| Titel: | Kritik des neuen Schnellbahn-Systems von August Scherl. | 
| Autor: | Wolfgang Adolf Müller | 
| Fundstelle: | Band 324, Jahrgang 1909, S. 675 | 
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                        Kritik des neuen Schnellbahn-Systems von August
                              								Scherl.
                        Von Wolfgang Adolf Müller.
                        Kritik des neuen Schnellbahn-Systems von August Scherl.
                        
                     
                        
                           Der bekannte Berliner Zeitungsverleger August
                                 										Scherl hat der Oeffentlichkeit eine DenkschriftEin neues
                                             												Schnellbahn-System. Vorschläge zur Verbesserung des
                                       											Personenverkehrs von August Scherl. Berlin
                                       											1909, Verlag von August Scherl. 122 S.
                                       											Querfolio mit zahlreichen Abbildungen und Tafeln. Preis Mk. 3.–.
                              									über ein neues Schnellbahnsystem unterbreitet, die in mancherlei Hinsicht weitere
                              									Beachtung und Kritik verdient.
                           Bevor wir an eine fachliche Kritik der neuen Vorschläge – denn mehr als Vorschläge
                              									sind nicht gegeben – herangehen, seien einige Gedanken über das Vorwort der
                              									Denkschrift vorausgeschickt.
                           Wenn Scherl sagt, daß den fachmännischen Spezialisten der intuitive Blick für die
                              									großen Notwendigkeiten des öffentlichen Lebens abgehe, so hat er gewiß nicht unrecht
                              									damit, denn das übertriebene Spezialistentum birgt auch in der Technik die große
                              									Gefahr in sich, daß nicht nur die Fachgelehrten, sondern auch oft genug die
                              									praktischen Ingenieure sich ganz einseitig auf einen winzig kleinen
                              									Arbeitsausschnitt festlegen, wodurch die an sich dem Techniker eigenen intuitiven
                              									Fähigkeiten naturgemäß verkümmern müssen. Aber nicht richtig ist, wenn Scherl nun dem „Laien“ ohne weiteres eine höhere
                              									Anschauungsfähigkeit zuspricht. Dies geht schon daraus hervor, daß bedeutende
                              									praktische Erfindungen häufig von solchen Laien gemacht wurden, die zwar in der
                              									Technik Nichtfachleute, aber durch ihren Beruf (z.B. Aerzte, Geistliche usw.)
                              									ebensogut wiederum zu diskursiver Erkenntnis erzogen waren. Es gibt eben nicht
                              									Laien, sondern ganz allgemein „Menschen,“ seien dies nun Laien oder
                              									Fachleute, die eine besondere, meistens angeborene Fähigkeit besitzen, mit
                              									Leichtigkeit das Wesentliche einer noch so verwickelten Sache anschaulich vor Augen
                              									zu haben, denen es daher auch leichter möglich ist, unter zunächst vollständiger
                              									Ignorierung des Nebensächlichen aus wenigen Leitlinien das Ganze zweckdienlich und
                              									einheitlich zusammenzubauen, zu organisieren.
                           Scherl wehrt sich weiter gegen die gelegentlich seiner
                              									früheren Projekte erhobenen Vorwürfe der „Vielgeschäftigkeit,“ des
                              										„Projektemachens,“ des „unsteten Phantasten.“ Gerade der letztere
                              									Vorwurf wird durch seine eigenen Worte eher bekräftigt, denn nach diesen sollte man
                              									glauben, daß seine rastlose Tätigkeit in seinem Zeitungsverlage rein altruistischen
                              									Motiven entspringe. Daß sie auch viel Geld einbringt, ist natürlich nur eine
                              									unangenehme Begleiterscheinung, die man in Kauf nehmen muß, daher wird dieser Faktor
                              									nicht erst erwähnt. Ueberhaupt das Geld scheint Herr Scherl nicht zu lieben, denn wie bei dieser Gelegenheit, so vermeidet er
                              									es ganz besonders, nachher bei der technischen Erläuterung seines neuen Systems,
                              									davon zu sprechen. Und wer ein Projekt von der Kühnheit des Scherlschen „macht,“ ohne dabei auch nur den Versuch
                              									zu wagen, die ungefähren Kosten zu ermitteln und die Möglichkeit einer
                              									Wirtschaftlichkeit darzutun, muß sich den Vorwurf eines Phantasten wohl mit Recht
                              									gefallen lassen. Wenn Herr Scherl, der es übrigens
                              									ablehnt, ein Zeitungsspezialist zu sein, sich dem Berufe des „Organisators“
                              									widmen will, dann möge er sich einen als hervorragendsten Organisator bekannten
                              									Leiter einer unserer größten Elektrizitätsgesellschaften zum Vorbild nehmen. Dieser
                              									fragt nämlich, obwohl selbst Ingenieur, bei einer neuen Sache nie: „Ist das
                                 										technisch möglich und wie?“, sondern stets zuerst: „Was kostet das?
                                 										Welche Verzinsung bringt es?“
                           Scherl stellt die Vielseitigkeit der englischen captains
                              									of the industry, die heute eine Zeitung, morgen ein Hüttenwerk, übermorgen ein
                              									Bahnsystem oder ein Terrainunternehmen organisieren, als erstrebenswert und fördernd
                              									für die Volkswirtschaft hin. Ist das erstrebenswert, wenn derartige Leute in naiver
                              									oder skrupelloser Kühnheit die gewagtesten Unternehmungen drauflos gründen, anderer
                              									Leute Geld in sie hineinstecken, ohne danach zu fragen, ob das Unternehmen nach ein,
                              									zwei Jahren wieder verkracht – und letzteres ist nur zu oft der Fall! Nein, solcher
                              									Gründungskapitäne besitzen wir schon viel zu viele, und es wäre besser um die
                              									Volkswirtschaft bestellt, wenn es mehr Organisatoren gäbe, die bei aller Kühnheit
                              									der Gedanken und allem Unternehmungsgeist in Zeiten des Konjunkturaufstieges nicht
                              									sinnlos neues gründeten und bauten, die daran denken, daß auch einmal wieder eine
                              									Krise kommt, deren Abschwächung nicht zum geringen Teil in ihrer Hand liegt, wenn
                              									sie nur beizeiten begonnen wird.
                           Scherls Standpunkt der Technik gegenüber erhellt
                              									treffend aus folgenden zwei Sätzen des Vorwortes: „Daß solche Arbeit nicht ohne
                                 										jeweilige „fachmännische Mithilfe“ im eigentlichen Sinne der Worte getan
                                 										werden kann, versteht sich von selbst. Die technische Durchführung der
                                 										Einzelheiten muß natürlich Spezialisten überlassen werden, die meiner Meinung
                                 										nach (!) hier ihre unentbehrliche, segensreiche Wirkung entfalten.“ – Das
                              									ist der heute meistens bei Behörden beliebte Standpunkt, und was bei solcher
                              									Auffassung herauskommt, ist zur Genüge bekannt.
                           Die eigentliche Denkschrift zerfällt nun in drei Teile und zwar:
                           
                              I. Die Krisis im gegenwärtigen Eisenbahnwesen.
                              II. Das neue System.
                              III. Wirtschaftliche und soziale Ausblicke.
                              
                           Im ersten Kapitel übt Scherl eine mehr als berechtigte
                              									Kritik an den heutigen ungesunden Eisenbahnverhältnissen, die eine Folge der
                              									lediglich der historischen Entwicklung des Verkehrswesens nachfolgenden,
                              									mangelhaften Organisation sind. Eine Besserung sei nur durch radikale
                              									Neuorganisation möglich, für welche die Forderungen aufgestellt werden:
                           Trennung von Personen- und
                                 									Güterverkehr,
                           höhere Geschwindigkeit der Personenzüge,
                           häufigere Zugfolge,
                           Kontinuität aller Verkehrsgelegenheiten,
                           alles Forderungen, die bis auf die letzte nicht neu sind. Daß
                              									in absehbarer Zeit an eine Trennung von Personen- und Güterverkehr geschritten
                              									werden muß, dürfte heute selbst von den Eisenbahnverwaltungen zugestanden werden,
                              									wenn man auch dort über das „wie“ noch sehr im unklaren ist. Die Frage der
                              									höheren Geschwindigkeit ist nach den Zossener 200 km-Schnellbahnversuchen nur noch
                              									eine Frage des Unterbaues, und die häufigere Zugfolge ist bei dem zukünftig allein
                              									gebotenen elektrischen Betrieb durch dessen Eigenart bereits gegeben.
                           Eingehender wird die Brauchbarkeit des heutigen zweischienigen Unterbaues für
                              									den Schnellbetrieb untersucht und naturgemäß aus den bekannten Gründen
                              									abgelehnt.
                           Dieser bisherige Abschnitt ist zweifellos der beste des Buches, da er alle heute
                              									erkannten Mängel unserer Eisenbahnen zusammengefaßt und treffend festnagelt. Im
                              									zweiten Teil werden wir nun mit dem neuen System von Scherl bekannt gemacht, das allen gerügten Mängeln nach dem Rezept des
                              									Doktor Eisenbart abhelfen soll. Scherl will nämlich für
                              									den Personenverkehr ein vollständig neues, nach einem bestimmten System
                              									organisiertes Eisenbahnnetz über Deutschland legen; was mit den vorhandenen
                              									Eisenbahnen, in denen in Deutschland allein über 15 Milliarden investiert sind,
                              									geschehen soll, verschweigt Scherl, ebenso, daß der
                              									Güterverkehr auch eine gänzlich neue Organisation erfordert. Das Scherlsche System erstreckt sich auf eine neuartige
                              									Organisation, sodann auf die technische Durchführung derselben mittels eines neuen
                              									Bahnsystems.
                           Nach dem neuen System werden zunächst die wichtigsten Hauptstädte und Verkehrszentren
                              									durch ein weitmaschiges primäres Netz von direkten Fernschnellbahnen (mit 200 km stündl. Geschwindigkeit)
                              									verbunden. Zur Erschließung der Flächen der einzelnen Maschen dieses Hauptnetzes
                              									dient als Zubringersystem ein engeres sekundäres Netz von
                              										Nebenbahnen (mit 120–150 km Geschwindigkeit), dessen
                              									Linien wiederum durch ein tertiäres Netz von Zweigbahnen (mit 30–60 km Geschwindigkeit) gespeist
                              									werden. Diejenigen Dörfer und Flecken, die dann noch nicht an einer Bahnlinie bezw.
                              									in der Nähe einer Station liegen, werden durch Automobilomnibuslinien an die nächste
                              									Zweigbahnstation angeschlossen.
                           Man kann diesem System einen gewissen großzügigen Organisationsgedanken nicht
                              									absprechen, wenn auch seine praktische Durchführung schon allein aus
                              									wirtschaftlichen Gründen unmöglich ist.
                           In den Großstädten ist wiederum ein besonderes Stadtbahnnetz vorgesehen: In die Mitte
                              									der Stadt wird mit etwa 5 km Radius ein (tatsächlich kreisrunder) innerer Stadtring
                              									gelegt, sodann um die Stadtperipherie ein großer Vorortring und schließlich zwischen
                              									beide je nach der Stadtgröße noch ein Mittel- oder ein Außen-Stadtring, eventuell
                              									auch noch ein zweiter Vorortring. Vom Mittelpunkt der Stadt gehen wieder von einem
                              									gemeinsamen Zentralbahnhof radiale Strahlenbahnen aus, die über sämtliche Ringbahnen
                              									hinweg bis zum äußersten Vorortring geführt werden; an allen Kreuzungsstellen von
                              									Ring- und Strahlenbahnen befinden sich Umsteigebahnhöfe und auf den einzelnen
                              									Strecken in kurzen Abständen Haltestellen. Dieses Radial-Peripheriesystem ermöglicht
                              									also, z.B. von irgend einem Punkte im Südosten der Stadt mittels Straßenbahn oder
                              									Automobil die nächste Haltestelle der Strahlenbahn zu erreichen, auf dieser bis zum
                              									Zentralbahnhof zu gelangen, dort in eine z.B. nordwestliche Strahlenbahn umzusteigen
                              									und so wieder mittels Straßenbahn die gewünschte Straße im Nordwesten zu erreichen.
                              									Der Anschluß der Fernschnellbahn an dieses Stadtnetz geschieht nun in der Weise, daß
                              									sie bis an den inneren Stadtring herangeführt wird (z.B. im Westen), diesem parallel
                              									auf die Länge eines Halbkreises folgt und dann wieder (also im Osten) die Stadt
                              									verläßt. An den beiden Abzweigstellen finden sich die Hauptfernbahnhöfe mit Anschluß
                              									an die Kreuzungsbahnhöfe von Ring- und Strahlenbahn.
                           Das neue System zeichnet sich also durch große Einheitlichkeit aus, besitzt jedoch
                              									neben vielen anderen den erheblichen Nachteil, daß ein fortwährendes Umsteigen
                              									erforderlich ist,
                              									da ein direkter Verkehr nur auf den großen Durchgangslinien (z.B.
                              									Paris–Köln–Kassel–Berlin) stattfindet.
                           Wir kommen nun zu der technischen Durchführung des neuen Systems, und da gelangt Scherl zu dem richtigen Schluß, daß für die Schnellbahn
                              									der Zukunft das heutige Zweischienengleis unverwendbar ist und nur eine
                              									Einschienenbahn in Betracht kommen kann. Mit Recht werden die Behrsche sogen. Einschienenbahn, die eigentlich eine
                              									Fünfschienenbahn, sowie die Tunisbahn, die mit ihren oberen Führungen auch eine
                              									Zwei-bzw. Dreischienenbahn ist, als unechte Einschienenbahnen verworfen.
                           Unbedingt anzufechten ist nun, was Scherl über die Schwebebahn als Einschienenbahn sagt, die er in 16 Zeilen
                              									mit nichtssagenden Worten abtut. Die Schwebebahn ist eine echte Einschienenbahn, die
                              									bekanntermaßen ganz besonders zur Ausbildung als Schnellbahn prädestiniert ist, und
                              									wenn Scherl seine neue Einschienen-Standbahn als allein
                              									seligmachend hinstellen will, dann hätte er zunächst eine eingehende sachliche
                              									Untersuchung über die Unbrauchbarkeit der Schwebebahn geben müssen. Da dies
                              									allerdings nicht so einfach ist, sagt er nur: „Die Schwebebahnen haben bisher
                                 										wenig Verbreitung gefunden. Sie kommen auch für die praktische Durchführung der
                                 										hier gegebenen neuen Gesichtspunkte nicht in Betracht, weil der Ausbau einer
                                 										Fernbahn als Schwebebahn infolge des allzu komplizierten Eisenbaues der Strecke
                                 										unwirtschaftlich werden müßte.“ Hieraus wird ohne weiteres die Randanmerkung
                              									gefolgert: „Die Schwebebahn als Schnellbahn zukunftslos.“
                           Ferner heißt es: „Außerdem würde die heutige technische Ausführung der
                                 										Schwebebahnen wichtige Aenderungen erfahren müssen.“ Nun, das ist doch ganz
                              									selbstverständlich und auch bei jedem anderen System der Fall.
                           Wenn Scherl aber sagt: „denn bei den hohen
                                 										Geschwindigkeiten, die gefordert werden, würden die beim Einfahren in die
                                 										Krümmungen und beim Verlassen derselben auftretenden Wagenschwingungen ganz
                                 										bedenkliche Größen annehmen, die unter Umständen das Fahren überhaupt vereiteln
                                 										könnten,“ so enthält das eine grobe Inkonsequenz, denn dieselben
                              									Schwingungen treten in genau gleicherweise auch bei der Scherlschen Standbahn auf und die Mittel, mit denen Scherl dort die Schwingungen dämpft, können ebensogut
                              									(oder noch besser) bei der Schwebebahn angewandt werden. Was übrigens den Hinweis
                              									auf den „allzu komplizierten Eisenbau der Strecke“ bei der Schwebebahn und
                              									deren hohe Kosten anbetrifft, so wird Herr Scherl wohl
                              									selbst nicht glauben, daß seine Strecke weniger kompliziert und deren
                              									Durchschnittskosten (also einschließlich der Bahnhöfe und Hochbahnstrecken in den
                              									Städten) etwa niedriger seien.
                           Für sein neues System greift Scherl nun den Gedanken des
                              									Engländers Brennan auf, der 1907 versuchte, das Modell
                              									eines kleinen Einschienen-Standwagens mit Hilfe von Kreiselapparaten
                              									auszubalancieren. Den Ausgangspunkt boten die Versuche mit dem Schlich-sehen SchiffskreiselD. P. J. 1908, Bd. 323 S. 350. an
                              									dem 6000 t Seedampfer „Seebär“ (Kreiselgewicht 10 t), wobei die seitlichen
                              									Schiffsschwingungen (das Rollen) bei schwerer See nahezu aufgehoben wurden.
                           Leider hat man über den kleinen Wagen von Brennan seit
                              									1907 nicht viel mehr gehört, als daß er durch die gyrostatische Wirkung des Kreisels
                              									zum Stehen gebracht wurde, aber nicht, wie er sich bei plötzlicher Einwirkung
                              									seitlicher Kräfte (Wind) verhält. Ueber die Versuche, die in Deutschland
                              									(insbesondere bei Lichterfelde) begonnen sein sollen, ist noch nichts Näheres
                              									verlautet.
                           Der Gedanke, diese Stabilisierungsart auf große Einschienen-Eisenbahnwagen zu
                              									übertragen, hat gewiß viel bestechendes. Leider liegen aber die Verhältnisse bei
                              									einem Eisenbahnwagen wesentlich anders als bei einem Schiff, das für gewöhnlich
                              									bereits durch seine Schwimmfähigkeit stabilisiert ist. Natürlich bietet es keine
                              									Schwierigkeit, einen labilen Eisenbahnwagen mittels Kreisel zu stabilisieren, wenn
                              									sein Eigengewicht bereits ausbalanciert ist, sein Schwerpunkt also in der
                              									senkrechten Radebene liegt. Eine dauernde einseitige Belastung während der Fahrt
                              									oder beim Ein- und Aussteigen wird jedoch auch durch die Kreisel nicht aufgehoben,
                              									ebenso werden beim Ein- und Aussteigen die z.B. durch plötzliches Eintreten
                              									zahlreicher Personen auf einer Wagenseite verursachten heftigen Schwingungen erst
                              									nach einigem Pendeln genügend gedämpft sein. Auch ist es fraglich, ob die
                              									gyrostatische Dämpfung bei plötzlichen seitlichen Orkanstößen rasch genug in
                              									Tätigkeit tritt. Bei einem Schiff liegen die Dinge insofern günstiger, als die
                              									Energie der Rollbewegungen, die nach Föppl selbst bei
                              									einem großen Schiff nicht viel größer als die Energie eines in voller Fahrt
                              									befindlichen Eisenbahnzuges ist, im Verhältnis zu dem Schiffsgewicht sehr klein
                              									bleibt.
                           Die gyrostatischen Kreisel sollen wie die Wagenmotoren natürlich elektrisch betrieben
                              									werden. Was dann geschieht, wenn bei plötzlicher Stromunterbrechung (durch Leitungs-
                              									oder Zentralendefekt oder durch Stromabschneiden bei überfahrenem Blocksignal) die
                              										Kreisel stillstehen, der Wagen also wieder labil
                              									wird, darüber schweigt die Denkschrift und auch des Kritikers Höflichkeit.
                           Uebrigens ist es ein Irrtum, anzunehmen, der Scherlsche
                              									Einschienenwagen könne nun selbst 300 m Kurven mit der vollen Geschwindigkeit von
                              									200 km (stündlich) durchfahren. Selbst wenn das Unmögliche gelänge, ein zu weites
                              									Kippen infolge der Zentrifugalkraft durch die Kreisel zu verhindern, würden die
                              									mechanischen und physiologischen Einwirkungen auf die Reisenden das verbieten, denn
                              									diese würden, da sie nicht starr mit dem Fahrzeug verbunden, in letzterem mit großer
                              									Wucht auf die Seite geschleudert werden.
                           Man vermißt an dieser Stelle der Denkschrift ausführlichere Erläuterung der neuen
                              									gyrostatischen Stabilisierungsart, zumal letztere das Lebenselement der
                              									Einschienen-Standbahn bildet. Scherl glaubt, sich mit
                              									der einfachen Mitteilung begnügen zu können, „daß das echte einschienige Fahrzeug
                                 										nunmehr tatsächlich vorhanden, das Mittel also bereit ist, die neue Organisation
                                 										in der Praxis erfolgreich durchzuführend“ Es werden wohl nicht allzuviele
                              									hier in verba magistri schwören.
                           Die Einschienenwagen besitzen bei 30 m größter Länge eine Breite von 4 m; ein
                              									Mittelgang teilt auf beiden Fensterseiten verschließbare Abteile zu je vier
                              									Sitzplätzen mit fast 70 cm Platzbreite ab, so daß die Bequemlichkeit nichts zu
                              									wünschen übrig läßt. Kopf- und Schlußwagen sind, wie die Denkschrift besonders
                              									hervorhebt, zugeschärft. Die Zuschärfung ist aber nicht genügend, da bei
                              									Geschwindigkeiten von 200 km in der Stunde der Luftdruck auf die obere vertikale
                              									Wand des Führerstandes eine bedeutende Größe erreicht.
                           Jeder Zug soll eine abgeschlossene, in sich zusammenhängende Einheit bilden und zwar
                              									sind normal Dreiwagenzüge vorgesehen. Auf größtmöglichste Bequemlichkeit ist
                              									besonderer Wert gelegt, wenn das Vorhandensein eines Speisesaales, eines
                              									Rauchsalons, von Schreibzimmer, Friseurraum, auf großen Durchgangsstrecken
                              									sogar Gesellschaftszimmer mit Klavier usw. Zeugnis geben. Unserem sozialen
                              									Zeitgeist entsprechend soll nur eine Wagenklasse geführt werden.
                           Den Luxus größter Raumverschwendung glaubt sich Herr Scherl leisten zu können, da er die Erhöhung des Zuggewichts für die
                              									Wirtschaftlichkeit belanglos hält. Gewiß, wenn die Strecke immer annähernd
                              									horizontal liefe, aber in den Steigungen über 10 v.T., die bei dem neuen System
                              									besonders häufig sein werden, ist das überflüssige Zuggewicht von großem Einfluß auf
                              									den Stromverbrauch und somit auf die Betriebskosten, abgesehen davon, daß die
                              									Motoren eine erheblich größere, gering ausgenutzte Leistungsfähigkeit besitzen
                              									müssen. Auch hängt der Luftwiderstand nicht allein von der Form der Spitze, sondern
                              									ebenso von der Länge des Zuges ab.
                           Da die hohen Geschwindigkeiten selbstverständlich eine Kreuzung der Strecke durch
                              									Straßen usw. verbieten und überhaupt eine scharfe Abgrenzung gegen die Umgebung
                              									verlangen, ergibt sich die Führung als Hochbahn.
                           Für die freie Strecke entwirft Scherl gemauerte
                              									Bahndämme (die mindestens 8 m hoch sein müssen) von 10 m Kronenbreite bei 5,5 m
                              									Gleisabstand, die für jede Fahrtrichtung ein Einschienengleis tragen. In der Mitte
                              									zwischen beiden Gleisen befindet sich eine 2,5 m breite und 1,5 tiefe Fahrrinne, in
                              									der auf gewöhnlichem Zweischienengleis ein durch Benzinmotor oder Akkumulatoren
                              									betriebener Revisionswagen verkehrt, von dem aus die Streckenbesichtigung bequem und
                              									ohne Gefahr erfolgen kann.
                           Weiter oben führte Scherl diese Dämme als besonderen
                              									Vorzug seines Systems gegenüber der „komplizierten Eisenkonstruktion der
                                 										Schwebebahn“ an, während er nun selbst hervorhebt, daß in den weitaus
                              									meisten Fällen viel eher der Eisenkonstruktion vor dem Damm der Vorzug zu geben sei,
                              									da „in schwierigem, hügligem Terrain häufig der Punkt erreicht wird, an dem ein
                                 										eiserner Viadukt sich billiger stellt als die Erdarbeiten zur Schüttung des
                                 										Bahndammes,“ und da ferner „die Eisenkonstruktion einen wesentlich
                                 										schmäleren Landstreifen beansprucht als der geschüttete Damm.“
                           Von einem „geschütteten“ Damm kann überhaupt keine Rede sein, denn geschüttete
                              									Dämme von 8–12 m Höhe sind für Schnellbahnen wohl ein Unding. Da müßten sie schon
                              									gemauert sein und dann würde das Land aus der Vogelsperspektive wie eine riesige
                              									Dynamitfabrik aussehen, die bekanntlich durch ein Netz von Erddämmen in einzelne
                              									abgeschlossene Felder geteilt sind.
                           Durchaus anzuerkennen sind die Ausführungen über die Anforderungen an die Sicherheit
                              									der Züge, für die eine dreifache Streckensicherung (Blockstrecken mit Signalmeldung
                              									direkt in die Führerstände, Rückmeldung zum Stellwerk und Stromabschneiden bei
                              									Nichtbeachten des Signals) vorgesehen ist.
                           Hat man sich bis hierher durch die Denkschrift durchgearbeitet und wendet das Blatt
                              									zum nächsten Abschnitt, so haftet das Auge überrascht auf den Bildern, die sich nun
                              									bieten und ein leichtes „Donnerwetter“ bestätigt gewiß die Kühnheit der
                              									Entwürfe. Wir sind nämlich am Clou der Denkschrift angelangt: In den Städten soll
                              									das gesamte Bahnnetz – Stadt- wie Fernschnellbahnen – hoch über den Dächern als Lufthochbahn geführt werden! Und hier müssen wir
                              									Herrn Scherl recht geben: Den Mut kann nur ein Laie
                              									haben. Da sieht man die Dächer der Häuser, die übrigens zufällig alle gleich hoch
                              									und oben flach sind, und wie Kamine ragen aus ihnen Betonklötze heraus, die die
                              									Eisenpfeiler der Hochbahn tragen. Da sieht man Straßenbilder, auf denen hoch
                              									oben von Haus zu Haus mächtige eiserne Fachwerkbrücken über die Straße springen und
                              									riesige leichtgeschwungene Brücken, die in Haushöhe über Wasserläufe führen.
                           Technisch ist es natürlich möglich, die Tragpfeiler der Lufthochbahn durch die Häuser
                              									zu legen, wenn auch nicht in der in der Skizze angegebenen Weise, nach der sie als
                              									hohle Kastenpfeiler in das Treppenhaus der Wohnhäuser eingebaut werden und sogar in
                              									ihrem Innern eventuell noch die Fahrstuhlanlage des Hauses aufnehmen sollen. Aber
                              									was dann, wenn die Pfeiler anstatt durch das Treppenhaus z.B. mitten durch Herrn Scherls Schlafzimmer gehen (in welchem Falle sich Herr
                              										Scherl übrigens überzeugen würde, daß die
                              									Geräuschlosigkeit und Erschütterungsfreiheit seiner Einschienenbahn trotz der
                              									angeführten Schutzmaßregeln durchaus nicht so ideal ist, wie er annimmt). Jedenfalls
                              									ist die Führung über die Dächer nur dann überhaupt möglich, wenn die sämtlichen in
                              									der Bahntrasse liegenden Häuser angekauft und neu aufgebaut werden!
                           Wir können daher diesen verblüffenden Clou, alle größeren Städte über den Dächern mit
                              									einem regelrechten Netz von Hochbahnen, gleichviel welchen Systems, zu überziehen,
                              									ruhig zu den utopischen Phantasien legen, schon allein im Hinblick auf die ganz
                              									unnennbaren Anlagekosten.
                           Eigenartige Ausbildung erfahren die Bahnhöfe, die dem Grundsatz gerecht werden, den
                              									Reisenden aus dem ebenerdigen Vestibül, nachdem er seine Fahrkarte gelöst und sein
                              									Gepäck aufgegeben, mechanisch bis an seinen Zug zu befördern und umgekehrt.
                           Erreicht wird dies durch die Einführung eines neuen Verkehrselementes, der Kabine,
                              									die hier die Form und Größe eines D-Wagens besitzt, nur mit dem Unterschied, daß ihr
                              									Inneres einen ungeteilten Sammelraum mit Sitzen an den Längsseiten bildet. Diese 30
                              									m lange Kabine fährt von dem Bahnhofsvestibül mittels Aufzug auf den bei
                              									Innenstadtbahnhöfen oft im fünften Stockwerk eines Warenhauses gelegenen Bahnsteig
                              									und legt sich direkt an den Mittelwagen des ankommenden bzw. abfahrenden Zuges.
                              									Durch die beiden Seitentüren an den Wagenenden treten dann die Reisenden aus der
                              									Kabine in den Zug über, während gleichzeitig alle Aussteigenden des Zuges durch eine
                              									breite Mitteltüre aus dem Zug in die Kabine übertreten, womit das heutige
                              									Durcheinanderströmen der Zu- und Abgehenden wirksam vermieden wird. Die Idee dieser
                              									Kabinenbeförderung ist gewiß originell, doch abgesehen von mancherlei
                              									Betriebsschwierigkeiten werden die hohen Anlage- und besonders Betriebskosten eine
                              									allgemeine Durchführung dieses Systems auf allen Bahnhöfen verbieten.
                           Zur Erzielung der Kontinuität soll im neuen System der Betrieb in einem bestimmten
                              									Rhythmus eingeführt werden, d.h. die Haltestellen in gleichem Abstand liegen und die
                              									Züge in gleichen Zeitintervallen fahren. Die Strecke soll demgemäß in Abschnitte von
                              									etwa 20 km Länge geteilt und die Stationen ohne Rücksicht auf die Bedeutung
                              									anliegender Ortschaften, sondern lediglich als Betriebsstationen zur Kreuzung mit
                              									den Querlinien des Nebenbahnnetzes, demnach eventuell auch auf freiem Felde angelegt
                              									werden, die Stationen sollen also äquidistant liegen. Ferner sollen die Züge in
                              									konstanten Zeitintervallen laufen, zu welchem Zweck ein starrer Fahrplan mit
                              									Zwischenräumen von z.B. 10, 15, 20, 30 Minuten Abständen vorgeschlagen wird.
                           Da nun das Anhalten nach jeden 20 km oft überflüssig ist, weil die
                              									Nebenbahnanschlüsse keine so häufige Bedienung erfordern, so soll der Betrieb
                              									interferierend geführt werden, wie dies zweckmäßig an dem Beispiel eines
                              									Schnellbahnfahrplans Berlin-Hamburg erläutert wird. Die Strecke Berlin–Hamburg (280
                              									km) besitzt alle 20 km eine Streckenstation zum Anschluß an die Nebenbahnnetze. Der
                              									Verkehr erfolge in halbstündlichen Intervallen, die Züge halten jedoch nicht auf
                              									jeder Station, sondern der erste Zug- hält nur auf der 2., 4., 6., 8., 10. und 12.
                              									Station, überspringt also je eine Zwischenstation, während der nächste eine halbe
                              									Stunde später abgehende Zug die von dem vorhergehenden übersprungenen Stationen,
                              									also die 1., 3., 5., 7., 9., 11. und 13. Station bedient und die übrigen
                              									überspringt. Der nächste Zug hält dann wieder wie der erste an den geraden
                              									Stationen, so daß die beiden Endstationen Berlin und Hamburg, in halbstündlichem
                              									Verkehr stehen, während die Streckenstationen nur jede Stunde an einen
                              									Schnellbahnzug angeschlossen sind. Befinden sich hier zwei Züge in Interferenz, so
                              									kann der Fahrplan ebenso mit drei Zügen in Interferenz ausgebildet werden, so daß
                              									also erst jeder dritte Zug wieder an derselben Zwischenstation, d.h. in Zeiträumen
                              									von 1½ Stunden hält.
                           Dieses Betriebssystem bedingt ein peinlich genaues ununterbrochenes Ineinandergreifen
                              									aller Haupt- und Nebenanschlüsse, wie es selbst bei bester Organisation und
                              									idealstem Betriebe niemals vollständig möglich sein wird.
                           Auch ist es nicht richtig, die Stationen äquidistant zu legen, das wäre nur dann
                              									zulässig, wenn die Strecke keine größeren Steigungen und scharfen Krümmungen
                              									besitzt, d.h. wenn von der Anfangs- bis zur Endstation die volle Geschwindigkeit
                              									ständig gefahren werden könnte. Bei der Bestimmung der Stationsabstände müßte
                              									jedenfalls auf gewisse Eigenschaften der Elektromotoren Rücksicht genommen und die
                              									Stationen eher in zeitlich gleiche Abstände gelegt werden.
                           Im letzten Teil der Denkschrift läßt Scherl als
                              									wirtschaftliche und soziale Ausblicke die gewaltigen Segnungen vor dem geistigen
                              									Auge vorüberziehen, die die Durchführung des neuen Systems der Zivilisation, der
                              									Gesamtheit des Volkes und jedem einzelnen gewähren würde. Er zeigt, wie die
                              									Entfernungen auf die Hälfte der heutigen zusammenschrumpfen, wie der Verkehr in
                              									Deutschland zu einem einheitlichen Lokalverkehr würde, da man z.B. von Berlin aus
                              									die entferntesten Städte Deutschlands in wenig mehr als 4 Stunden erreichen kann.
                              									Die Entfernung Berlin–Köln schrumpft von heute 8½ Fahrstunden auf 3½, die
                              									Berlin–München von 10½ auf 4 Stunden und Berlin–Wien von 13½ auf 5½ zusammen.
                           Mit diesen allgemeinen Vorschlägen und Gesichtspunkten begnügt sich die Scherlsche Denkschrift. Dies könnte ihr zum Lobe
                              									gereichen, wenn Scherl nicht mehr als ganz flüchtige
                              									Richtlinien für eine rationelle Gesundung des heutigen Verkehrswesens hätte geben
                              									wollen. Aber da er ein bestimmtes in manchem genau und gut durchgearbeitetes eigenes
                              									System vorlegt und zur Kritik dieses seines Systems auffordert, muß ihm zum Vorwurf
                              									gemacht werden, daß er keinerlei Beweis für eine wirtschaftliche
                              									Durchführungsmöglichkeit, wenigstens an einem Teilbeispiel, gegeben hat.
                           Hätte Herr Scherl diesen Beweis versucht, dann wäre er
                              									sicher vor diesen Zahlen erstarrt und hätte schleunigst etwas anderes,
                              									aussichtsvolleres organisiert. Denn an eine Verzinsung ist bei den gewaltigen
                              									Anlagesummen des neuen Systems nicht zu denken.
                           Faßt man den Wert der Scherlschen Denkschrift zusammen,
                              									so kann man zugestehen, daß sie mit ihrer energischen Geißelung der Schäden unseres
                              									Eisenbahnwesens und dem Nachweis von Richtlinien, von Wegen, auf denen eine
                              									wirkliche Besserung zu erzielen ist, nicht vergeblich geschrieben wurde. Scherl wird das Verdienst bleiben, weiteste Kreise und
                              									besonders auch die Eisenbahnverwaltungen wieder einmal nachdrücklich aufgerüttelt zu
                              									haben, und es ist nicht ausgeschlossen, daß die zweifellos vorhandenen Bestrebungen
                              									an den maßgebenden Stellen zu einer gründlichen Verbesserung des Eisenbahnverkehrs
                              									durch die Scherlsche Denkschrift günstig beeinflußt
                              									werden, so daß diese immerhin einen praktischen Wert erlangt.
                           Das neue Scherlsche System als solches muß trotzdem im
                              									großen und ganzen abgelehnt werden, einmal wegen der unglaublich hohen Kosten, die
                              									eine auch nur geringe Verzinsung ausgeschlossen erscheinen lassen und sodann wegen
                              									zahlreicher technischer Mängel, die im System begründet sind und zwar sowohl in der
                              									Organisation des Netzes (die insbesondere von dem falschen Grundsatz ausgeht, daß
                              									Steigungen ohne wesentlichen Einfluß, daher die Netzlinien ohne Rücksicht auf die
                              									Geländeverhältnisse möglichst gradlinig zu führen sind) als auch technisch in dem
                              									neuen Unterbau- und Wagensystem.