| Titel: | Kann sich die Erdrinde selbst tragen? | 
| Autor: | H. Baudisch | 
| Fundstelle: | Band 336, Jahrgang 1921, S. 292 | 
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                        Kann sich die Erdrinde selbst tragen?
                        von Prof. Dr. H. Baudisch,
                           									Wien.
                        BAUDISCH, Kann sich die Erdrinde selbst tragen?
                        
                     
                        
                           Wer je am Gestade des Vierwaldstättersees auf der herrlichen Axenstraße von
                              									Brunnen gen Flüelen wanderte, wird neben den sagenumsponnenen Wundern des
                              									Schweizerlandes gewiß auch die gewaltigen Gesteinsschichtungen bewundert haben, die
                              									an den Steilufern des Sees die Aufmerksamkeit des Wanderers auf sich lenken, und
                              									manch einem wird sich die Frage nach dem Woher derart prächtiger Verwerfungen
                              									aufgedrängt haben.
                           Die dynamische Geologie bietet eine Reihe von Erklärungen für solche
                              									Faltungserscheinungen der Gesteinsschichten, wie überhaupt für die Veränderungen,
                              									welchen die Erdrinde durch Erdbeben, vulkanische Erscheinungen usw. unterworfen ist.
                              									Kaum eine dieser Erklärungen scheint aber die Geologen auch heute noch restlos zu
                              									befriedigen.
                           Wenn aber angenommen wird, daß die Erdrinde nicht imstande sei sich selbst zu tragen,
                              									so erklären sich alle diese Erscheinungen ganz von selbst, da ja dann die Erdrinde
                              									nicht als feste „Eierschale,“ als Panzerhaut des feurig-flüssigen Erdkernes
                              									aufzufassen ist, sondern als auf diesem feurig-flüssigen Kern schwimmende, in sich
                              									selbst aber haltlose Masse. Die Erstarrungskruste wird dann den Erdkern nicht als
                              									Riesengewölbe umspannen, sondern durch ihr Eigengewicht das glühende Magma
                              									zusammenpressen, ähnlich wie die in einem Gummiballon eingeschlossene Luft von der
                              									Gummihülle zusammengepreßt wird. Bewegungen und chemische Vorgänge im
                              									feurig-flüssigen Kerne werden die Vulkane und Erdbeben dann ganz zwanglos erklären,
                              									Zusammenziehungen, wenn sie in Ruhe vor sich gehen, die eingangs erwähnten
                              									Faltungserscheinungen hervorrufen.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 336, S. 292
                              
                           Der Beweis, daß die Erdrinde nicht imstande ist, sich selbst zu tragen, ergibt sich
                              									aus folgender kleiner Rechnung: In nebenstehender Abb., welche einen Schnitt durch
                              									die Erdkugel nach einem Großkreise, z.B. nach einem Meridian, darstellt, bezeichne R
                              									= 6370 km den Halbmesser der Erde, r den mittleren Halbmesser der Erdrinde, δ
                              									hingegen die Dicke der Erstarrungskruste. Bezeichnet φ die geographische Breite, λ
                              									die geographische Länge eines Ortes, so rechnet sich eine Elementarfläche d F,
                              									gemessen auf der Kugel vom Halbmesser r zu
                           d F = r2 sin φ d λ d φ.
                           Das dieser Elementarfläche zugeordnete Gewicht des Krustenelementes, es ist in der
                              									Abb. durch Schraffur hervorgehoben, ergibt sich zu
                           d G = r2 δ γ sin φ d λ d φ,
                           soferne γ das mittlere spezifische Gewicht der Erdrinde
                              									darstellt. Jene Komponente von d G, welche die in der Aequatorebene A A liegende
                              									Ringfläche
                           F = 2 r π δ
                           belastet, rechnet sich zu
                           d P = r2 δ γ sin φ cos φ d λ d
                              									φ.
                           Der Integralwert
                           
                              P=\int\limits_{\varphi=0}^{\varphi=\frac{\pi}{2}}\,\int\limits_{\lambda=0}^{\lambda=2\,\pi}\
                                 										r^2\,\delta\,\gamma\,sin\,\varphi\,cos\,\varphi\,d\,\lambda\,d\,\varphi=r^2\,\pi\,\delta\,\gamma
                              
                           stellt die Gesamtbelastung dar, welche besagte Ringfläche F
                              									erleiden muß.
                           Zu ganz demselben Werte P käme man auch, wenn man in Anlehnung an den Guericke'schen Versuch mit den Magdeburger Halbkugeln die
                              									zwei Schalenhälften der Erdrinde, jedoch nicht wie dort durch den Luftdruck, sondern
                              									durch die Schwerkraft zusammengepreßt denkt, welche pro Flächenelement der
                              									Projektionsfläche r2 π eine Belastung δ γ ergibt.
                              									Man erhält als Gesamtbelastung P wieder das Gewicht einer Erdscheibe von der Dicke
                              									δ, dem Halbmesser r.
                           Die Druckbeanspruchung, welche in der Erdrinde auftreten müßte, soll sie sich selbst
                              									tragen, ermittelt sich zu
                           
                              k=\frac{P}{F}=\frac{r^2\,\pi\,\delta\,\gamma}{2\,r\,\pi\,\delta}=\frac{r\,\gamma}{2}
                              
                           Beträgt z.B. das mittlere spezifische Gewicht der Erdrinde γ = 2500 kg/m3, beträgt die Dicke der
                              									Erdrinde δ = 300 km, so ergibt sich mit
                           r=R-\frac{\delta}{2}=6370-\frac{300}{2}=6220 km 
                           ein Wert
                           k=\frac{6220000\,\times\,2500}{2}=7775000000\mbox{
                                 										kg/m}^2=777500\mbox{ kg/cm}^2.
                           Dieser Wert liegt weit über der Bruchfestigkeit, die den Materialien der Erdrinde
                              									zukommt. Selbst bei sehr festen Materialien kann die Bruchfestigkeit nicht über 2000
                              									bis 3000 kg/cm2 angenommen werden. Da diese Zahlen gegenüber dem
                              									Werte 777500 verschwinden, so ist daraus ersichtlich, daß sich die Erdrinde auch
                              									nicht entfernt selbst tragen kann. Die Erstarrungskruste ist vielmehr als eine mehr
                              									oder weniger plastische Masse anzusehen, welche das Magma allseitig belastet. Der
                              									große Unterschied zwischen den Festigkeitsziffern von 2000 bis 3000 kg/cm2 und der Beanspruchung von 777500 kg/cm2 läßt der Erdrinde in bezug auf die Abmessungen
                              									der Erde keine größere Festigkeit zukommen, als vielleicht der Butterschichte auf
                              									einem Butterbrot.
                           An diesem Ergebnis ändert sich im Wesen auch nichts, wenn, wie dies ja richtiger
                              									wäre, mit zunehmender Tiefe eine Ermäßigung der Erdbeschleunigung berücksichtigt
                              									würde, oder wenn die Annahmen über δ und γ als nicht ganz zutreffend angesehen
                              									werden sollten.
                           Auch die Tatsache, daß die Vulkane in der Nähe des Meeres, besonders am Rande von
                              									Steilküsten mit Vorliebe auftreten – siehe die Ostküste Amerikas – läßt sich nach
                              									Obigem ganz zwanglos erklären, erfährt doch die Erdkruste, sofern nur Luft darüber
                              									gelagert ist, eine Belastung von 10000 kg/m2 durch
                              									den Luftdruck; lastet dagegen außerdem, sagen wir eine mittlere Wasserschichte von
                              									1000 m darüber, so steigert sich diese Belastung auf
                           10000 + 100 × 10000 = 1010000 kg/m2.
                           Der Belastungssprung wird um so auffallender, je steiler die Küste zum Meere abfällt.
                              									Daher an Steilküsten immer eine gewisse Labilität der Festigkeit des
                              									Erdenpanzers zu gewärtigen, welche nur zu leicht zu vulkanischen Erscheinungen,
                              									sowie zu Erdbeben führen kann.
                           So verlockend es wäre, aus obigen Rechnungsergebnissen Schlüsse auf die Möglichkeit
                              									einer etwaigen Wiederkehr des azoϊschen Zeitalters zu ziehen – ist doch die
                              									Erdkruste nichts weniger als „fest,“ kann sie doch jederzeit auch heute noch
                              									zertrümmert werden – so mögen diese Untersuchungen doch den Geologen überlassen
                              									werden.
                           Dennoch soll an einem anschaulichen Beispiel die geringe Festigkeit der Erde vor
                              									Augen geführt werden: Greifen wir zurück in die Sagen- und Götterwelt des Altertums,
                              									und leihen wir uns einen der Titanen aus, welche das Weltall zu tragen vermögen.
                              									Veranlassen wir denselben, den Mond auf die Erde zu legen! Ganz sachte, so daß die
                              									beiden Kugeln nur durch ihre Anziehungskraft aneinander gedrückt werden. Was wird
                              									geschehen? Die Erde wird sich, ebenso wie der Mond, gleich einer plastischen
                              									Tonkugel an der Berührungsstelle abplatten, und beide werden als breiige Massen in
                              									einander – überrinnen, so daß eine einzige größere Kugel daraus wird. Die Erde
                              									verschluckt den Mond! Für die Menschheit wäre es allerdings die Vernichtung, und
                              									neues, völlig neues Leben, es müßte aus den Trümmern, die dieser Versuch
                              									verursachte, erst nach Jahrtausenden erblühen; die heutige Menschheit, sie würde zu
                              									einem Leitfossil! An diesem Ergebnisse würde sich auch nichts ändern, wenn Erde wie
                              									Mond bereits ganz erstarrt wären.