| Titel: | Die Entwicklung der technischen Physik in den letzten 20 Jahren. | 
| Autor: | W. Hort | 
| Fundstelle: | Band 331, Jahrgang 1916, S. 246 | 
| Download: | XML | 
                     
                        Die Entwicklung der technischen Physik in den
                           								letzten 20 Jahren.
                        Von Ingenieur Dr. W. Hort, Berlin-Siemensstadt.
                        HORT: Die Entwicklung der technischen Physik in den letzten 20
                           								Jahren.
                        
                     
                        
                           I. Einleitung.
                           An den deutschen technischen Hochschulen bestanden bis etwa zur Wende des 19.
                              									Jahrhunderts Vorlesungen über „Theoretische Maschinenlehre“, die man heute in
                              									den Vorlesungsverzeichnissen nicht mehr vorfindet.
                           Diese Vorlesungen wurden zu ziemlich verschiedenen Zeiten abgeschafft. So bestanden
                              									sie z.B. in Braunschweig bis 1891, in Aachen bis 1906.
                           Ihr Inhalt ist zum Teil in den besonderen Konstruktionsvorlesungen, zum Teil im
                              									Lehrstoff der Maschinenlaboratorien, zum Teil in den Vorlesungen über technische
                              									Mechanik und Thermodynamik aufgegangen.
                           Damit ist ein Unterrichtsfach dem Zwange zur Spezialisierung zum Opfer gefallen, das
                              									früher im Hochschulstudium der Maschineningenieure einen breiten Raum einnahm und
                              									dem drei hervorragende Ingenieure und technische Lehrer der älteren Zeit, Redtenbacher, Weisbach und Grashof, berühmte und viel benutzte Lehrbücher gewidmet haben.Redtenbacher,
                                    											Maschinenbau. 3 Bände. Mannheim 1862 bis 1865.Grashof, Theoretische Maschinenlehre. 1875.Weisbach, Lehrbuch der Ingenieur- und
                                    											Maschinenmechanik. 1. A. 1850/51. 5. A. 1875/87.
                           Es würde von besonderem Reiz sein, diese Werke, die das Jünglingsalter der werdenden
                              									deutschen Maschinenindustrie begleitet haben, auf ihre Wirksamkeit und ihre
                              									gegenseitigen sehr verschiedenen Standpunkte zu untersuchen, z.B. hinsichtlich der
                              									mathematischen Hilfsmittel, die sie benutzen. Während z.B. Weisbach die Heranziehung von Differentialgleichungen auch aller
                              									einfachster Art streng vermeidet, benutzen Redtenbacher
                              									und Grashof gewöhnliche und partielle
                              									Differentialgleichungen und die mit ihnen zusammenhängenden Begriffsbildungen in
                              									freiester Weise.
                           Nach dem Verschwinden der theoretischen Maschinenlehre blieb die technische
                              									Mechanik mit der Thermodynamik als theoretisches Unterrichtsgebiet allein übrig und
                              									befestigte und erweiterte ihre Stellung durch Aufnahme einzelner Stoffe des
                              									abgetanen Faches. Sie erfuhr dadurch und durch die starke Vermehrung des
                              									Wissenstoffes im Laufe der Zeit eine solche Abrundung, daß man sie heute gern in
                              									drei Abteilungen spaltet: Die eigentliche technische Mechanik (starrer Körper), die
                              									Hydrodynamik und die Elastizitäts- und Festigkeitslehre, zu denen sich noch die
                              									Thermodynamik gesellt.
                           Es handelt sich hiernach um ein Lehrgebiet, das dem Gebiete der Physik durchaus
                              									gleichgeartet ist, und für das von neueren Autoren (z.B. H. Lorenz)H. Lorenz, Lehrbuch der technischen Physik. 4 Bde.
                                    											1902 bis 1913. eine dementsprechende Bezeichnung nämlich
                              										„Technische Physik“ angenommen worden ist. Zweifellos wird diese so neu
                              									organisierte technische Wissenschaft sich im Laufe der Zeit auch die technische
                              									Elektrizitätslehre und die technische Optik angliedern, womit der Kreis nach dem
                              									Vorbilde der theoretischen Physik geschlossen wäre.
                           Wie schon oben angedeutet, hat diese Wissenschaft etwa seit dem Verschwinden der
                              									theoretischen Maschinenlehre eine kräftige Entwicklung durchgemacht, die Sommerfeld auf der Naturforscher-Versammlung in
                              										CasselPhysikalische
                                    											Zeitschrift 4. Jahrgang 1903 S. 773. 1903, wie mir scheint, mit
                              									Recht charakterisiert als Sicherstellung der experimentellen
                                 										Grundlagen und Ausbildung schärferer theoretischer Methoden.
                           Ueber den Wert der theoretischen Methoden, die, wie wir gleich bemerken wollen, die
                              									Mathematik liefert, und ihre Bedeutung für den Ingenieur, ist man zu verschiedenen
                              									Zeiten verschiedener Meinung gewesen, sowohl hinsichtlich des Maßes der wünschenswerten
                              									Kenntnisse, als auch hinsichtlich der Unterrichtsmethode. Bezeichnend hierfür ist
                              									die Tatsache, daß vor etwa 20 Jahren der Vorschlag gemacht wurde, an der Hochschule
                              									lediglich Elementarmathematik zu lehren, während demgegenüber Bestrebungen zu
                              									verzeichnen waren, die Differential- und Integralrechnung der Mittelschule zu
                              									überweisen, so daß die Hochschule Zeit für die Erörterung schwierigerer Fragen
                              									gewönne.
                           Die Mathematische Wissenschaft hat gegenüber den Anwendungsgebieten der
                              									Naturwissenschaft und Technik eine eigenartige Stellung: Man braucht sie notwendig
                              									und verlangt von ihr, daß sie den Anwendungen keine Schwierigkeiten biete.
                           Bis etwa zum Jahre 1800 und noch etwas darüber hinaus knüpfte man an die Tragweite
                              									der Mathematik die kühnsten Erwartungen. Es war in der Astronomie gelungen, durch
                              									Rechnung auf Grund des NewtonschenJ. Newton,
                                    											Philosophiae naturalis principia mathematica. 1687.
                              									Gravitationsgesetzes die Bahnen der Planeten mit einer Genauigkeit festzulegen, die
                              									größer war als die Sicherheit der Beobachtungen; in der Physik hatte die SchwingungstheorieD'Alembert. Mém. Ac. Berl. 1747 S. 214, 220.;
                                    											Mém. Ac. Berl. 1750 S. 359. – Euler, Mém. Ac.
                                    											Berl. 1749 S. 69.D. Bernoulli. Mém. Ac.
                                    											Berl. 1753 S. 147.Lagrange. Misc. Taur. T.
                                    											I, II, III. gespannter Saiten, die mathematische Untersuchung der
                              										Schallvorgänge,S. D.
                                    												Poisson. Journ. éc. polyt. 1808 (H. 14). – S.
                                    											D. Poisson. Mém. de l'Acad. 3 (1819). – Laplace. Conn. des temps pour 1823
                                    										(1820). die FourierscheFourier. Théorie
                                    											analytique de la chaleur 1822.
                              									Wärmeleitungstheorie, die Behandlung elektrischer
                              									Vorgänge mit Hilfe des PotentialesLaplace. (1782)
                                    											Oeuvres Bd. 10 S. 302. – S. D. Poisson. Nouveau
                                    											bull. philom. 3 (1813). – C. F. Gauss. Allg.
                                    											Lehrsätze über Anziehungs- und Abstoßungskräfte (1840). sowie die
                              									Anfänge einer exakten LichttheorieFresnel.
                                    											(1788–1827.) Oeuvres complètes. 3 Bde. 1866–1870 so schöne
                              									Ergebnisse geliefert, daß man der Meinung sein konnte, die damaligen mathematischen
                              									Hilfsmittel würden bald zu einer universellen Beschreibung der Naturerscheinungen
                              									führen. Schon Laplace hatte dieser Idee Ausdruck
                              									verliehen durch die Forderung der Darstellung des Weltprozesses durch eine einzige
                              									ungeheure Differentialgleichung.
                           Wir wissen heute, warum sich diese Hoffnung bei weitem nicht erfüllt hat. Einerseits
                              									liegt die Ursache dieses Fehlschlages darin, daß man sich über den allgemeinen
                              									Charakter der Naturerscheinungen nicht im klaren war, andererseits daran, daß man
                              									die Mächtigkeit der damaligen Hilfsmittel der Mathematik überschätzte.
                           Es mag heute wohl nur noch wenige Naturforscher geben, die der Meinung sind, daß alle
                              									Naturvorgänge einfach seien; vor etwa 90 Jahren war dies die herrschende Ansicht.
                              									Gewiß gibt es eine Anzahl von einfach zu formulierenden Tatsachen, die, frühzeitig
                              									erkannt, heute mehr oder weniger zum Gemeingut der Gebildeten gehören. Je
                              									schärfer aber die Beobachtungsmittel ausgebildet werden, um so mehr machen sich
                              									neben den allgemein gültigen Gesetzen Nebenerscheinungen bemerkbar, die die
                              									Allgemeingültigkeit beschränken und immer von neuem zu Verbesserungen an dem Aufbau
                              									der Naturerkenntnis nötigen.
                           In ähnlicher Weise verlief die Entwicklung der Technik: Die Bauwerke des Altertums,
                              									die Bergwerksmaschinen des Mittelalters, die Mechanismen von Leonardo da VinciLeonardo da Vinci. (1452–1519.) Besprechung einer Reihe seiner
                                    											Mechanismen. Z. d. V. d. I. 1906 S. 524. waren einfach gegenüber
                              									den Leistungen der neueren Zeit. Die Konstruktionen sind seitdem kühner und die
                              									Geschwindigkeiten sind größer, die Energiewirtschaft ist schwieriger geworden. Diese
                              									Umwandlung hat zur Folge gehabt, daß die Berechnungs- und Konstruktionsmethoden
                              									immer feiner ausgebaut und immer neue, ursprünglich naturwissenschaftliche
                              									Disziplinen zum Rüstzeug des Ingenieurs geschlagen wurden.
                           Bei diesem Entwicklungsgange hat die Ingenieurwissenschaft der Mitwirkung der
                              									Mathematik mehr entraten müssen als die Physik.
                           Als sich am Ende des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts zeigte, daß die
                              									mathematischen Hilfsmittel beim Versuche der Anwendung mehr und mehr versagten,
                              									gingen die Mathematiker an den weiteren Ausbau ihrer Wissenschaft. Es beginnt eine
                              									etwa bis zum Anfange des 20. Jahrhunderts dauernde Periode der abstrakten, den
                              									Anwendungen fernstehenden Mathematik. Benutzt wurde diese Zeit einer 80-jährigen
                              									Entwicklung in erster Linie zu einem weitverzweigten Ausbau der Funktionentheorie und der Differentialgleichungen; im Zusammenhange mit den letzteren wurden die
                              									sogenannten RandwertproblemeZur Erklärung des Begriffs: Randwertaufgabe
                                    											möge folgendes Beispiel dienen. Es ist bekannt, daß man in der
                                    											Biegungstheorie des Balkens eine Differentialgleichung ableitet, der die
                                    											Durchbiegungen y (in Abhängigkeit von der Lage
                                    												x des betrachteten Querschnitts) genügen
                                    											müssen. Um nun y zu finden, ist es nicht
                                    											ausreichend, die Differentialgleichung allgemein zu integrieren, sondern
                                    											unter den unendlich vielen allgemeinen Lösungen der Differentialgleichung
                                    											muß diejenige aufgesucht werden, welche die durch die Unterstützung oder
                                    											Einspannung des Balkens, also an seinen Enden, vorgeschriebenen Werte von
                                    												y (oder auch von
                                    												\frac{dy}{dx}) liefert. Wenn also schließlich y = f (x) als Lösung der Biegungsaufgabe gefunden ist,
                                    											so muß diese Lösung 1. die Differentialgleichung der elastischen Linie
                                    											befriedigen und 2. muß f (x) oder f' (x) an den Enden des Balkens (für x = o und x = l) Werte
                                    											annehmen, die bei der Stellung der Aufgabe vorzuschreiben sind Ganz ähnlich
                                    											liegt die Sache z.B. bei der Biegung einer Platte. Auch hier ist eine
                                    											Differentialgleichung so zu integrieren, daß die Lösung am Rande der Platte vorgeschriebene Werte annimmt.
                                    											Von hier ist die Bezeichnung „Randwertaufgabe“ entstanden. Nur denkt
                                    											man, wenn man von einem Rande spricht, mehr an eine Fläche, die am Rande
                                    											begrenzt wird. Tatsächlich aber umfaßt die Bezeichnung Randwertaufgabe auch
                                    											die Fälle, in welchen Werte einer Funktion an den Enden einer Linie (wie
                                    											beim Balken) oder auch auf der Begrenzungsfläche eines Raumes (wie beim
                                    											Potential einer Kugel) vorgeschrieben sind. bewältigt, die,
                              									zunächst für die Physik wichtig, neuerdings auch für den Ingenieur erweiterte Bedeutung gewinnen.
                              									Andererseits aber legten die Mathematiker in ihren Untersuchungen die Grundlagen
                              									ihrer Wissenschaft auf das Genaueste fest und schufen eine Strenge der logischen
                              									Beweisführung, die, wie man zugeben muß, von den Bedürfnissen der Ingenieure abseits
                              									liegt. Wenn aber auch die Verfahren der Existenz- und Konvergenzbeweise für die
                              									praktische Technik keine unmittelbare Bedeutung haben, so darf doch nicht übersehen
                              									werden, daß ohne diese scharfsinnigen Grundlegungen, die, um wenigstens einige
                              										NamenCauchy. Mémoire sur les intégrales définies prises entre des
                                    											limites imaginaires. 1825.Dirichlet.
                                    											Journ. f. Math. Bd. 4 S. 158. 1829.Riemann. a) Grundlagen für eine allgemeine Theorie der Funktionen
                                    											einer veränderlichen Größe. Göttingen 1851. b) Theorie der Abelschen Funktionen. Z. f. Math. Bd. 54.
                                    											1857.Weierstraß. a) Zur Theorie der
                                    											eindeutigen analytischen Funktionen. Abh. Berl. Acad. 1876. b) Ueber die
                                    											Theorie der analytischen Fakultäten. Z. f. Math. Bd. 51 1854.Fuchs. Zur Theorie der linearen
                                    											Differentialgleichungen. Z. f. Math. Bd. 66 (1866) 68 (1868). zu
                              									nennen, auf Cauchy, Dirichlet, Riemann, Weierstraß, Fuchs zurückgehen, das ganze Gebäude der modernen Präzisionsmathematik auf höchst unsicherem Grunde stehen
                              									würde; und wir wünschen doch, daß ein Teil dieses Gebäudes auch für die Anwendungen
                              									bewohnbar sei.
                           Nach dieser allgemeinen Würdigung der theoretischen Methoden, über die weiter unten
                              									im einzelnen zu sprechen sein wird, noch einige Worte über die experimentellen
                              									Grundlagen.
                           Physik und Technik sind beide Experimentalwissenschaften; sie unterscheiden sich aber
                              									in ihrer Stellung zum Experiment und bei der Frage nach dessen Benutzung
                              									wesentlich.
                           Die Physik betrachtet das Experiment als Selbstzweck und erblickt in einem Versuch,
                              									der ein anderes als das erwartete Ergebnis liefert, im allgemeinen keinen
                              									Mißerfolg.
                           Die Technik, die den Zwecken der Oekonomie dient, muß eine neue Maschine, die den
                              									Erwartungen nicht entspricht, als Fehlschlag betrachten. So kommt es, daß in einer
                              									allerdings verflossenen Zeit der technischen Entwicklung das technische
                              									Experimentieren wenigen großen Unternehmungen vorbehalten blieb, und im
                              									allgemeinen mehr als notwendiges Uebel betrachtet wurde. Wohl hat es stets
                              									weitblickende Ingenieure gegeben, die diesen Standpunkt nicht teilten; der Grundsatz
                              									bewußten und gewollten Experimentierens, der wenn nötig, die Kosten einer ganzen
                              									Reihe von Versuchen auf das Unkostenkonto schlägt, hat erst neuerdings bei den
                              									Untersuchungen der Industrie, und, was besonders wichtig ist, auf den technischen
                              									Unterrichtsanstalten allgemeinen Eingang gefunden.
                           Wir brauchen nur im allgemeinen auf die Ingenieurlaboratorien der Hoch- und
                              									Mittelschulen, auf die privaten Studiengesellschaften und die staatlichen
                              									Untersuchungsanstalten hinzuweisen, um deutlich zu machen, welche Entwicklung die
                              									Technik als Experimentalwissenschaft in den letzten Jahren genommen hat. Sie nähert
                              									sich damit dem Standpunkt der Physik, denn oft genug werden kostspielige technische
                              									Versuche angestellt oder weitergeführt, um die Gewißheit zu haben, ob und warum eine
                              									bestimmte Entwicklungsrichtung unwirtschaftlich oder überhaupt ungangbar ist. Ein
                              									besonderes aber ist der heutigen experimentierenden Technik eigen und bildet sich
                              									immer weiter aus: das sind die stetig fortgesetzten Messungen bei den technischen
                              									Betriebsvorgängen. Vom Manometer, vom Strom- und Spannungsmesser ist man zum
                              									Wasser-, Luft-, Gas-, Dampfverbrauchsmesser gekommen, wir haben Temperatur-,
                              									Geschwindigkeits-, Zug- und Leistungszeiger eingeführt. Im Zusammenhange damit ist
                              									die eigentliche MeßtechnikGramberg. Technische Messungen, insbesondere bei
                                    											Maschinenuntersuchungen. 1910. weit entwickelt worden, sie
                              									bedient sich in steigendem Maße aller der Meßverfahren, die die Physik für ihre mehr
                              									idealen als praktischen Zwecke seit langem mit größter Schärfe ausgebildet
                              										hatte.Kohlrausch. Lehrbuch der prakt. Physik. 1910.
                           Gehen wir nun zur eingehenderen Schilderung der Entwicklung der technischen Physik
                              									über, so wollen wir die oben angedeutete neuere Einteilung dieser Wissenschaft
                              									annehmen und nacheinander Mechanik, Elastizitäts- und Festigkeitslehre, Hydrodynamik, Thermodynamik,
                                 										Elektrizitätslehre und Optik betrachten.
                           
                              
                                 (Fortsetzung folgt.)