| Titel: | Das Eisenbahnwesen auf der Weltausstellung in Brüssel 1910. | 
| Autor: | A. Bucher | 
| Fundstelle: | Band 326, Jahrgang 1911, S. 113 | 
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                        Das Eisenbahnwesen auf der Weltausstellung in
                           								Brüssel 1910.
                        Von Ingenieur A. Bucher,
                           								Tegel bei Berlin.
                        
                           Lokomotiven.
                           
                        (Fortsetzung von S. 101 d. Bd.)
                        Das Eisenbahnwesen auf der Weltausstellung in Brüssel
                           								1910.
                        
                     
                        
                           2. 2 B 1-Vierzylinder-Verbund-Schnellzuglokomotive Gattung S 9 der Preußischen
                              									Staatsbahnen, K. E. D. Hannover, Betriebs-Nr. 947, gebaut von der Hannoverschen Maschinenbau-A.-O. vormals G. Egestorff
                              									in Linden bei Hannover, Fabrik-Nr. 5801. 1910. (Fig.
                                 										29 und 30.)
                           Die Kgl. Eisenbahn-Direktion Hannover und mit ihr die Hannoversche Lokomotivfabrik hat sich um die Einführung und den Ausbau der
                              									Verbundlokomotive sehr große Verdienste erworben, so daß Hannover mit der Zeit zum
                              									eigentlichen „Verbundbezirk“ der Preußischen Staatsbahnen geworden ist.
                              									Infolge dieses zähen Festhaltens an dem Verbund-Gedanken ihres früheren, 1906
                              									verstorbenen Eisenbahn-Direktors v. Borries war man
                              									daher in Brüssel einigermaßen gespannt auf diese Ausstellungsmaschine, welche gegen
                              									die Zwillings-Heißdampflokomotive immer noch erfolgreich konkurriert.
                           Die Entwicklungsgeschichte der Vierzylinder-Verbundlokomotive Bauart v. Borries von 1900 bis heute darf wohl als genügend
                              									bekannt vorausgesetzt werden. Die neueste Schöpfung dieser Art, wie sie in Brüssel
                              									zu sehen war, ist gegenüber den früheren Ausführungen bedeutend verstärkt, so daß
                              									sie zurzeit die schwerste europäische 2B1-Type darstellt. Die Hauptabmessungen
                              									befinden sich wie bei allen späteren Beschreibungen bei dem Gesamtbild der
                              									Lokomotive, und zwar in folgender Abkürzung:
                           
                              \frac{\mbox{Zyl.}-∅\,\times\,\mbox{Hub}}{\mbox{Treibrad}-∅}\,.\,\mbox{at}\,.\,\frac{\mbox{Verdampfungsheizfl.}}{\mbox{Rostfläche}}
                              
                           
                              \mbox{Rohrlänge}\,.\,\frac{\mbox{Leergewicht}}{\mbox{Dienstgewicht}}\,.\,\mbox{Reibungsgew.}
                              
                           Der Kessel weicht von der sonst üblichen preußischen Bauart erheblich ab durch die
                              									breite, über den Rahmen hinausragende Feuerbuchse, die vorn infolge des tief
                              									ausgeschnittenen Rahmens trotz der gegenüber der 2B-Heißdampflokomotive um 75 mm
                              									weniger hoch liegenden Kesselmitte reichliche Tiefe hat. Der hintere der beiden
                              									langen Kesselschüsse ist im oberen Teil zur Vergrößerung des Dampfraumes um 112 mm
                              									kegelförmig, der auffallend weit zurückliegende Dom mußte daher einen schiefen,
                              									besonders teueren Untersatz erhalten. Trotz der 5,2 m langen Siederohre ist die
                              									Rauchkammer sehr lang, sie hat außen keine Bekleidung; dies mag wohl seine Vorteile
                              									haben, beeinträchtigt aber jedenfalls durch die sichtbaren Nietköpfe das gute
                              									Aussehen. Die Kesselrückwand hat für die Beschickung des 2 m breiten Rostes zwei
                              									Feuerlöcher mit Marcotty-Kipptüren. Der dreiteilige
                              									Aschkasten ist reichlich groß bemessen und ragt in der Breite der Kupferbuchse über
                              									den Rahmen hinaus. Auch die äußeren beiden Kasten haben vordere und hintere Klappen,
                              									welche gleichzeitig mit den inneren Klappen bewegt werden. Die Scharniere der
                              									Seitentüren dürften zweckmäßig inwendig angenietet werden, namentlich bei einer
                              									Ausstellungslokomotive. Der Querschnitt F für den
                              									Lufteintritt in den Aschkasten beträgt 0,5 qm, der gesamte Rostspaltenquerschnitt
                              										Rf ist 1,44 qm, das Verhältnis Rf/F ist daher 2,88fach.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 326, S. 113
                              Fig. 29.
                              
                           Der Dom mit sorgfältig ausgebildetem Wasserabscheider enthält einen
                              									Schieber-Regulator auf gewöhnlichem Knierohr, von dem aus ein langes Dampfrohr von
                              									155 mm  nach dem Einström-Kreuzrohr in die Rauchkammer führt. – Besonders
                              									auffällig und für das Aussehen nicht günstig ist die Lage der Kesselspeiseventile
                              									vorn auf dem Scheitel des Langkessels, um das kalte Speisewasser möglichst hoch über
                              									den Siederohren in den Kessel einzuführen. Denselben Zweck erreichen die englischen
                              									und südamerikanischen Lokomotiven auf einfachere und billigere Weise, indem der
                              									Injektor – Gresham oder Friedmann – senkrecht an der Kessel-Rückwand angeordnet und sowohl
                              									Dampfrohr wie Druckrohr über der Feuerbuchsdecke durch den Kessel hindurchgeführt
                              									wird, wobei man die
                              									vordere Mündung des Speiserohres zweckmäßig trichterförmig ausweitet.
                           Die Dampfzylinder mit verhältnismäßig großem Durchmesser, aber kurzem Hub liegen nach
                              									dem v. Borriesschen Patent alle in einer Ebene und
                              									haben ein Raumverhältnis von 1 : 2,33, die Niederdruckzylinder liegen innen, die
                              									Hochdruckzylinder außen. Beide Zylinderpaare, bestehend aus je einem Hoch- und einem
                              									Niederdruckzylinder in einem Gußstück, sind in der Mitte zusammengeschraubt und
                              									bilden oben den Rauchkammersattel. Die Niederdruckzylinder haben unten breite
                              									Flanschen zur Aufnahme der Druckplatten für das Drehgestell; ein kräftiger Steg
                              									zwischen Hoch- und Niederdruckzylinder dient zur Aufnahme des Barrenrahmens und zur
                              									Verbindung des Zylinders mit dem Rahmen durch senkrechte Schrauben.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 326, S. 114
                              Fig. 30.Vierzylinder-Verbund-Schnellzuglokomotive S 9 der Preußischen
                                 										Staatsbahn.
                              
                           Von den 90 bis jetzt abgelieferten S 9 Lokomotiven hat nur die Ausstellungsmaschine
                              										Lentz-Ventilsteuerung für die Hochdruckzylinder,
                              									die Zylinder der übrigen Lokomotiven haben sämtlich Kolbenschieber mit doppelter
                              									Einströmung und federnden Ringen (nach Fig. 31), die
                              									Hochdruckschieber haben bei 150 mm  innere, die Niederdruckschieber bei 240
                              									mm  äußere Einströmung.
                           Lentz-Ventilsteuerung. Da eine wirklich gute Entlastung
                              									der Flachschieber trotz vieler Versuche nicht erreicht wurde, ist man seit
                              									Einführung des Heißdampfes auch bei den Naßdampf-Schnellzuglokomotiven fast
                              									allgemein zur Anwendung des Kolbenschiebers übergegangen. Derselbe arbeitet bei
                              									guter Ausführung mit federnden Ringen und zweckmäßiger Schmierung beinahe
                              									reibungslos, ergibt aber mit seinen Kanalkanten ebenso wie der Flachschieber infolge
                              									des schleichenden Oeffnens und Schließens namentlich bei den kleineren
                              									Füllungsgraden starke Drosselung des Einströmdampfes bezw. hohe Kompression,
                              									also eine ungenügende Völligkeit der Dampfdruckschaulinien. Es hat daher nicht an
                              									Versuchen gefehlt, die Ein- und Auslaßorgane wie bei den ortsfesten Dampfmaschinen
                              									als Drehschieber oder Ventile auszubilden, doch erwies sich im Lokomotivbetriebe
                              									bisher noch keine dieser Präzisionssteuerungen dauernd brauchbar. Seit einigen
                              									Jahren bemüht sich nun die Hannoversche Maschinenbau-A.-G.
                                 										vormals G. Egestorff mit einigem Erfolge um die Einführung der
                              									Ventilsteuerung, Patent Lentz, im Lokomotivbau.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 326, S. 114
                              Fig. 31.
                              
                           Sämtliche Teile dieser Steuerung befinden sich, wie aus Fig. 32, des in natürlicher Größe am Kopfende der Maschine mit
                              									ausgestellt gewesenen Modelles und aus Fig. 32a
                              									hervorgeht, in einem gußeisernen Gehäuse, das auf den Hochdruckzylinder dampfdicht
                              									aufgeschabt und aufgeschraubt ist. Zum Abheben dieses Gehäuses und der Ventile ist
                              									am Rauchkammermantel ein besonderer Drehkran angebracht. Die zwei inneren Ventile
                              										E regeln den Einlaß, die beiden äußeren A den Auslaß. Jedes Doppelsitzventil ist an einer
                              									Stahlspindel angeschraubt, die in einer gußeisernen Führung gleitet und ohne Verwendung von
                              									Stopfbuchsen mittels eingedrehter Rillen nach dem sogen. Labyrinthsystem abgedichtet
                              									ist. Die Spindeln enden in breiten, zylindrischen Köpfen, in denen glasharte
                              									geschliffene Rollen leicht drehbar angeordnet sind. Die Spindelköpfe gleiten mit den
                              									Ventilen in ihren Führungen auf und nieder und schließen den oberen, als Oelbehälter
                              									ausgebildeten Teil des Gehäuses gegen den unteren Abdunstraum ab. Sie tragen in
                              									ihrem oberen tellerförmigen Ende die Ventilbelastungsfedern, welche zur Vermeidung
                              									von Verwechselungen für den Auslaß aus rechteckigem Federstahl für die erheblich
                              									schwächeren Einlaßfedern aus kreisrundem Stahldraht hergestellt sind, so daß selbst
                              									bei höheren Umdrehungszahlen ein dauernder Kraftschluß zwischen den Rollen und der
                              									Steuerstange stattfindet. Diese Stange ist aus Flußeisen, im Einsatz gehärtet und
                              									geschliffen, und erhält ihre Bewegung wie die gewöhnliche Schieberstange durch das
                              									Gestänge der bekannten Heusinger- von
                                 									Borries-Steuerung. Für die Ventilerhebung erhalten die Stangen entsprechend
                              									geformte Hubkurven, auf denen die in den Spindelköpfen frei drehbaren Rollen
                              									gleiten. Das Voreilen beträgt 4 mm, entsprechend einer Ventilerhebung von 1½ mm, die
                              									äußere Deckung ist 4,5, die innere Deckung 4 mm, der größte Weg der Stange beträgt
                              									156 mm, die maximale Ventilöffnung 12 mm.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 326, S. 115
                              Fig. 32.
                              
                           Ein unverkennbarer Vorteil dieser Ventilsteuerung ist die schnelle Eröffnung und der
                              									rasche Abschluß für Dampfein- und Austritt, ferner die sehr geringe Reibungsarbeit
                              									und dementsprechend sparsame Schmierung. Die Ventile können jederzeit ohne besondere
                              									Schwierigkeiten nachgeschliffen bezw. ausgewechselt werden. Der Nachteil der
                              									Steuerung für den Lokomotivbetrieb besteht eben nur in der erforderlichen
                              										„Präzision“, denn durch die Vereinigung der Ein- und Auslaßbewegung auf
                              									einer Hubkurvenstange ist ein besonders sorgfältiger Zusammenbau notwendig, damit
                              									bei Ventilschluß das Ventil in seinem Sitz und die Rolle auf der Hubkurvenstange
                              									gleichzeitig aufsitzen; auch die schädlichen Räume sind ziemlich groß.
                           Bis jetzt sind von der Baufirma 60 Lokomotiven mit Lentz-Ventilen ausgerüstet worden, auch mehrere Auslandsbahnen haben
                              									diese Steuerung versuchsweise bei einigen ihrer Lokomotiven eingebaut, so die
                              									Oldenburgische Staatsbahn, die Lübeck-Büchener Bahn, die Malmö-Istad-Bahn, die
                              									Schweizer Gotthard- und die Bundesbahn, die italienische Staatsbahn, die Belgische
                              									Nordbahn und die Französische Midibahn. Von der Oldenburgischen wie von der
                              									Preußischen Staatsbahn liegen zwar bereits günstige Betriebsergebnisse vor, doch
                              									sind die Nachbestellungen einstweilen verhältnismäßig spärlich.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 326, S. 115
                              Fig. 32a.A Auslaßventile; E Einlaßventile.
                              
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 326, S. 115
                              Fig. 33.
                              
                           Eine weitere Neuerung an der ausgestellten Maschine war die Anfahrvorrichtung nach
                              									dem System des Oberbaurates Ranafier in Oldenburg. Sie
                              									besteht im wesentlichen aus einem Ventil (Fig. 33),
                              									das über der nach vorn verlängerten Steuerstange angeordnet und ebenfalls mit Rolle
                              									und Spindel versehen ist, sowie aus einem am Rauchkammermantel angeschraubten
                              									Anfahrzylinder mit Dampfverteilerkolben, der vom Führerstande aus mittels besonderer
                              									Zugstange bewegt wird. Bei gewöhnlicher Fahrt mit reiner Verbundwirkung wird der
                              									Kolben durch Dampfdruck von der Frischdampfleitung in seiner Ruhelage gehalten, das Anfahrventil ist
                              									durch Federkraft auf seinen Sitz gedrückt, wodurch die Spindel bezw. die Rolle so
                              									hoch zu stehen kommt, daß die unter ihr hin- und hergleitende Hubkurvenstange sie
                              									nicht berührt. Wird die Zugstange vom Führer in die erste Rast bewegt, so strömt der
                              									Kesselfrischdampf durch den vom Verteilerkolben geöffneten Kanal nach dem
                              									Anfahrventil und öffnet dieses so weit, daß die Rolle kraftschlüssig an die
                              									Steuerstange angepreßt wird. Der Sattel dieser Hubkurvenstange enthält eine
                              									Einfräsung, die so bemessen ist, daß in allen Kurbelstellungen bei Vorwärts- oder
                              									Rückwärtsfahrt Gegendruck durch die Frischdampfleitung nicht erfolgen kann. Sinkt
                              									nun die Rolle über den Hubbogen in diese Einfräsung, so öffnet sich das Ventil
                              									weiter und der Frischdampf strömt durch eine Rohrleitung hinter den Hochdruckkolben
                              									während dessen Dehnungsperiode.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 326, S. 116
                              Fig. 34.
                              
                           Genügt diese Drucksteigerung durch Zuführung von Hilfsdampf nach dem
                              									Hochdruckzylinder infolge der nahe der Totlage befindlichen ungünstigen
                              									Kurbelstellung zum Anfahren noch nicht, so zieht der Führer die Anfahrzugstange ganz
                              									zurück in ihre Endstellung, wodurch der Verteilerkolben den Durchtritt des
                              									Frischdampfes in den Receiver bezw. in den Niederdruckschieberkasten freimacht. Ist
                              									nach einigen Radumdrehungen die Anzugkraft in dieser Weise ausgeübt, so schaltet
                              									sich nach Loslassen des Handgriffes im Führerhaus die Vorrichtung durch Dampfdruck
                              									auf den Verteilerkolben selbstätig wieder aus, das Anfahrventil kehrt mittels
                              									Federkraft auf seinen Sitz zurück, wodurch sich die Rolle mit einigen Millimetern
                              									Spiel wieder vom Sattel der nun frei beweglichen Steuerstange abhebt. Diese
                              									Vorrichtung ist also eine einfache Hilfssteuerung, welche es ermöglicht, den
                              									vorhandenen Kolbenflächen in jeder Kurbelstellung den zum stoßfreien Anziehen
                              									nötigen Dampfdruck zu geben.
                           Der Rahmen ist dreiteilig, der vordere Teil aus Barren
                              									ist zur bequemen Aufnahme der inneren Niederdruckzylinder mittels kräftiger
                              									Schrauben außen am Plattenrahmen befestigt. Die hohe Lage des Rahmens an dieser
                              									Stelle und der große Abstand zwischen Treibrad und hinterem Drehgestellrad schaffen
                              									bequem Platz für das Durchkriechen des Heizers zum inneren Triebwerk. Der hintere
                              									Teil des Plattenrahmens mit 28 mm Stärke ist hinter der Kuppelachse innen am 30
                              									mm-Hauptrahmen angenietet, wodurch für die hintere Adamsche Laufachse das nötige Spiel erreicht wird. Zum Heben der Maschine
                              									hat der Kessel mit dem Rahmen noch eine besondere Verbindung erhalten durch ein
                              									70 × 20 mm starkes Band, außerdem ist der Barrenrahmen an der vorderen Bufferbohle
                              									nach amerikanischem Muster durch zwei kräftige Rundeisenstreben gegen die
                              									Rauchkammer abgesteift. Da neuerdings die Barrenrahmen aus gewalzten Platten
                              									hergestellt und die Rahmenausschnitte autogen ausgebrannt werden können, so dürfte
                              									sich die Anwendung eines durchgehenden Barrenrahmens für diese Maschine ohne
                              									Mehrkosten empfehlen.
                           Die Tragfedern der Kuppelachsen sind mit 13 Lagen 1200 mm lang, die zwei Federn des
                              									Drehgestells hannoverscher Bauart sind bei 21 Lagen 1300 mm lang; die hintere
                              									Laufachse hat infolge der hohen Belastung von ebenfalls 16,5 t außer den Blattfedern
                              									von 1100 mm Länge in den Stützen noch besondere Schraubenfedern erhalten. Die langen
                              									Gehängeschrauben der Treibachsen haben keine besondere Führung; beide Treibachsen
                              									sind durch Ausgleichhebel verbunden, die hintere Laufachse mit der Kuppelachse durch
                              									Winkelhebel und Verbindungsstange; das abgefederte Gewicht des ganzen
                              									Lokomotivkörpers ist also in drei Punkten getragen.
                           Bremse. Die Luftdruckbremse, Bauart Westinghouse, Hannover, wirkt nach Fig. 34 durch zwei vor der Treibachse senkrecht
                              									angebrachte Bremszylinder auf die beiderseitigen Bremsklötze der Kuppelräder und auf
                              									die hinteren Bremsklötze der Laufräder derart, daß der linke 13zöllige Zylinder die
                              									sechs hinten anliegenden, der rechte 10zöllige Zylinder die vier vorn anliegenden
                              									Bremsklötze betätigt. Die Bremstraverse der Laufachse wird in den Krümmungen von
                              									einem am Achsbuchsgehäuse, befestigten Bügel mitgenommen. Von dem vollen
                              									Reibungsgewicht der beiden Kuppelachsen werden 70 v. H. abgebremst, von dem
                              									Schienendruck der hinteren Laufachse 45 v. H. Das vordere Drehgestell wird nach dem
                              									Vorgehen einer Reihe von Auslandsbahnen hier erstmalig ebenfalls gebremst durch
                              									einen auf vier Bremsklötze wirkenden 10zölligen Bremszylinder.
                           Das sehr kräftig gebaute, geräumige Führerhaus mit
                              									geraden Vorderwänden hat zur Einhaltung des Umgrenzungsprofiles ein stark gewölbtes
                              									Dach und etwas abgeschrägte obere Seitenwände erhalten. Die Verteilung der Armaturen
                              									am Kessel und die Anbringung der Manometer auf einer gemeinsamen Platte ist sehr
                              									übersichtlich. Es sind vorhanden: ein Manometer für Kesseldruck (14 at), eines für
                              									Hochdruck-Schieberkasten und eines für den Verbinder, sowie die übrigen Manometer
                              									für Bremse und Dampfheizung. Die Friedmann-Schmierpresse mit sechs Oelabgaben und Vorwärmung sitzt links und
                              									erhält ihren Antrieb von der hinteren Kuppelachse. Rechts sitzt ein
                              									Geschwindigkeitsmesser für 110 km der Deutschen
                                 										Tachometerwerke, angetrieben von der hinteren Laufachse mit
                              									Flacheisenbügel. Der Zylinderventilzug mit Händel und Klinke sitzt rechts an der
                              									Führerhaus-Seitenwand.
                           Die Plattform ist über den Rädern angeordnet und bis an
                              									die Kesselbekleidung herangeführt. Durch das Absetzen der Plattformbreite von 3 m am
                              									Führerhaus auf 2,5 m über der Treibachse ergibt sich beim Steuerwellenhebel ein
                              									recht schmaler Laufsteg von nur 120 mm, es würde sich daher empfehlen, die Plattform
                              									auf 3 m gerade durchzuführen (Grundriß von Fig. 30),
                              									dadurch könnte das Einziehen des Gleitstangenträgers wegfallen. An Stelle des 65 mm
                              									hohen Gurtwinkels wäre besser ein ungleichschenkliges Winkeleisen 100 × 65 × 9
                              									anzubringen, die Zugstange des Zylinderventilzuges könnte dann ganz verdeckt innen
                              									am senkrechten Schenkel angebracht werden.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 326, S. 117
                              Fig. 35.
                              
                           Bezüglich der Verteilung der Ziehbänder an der Bekleidung des Rundkessels gilt hier
                              									das schon früher Gesagte. Der Raum zwischen dem hintersten und vordersten Band kann
                              									mit vier Bändern bequem in drei gleiche Felder abgeteilt werden, wobei Dom und
                              									Sandkasten entsprechend zu versetzen sind auf die Mitte zwischen je zwei Bänder. –
                              									Der Sandstreuer, Bauart Knorr, wirkt von vorn auf beide
                              									Kuppelräder. Auf sorgfältige Schmierung aller bewegten Teile ist auch bei dieser
                              									Maschine besonderer Wert gelegt. Um dem Personal den Ausblick durch die
                              									Vorderfenster dauernd zu erhalten, trägt der Schornstein zur Hochführung des
                              									Auspuffes einen abnehmbaren Aufbau.
                           Der Tender (Fig. 35) hat
                              									eine von der sonst üblichen stark abweichende Bauart. Er ist mit 64 t Dienstgewicht
                              									der schwerste europäische Tender und hat zum Befahren der 254 km langen Strecke
                              									Berlin-Hannover ohne Anhalten einen Wasserkasten von 31 cbm Fassungsraum und einen
                              									mittleren Aufbau für 1½ t Kohlenladung. Die beidseitig gebremsten Tenderräder laufen
                              									in zwei Drehgestellen mit Rahmen aus Preßblechen. Zur Wasserentnahme dienen zwei am
                              									tiefliegenden Wasserkastenboden angenietete Blechtröge von 300 mm Breite und 2,8 m
                              									Länge, so daß der gesamte Wasservorrat verbraucht werden kann. Tenderkupplung,
                              									Bufferbohle und sonstige Ausrüstungen entsprechen den üblichen Normalien der
                              									preußischen Staatsbahnen.
                           Die gewaltigen Abmessungen gaben der ganzen Maschine ein imposantes Aussehen; der
                              									Anstrich war der preußische; Triebwerk, Steuerung und Handstangen, ebenso die am
                              									Kessel entlang führenden Rohre waren blank, Buffer schwarz gestrichen, Bufferstangen
                              									gebläut; der Ausstellungszustand war vorzüglich. An der gegenüberliegenden Wand
                              									hatte die Baufirma noch eine Reihe von Photographien der in den letzten Jahren
                              									gelieferten Exportlokomotiven sehr wirksam zur Schau gebracht.
                           Leistungen. Die hier beschriebene Lokomotive eignet sich
                              									ganz besonders für schnellfahrende Züge im flachen Gelände und wird daher meistens
                              									zur Beförderung der D-Züge Berlin–Hannover–Köln und Berlin–Hamburg benutzt. Die
                              									Strecke Hannover–Berlin, Zoologischer Garten mit einer Länge von 245 km wird von dem
                              									schnellsten Zug D 25 ohne Anhalten in 191 Minuten zurückgelegt, was einer
                              									Reisegeschwindigkeit von nur 78 km/Std. entspricht, weil einige Zwischenstationen mit
                              									lebhaftem Verkehr und eine Steigung von 7 v. H. bei Spandau mit geringer
                              									Geschwindigkeit befahren werden müssen. Die Dauergeschwindigkeit auf der freien
                              									Strecke beträgt dem Bauprogramm entsprechend etwa 85 km/Std. Nimmt man für die schwersten Züge
                              									die höchste zulässige Zugbelastung an zu 450 t ausschließlich dem Gewicht G von Lokomotive und Tender, welches 139 t beträgt, so
                              									ergeben sich folgende Zugwiderstände:
                           a) für die Lokomotive mit Tender nach StrahlOrgan für die Fortschritte des Eisenbahnwesens
                                    											1908, S. 322.
                           
                              W_1=2,5+0,067\,.\,\left(\frac{V}{10}\right)^2+\left(a+0,116\,.\,\frac{V}{D}\right)\,.\,\frac{Q_a}{G},
                              
                           wobei der Faktor a für
                              									B-Lokomotiven zu 2,5 eingesetzt wird.
                           
                              W_1=2,5+0,067\,.\,\left(\frac{85}{10}\right)^2+\left(2,5+0,116\,.\,\frac{85}{1,98}\right)\,.\,\frac{33}{139},
                              
                           W1 =
                              									7,35 + 1,77 = 9,1 kg/t,
                           also W1 = 9,1 • 139 = 1265 kg.
                           Die für diesen Eigenwiderstand der Lokomotive erforderliche
                              									Leistung beträgt
                           
                              N_l=\frac{1265\,.\,85}{270}=400\mbox{ PS.}
                              
                           Der Widerstand für den Wagenzug ist nach FrankZ. V. D. I.
                                    											1907, S. 96.
                           
                              W_w=2,5+0,03\,.\,\left(\frac{V}{10}\right)^2
                              
                           
                              W_w=2,5+0,03\,.\,\left(\frac{85}{10}\right)^2=4,67\mbox{ kg/t,}
                              
                           also Ww = 4,67 • 450 = 2100 kg.
                           Leistung N_w=\frac{2100\,.\,85}{270}=660\mbox{
                                 										PS.}
                           Die erforderliche Zugkraft für den ganzen Zug beträgt also
                           Z = 1265 + 2100 = 3365 kg
                           
                           und die Gesamtleistung
                           
                              N=\frac{3365\,.\,85}{270}=1060\mbox{ PS.}
                              
                           Der kommerzielle Wirkungsgrad beträgt
                           
                              \eta=\frac{N_w}{N}=\frac{660}{1060}=0,62.
                              
                           Die Leistung von nur 1060 PS steht hinter der vom Kessel
                              									verfügbaren sehr weit zurück, und zwar um
                           1520 – 1060 = 460 PS!
                           Für die 2B-Heißdampf-Zwillingslokomotive errechnet man unter den gleichen
                              									Verhältnissen für diesen Zug eine Leistung von 990 PS, die vom Kessel dauernd
                              									hergegebene zu 1100 PS. Daraus ergibt sich, daß die um 29 t leichtere und um
                              									rund 25000 M billigere 2B-Heißdampf-Zwillingslokomotive Gattung S 6 für die
                              									Beförderung der schwersten Züge bei der auf dieser Strecke üblichen Geschwindigkeit
                              									vollkommen ausreicht.
                           Es ist daher leicht begreiflich, daß die gewaltige Vierzylinderlokomotive es
                              									ermöglicht, alle Verspätungen einzuholen, denn sie ist noch lange nicht bis an die
                              									ihren Abmessungen und ihrem Verbrauch entsprechende Leistungsgrenze angestrengt.
                              									Unbegreiflich erscheint es aber, daß eine so schwere und teure Lokomotive für die
                              									auf genannter Strecke noch verhältnismäßig kleine Leistung benutzt bezw. überhaupt
                              									gebaut wird.
                           
                              
                                 (Fortsetzung folgt.)