Bremszylinders von 185 mm Durchmesser. Der grösste
                              									Bremsdruck ist etwa ¾ des Lokomotivgewichts.
                           Der Luftsandstreuer nach Gresham geht vor das erste und
                              
                              									zweite Triebräderpaar.
                           Die Lokomotive ist eingerichtet mit dem Flamanschen
                              									Geschwindigkeitsmesser, wie alle anderen Lokomotiven der Ostbahn, sowie mit der
                              									Vorkehrung zur Dampfheizung des Zuges nach Lancrenon.
                              									Die Eigentümlichkeit derselben ist die Mischung des Dampfes mit Druckluft in einem
                              									besonderen Behälter, von welchem nach vorwärts und rückwärts die Zugleitung
                              									abzweigt; an beide Zufuhrleitungen zum Mischbehälter sind Sicherheitsventile für 5½
                              									at angeschlossen.
                           Mit grosser Sorgfalt ist für die Schmierung aller in Betracht kommenden Teile
                              									gesorgt. Die Schmierung der Achsenhälse geschieht von Oelkästchen aus, die in
                              
                              									entsprechenden Abständen verteilt an der Feuerbüchshinterwand und am Langkessel
                              									sitzen und mit Stellvorrichtung versehen sind, durch die der Zufluss geregelt bezw.
                              									im Stillstand der Lokomotive ganz unterbrochen wird. Gegen Heisslaufen ist in
                              									den Lagerdeckel eine Fettmasse eingebettet, die sich im Bedarfsfall verflüssigt und
                              									dann zum Achsenhals abfliesst. Die Schleifbacken werden von denselben Kästchen aus
                              									geschmiert. Die Zylinder und Schieber werden von einem Tropfenöler aus versorgt.
                           Das Blasrohr hat Froschmaulbauart; die Vorderwand des Führerhauses ist als
                              									Luftschneide geformt und die Umsteuerung befindet sich auf der linken Seite der
                              									Lokomotive. Der Tender war nicht mit ausgestellt; er fasst übrigens auf nur zwei
                              									Achsen mit 3,0 m Radstand 13 cbm Wasser und 5 t Kohlen.
                           Die Lokomotive machte, obwohl sie etwas stark von Ausrüstung aller Art, wie engen und
                              									weiten Röhren, Ventilen, Oelkästchen und anderen solchen Gefässen, Hähnen,
                           
                           
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 321, S. 486
                              Fig. 20a, 20b. Dampfführung der vierzylindrigen Verbund Personenzuglokomotive
                                 										zu Fig. 17, S. 470.
                              Fig. 20 a. a Regler für die
                                 										Hochdruckzylinder. b Frischdampf für die Niederdruckzylinder. c Luftsaugventil.
                                 										g Verbinder. A Anfahrstellung; Fig. 20b. g Verbinder. V Verbundstellung.
                              
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 321, S. 486
                              Fig. 21a. Querschnitt durch das Vorderende des Wechselschiebers,
                                 										Verbundstellung.
                              g Verbinder. k Niederdruckschieber.
                                 										l Niederdruckzylinder. m Wechselschieber. n vom Hochdruckzylinder.
                              
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 321, S. 486
                              Fig. 21b. Querschnitt durch das Hinterende des Wechselschiebers,
                                 										Verbundstellung.
                              i hinterer Auspuffraum. l
                                 										Niederdruckzylinder. m Wechselschieber.
                              
                           Stangen und Hebeln überladen ist, durch die peinlich gute Ausführung und
                              									Anordnung bis in die unscheinbarsten Kleinigkeiten einen sehr guten Eindruck im
                              									ganzen. Der Anstrich der Kesselumhüllung ist glänzend tiefschwarz; zur Verzierung
                              									sind messingene Bänder um den Kessel und schmale rotgemalte Streifen an den Rädern
                              									vorhanden, abgesehen von den vielen blanken Messingteilen der Ausrüstung, die wohl
                              									im Betrieb rasch dem „anschwärzenden“ Putzer verfallen werden.
                           Die 210 Lokomotiven dieser Gattung besorgen den schweren Personenzugdienst mit
                              									Grundgeschwindigkeiten von 80 und höchsten Geschwindigkeiten von 110 km/Std. sowie den
                              									Eilgüterzugdienst.
                           Die Hauptabmessungen sind:
                           
                              
                                 Zylinderdurchmesser
                                 mm
                                 350/550
                                 
                              
                                 Kolbenhub
                                 „
                                 640
                                 
                              
                                 Zylinderraumverhältnis
                                 –
                                 1 : 2,46
                                 
                              
                                 Triebraddurchmesser
                                 mm
                                 1750
                                 
                              
                                 Kesselüberdruck
                                 at
                                 15
                                 
                              
                                 Heizrohre
                                 AnzahlLange (zw. Wänden)Durchmesser
                                 –mm„
                                 122 + 8420070/48,75
                                 
                              
                                 Heizfläche
                                 Rohre (innen)Feuerbüchseim ganzen
                                 qm„„
                                 186,5713,69200,26
                                 
                              
                                 Rostfläche
                                 „
                                 2,57
                                 
                              
                                 Dienstgewicht
                                 t
                                 69,61
                                 
                              
                                 Reibungsgewicht
                                 „
                                 49,46
                                 
                              
                                 Zugkraft (α =
                                    											0,4)
                                 kg
                                 6650
                                 
                              
                                 Grösste Geschwindigkeit
                                 km/Std.
                                 110
                                 
                              
                           
                              
                                 (Fortsetzung folgt.)