| Titel: | Die Entwicklung der chemischen Großindustrie seit hundert Jahren. | 
| Autor: | Landgraeber | 
| Fundstelle: | Band 341, Jahrgang 1926, S. 71 | 
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                        Die Entwicklung der chemischen Großindustrie seit
                           								hundert Jahren.
                        Von Bergwerksdirektor Landgraeber.
                        LANDGRAEBER, Die Entwicklung der chemischen
                           								Großindustrie.
                        
                     
                        
                           Es sind nunmehr etwa 100 Jahre verflossen, seitdem die erste Fabrik errichtet
                              									wurde, aus der sich gewissermaßen die chemische Großindustrie entwickelte. In dieser
                              									Fabrik wurde künstliche Soda hergestellt: Diese Tatsache ist nach dem Urteil
                              									erfahrener Fachleute als die Grundlage aller Chemischen Fabriktätigkeit anzusehen.
                              									Seine Durchführung wird als die der mächtig emporgeblühten Chemischen Großindustrie
                              									bezeichnet, aus der schließlich alles andere herausgewachsen ist. Eine Skizzierung
                              									der Grundzüge dürfte deshalb angebracht sein.
                           Die gesamte Industrie bis in den kleinsten Haushalt benötigt Soda. In großen Mengen
                              									findet sie Verwendung in der Seifensiederei. (Liebig hat einmal gesagt, an dem
                              									Verbrauch der Seife lasse sich die Kulturhöhe eines Volkes beurteilen.) Zur
                              									Herstellung von Glas, Papier, Textilfasern, Farbstoffen, pharmazeutischen
                              									Erzeugnissen, in der Metallurgie und zu unendlich vielen chemischen Präparaten ist
                              									sie unentbehrlich. Sie ist demnach ein Salz von allgemeinster Verwertbarkeit.
                           Ursprünglich wurde die Soda durch Auslaugen von Strandgewächsen gewonnen. Natürliche
                              									Sodalager kommen in mehreren Erdteilen allenthalben vor. Neuerdings sind riesige
                              									Lagerstätten am Unterlauf des Tadusflusses in Indien aufgefunden worden. Hier
                              									entsteht das geschätzte Material durch Verdunsten von sodahaltigen Bergwässern in
                              									Salzseen mit undurchlässigen Bodenschichten. Die Maghadi-Soda-A.-G. insonderheit
                              									ihre Nachfolgerin die Brunner, Mand & Co. Soda-A. G. sind an die Ausbeutung in
                              									großzügiger Weise herangetreten. Diese Gesellschaft besitzt außerdem noch das größte
                              									natürliche Sodalager der Welt. Es befindet sich in Ostafrika am Maghadi-Salzsee
                              									zwischen Kilimandscharo und Viktoria-See. Seine Höffigkeit wird auf mehr als 100
                              									Milliarden Kilogramm geschätzt. Der Flächenraum der Lagerstätte hat eine Ausdehnung
                              									von etwa 50000000 qkm. Auch in Mexiko befinden sich Seen, in denen Soda in
                              									natürlichem Zustande kristallisiert. Ferner kommt es in der Ebene von Debreczin in
                              									Ungarn vor, wo sich während der heißen Jahreszeit das ganze Gebiet mit blendend
                              									weißen Kristallen bedeckt. In anderen Gebieten wird sie direkt aus der Erde
                              									gegraben. Mit zunehmender Industriealisierung reichte jedoch die Ausbeutung aus den
                              									damals bekannten Vorkommen nicht mehr aus, um den Bedarf zu decken.
                           Vor 100 Jahren war die Zeit gekommen, wo man an die Herstellung im Großbetriebe
                              									denken mußte. Nikolaus Leblanc, ein französischer Arzt, faßte zuerst den Entschluß,
                              									dieses unentbehrliche Produkt aus Kochsalz, das in der Natur und in jedem Lande in
                              									unerschöpflichen Mengen vorkommt, herzustellen. Damals erschien diese Aufgabe wegen
                              									der starken im Kochsalz enthaltenen Salzsäure fast unlösbar. Die französische
                              									Akademie setzte sogar ein Preisausschreiben deswegen aus. Leblanc gelang die
                              									geistvolle Erfindung. Er behandelte festes Kochsalz mit Schwefelsäure und erhielt
                              									Salzsäure und Glaubersalz. Letzteres mit Kohle oder Kreide oder Kalk vermischt und
                              									geglüht, setzt sich zu Soda und Natriumsulfid um. Beide werden in Wasser gelöst. Das
                              									Sulfid ist unlöslich. Die gelöste Soda wird ausgelaugt. Aus der wässerigen Lauge
                              									kristallisiert durch Abdampfen reine Soda aus. Die erste größere Sodafabrik nach den
                              									Leblancverfahren wurde in England in Betrieb genommen. Leblanc selbst hatte nur eine
                              									kleine Versuchsanstalt.
                           Dieses geniale Verfahren breitete sich über die ganze Erde aus, wo nur Industrie
                              									vorhanden war. Die erste Leblanc-Sodafabrik in Deutschland wurde im Jahre 1828 in
                              									Schönebeck errichtet. Nach einem Vierteljahrhundert betrug die nach dem
                              									Leblanc-Prozeß erzeugte Sodamenge mehr als 300000000 kg.
                           Große Sorgen bereitete die Verwertung der Abfallprodukte. Vor allem waren es die
                              									großen Mengen Salzsäure und Kalciumsulfid, für die damals wegen der schwierigen
                              									Transportverhältnisse nur sehr geringer Absatz vorhanden war. Gerade dieser Umstand
                              									veranlaßte die chemische Großindustrie, gewissermaßen zwangläufig immer neue
                              									Erfahren zu ersinnen, um die damals recht lästigen Nebenprodukte zu verwerten. Es
                              									wurde zunächst der Chlorkalk als Umwandlungsprodukt der Salzsäure und mit ihm
                              									das Chlor mit seinen wertvollen. Eigenschaften als Bleichmittel in der Papier- und
                              									Textilindustrie entdeckt. Es folgen alsdann immer neue Verbesserungen, auf die hier
                              									nicht weiter eingegangen werden kann. Somit ist aus dem Leblanc-Verfahren heraus die
                              									chemische Großindustrie bzw. sind die damit engverbundenen Arbeitsverfahren
                              									entstanden.
                           Leider erntete der geniale Erfinder und Begründer dieser Industrie nicht den Erfolg
                              									seines unermüdlichen Schaffens. Die Mitwelt versuchte ihm nach besten Kräften
                              									Schwierigkeiten in den Weg zu legen. Ihm erging es wie vielen anderen Erfindern. Die
                              									Franzosesn bestreiten auch heute noch entschieden die Verdienste Leblancs und
                              									behaupten, Leblanc habe einen gewissen Dize um die Erfindung der Sodaherstellung
                              									gebracht. Dem großen Begründer der Chemischen Industrie wurde damals die Zuerkennung
                              									des von der Akademie ausgesetzten Preises verweigert. Niemand interessierte sich für
                              									seine Erfindung. Er starb im Jahre 1806 an Leib und Seele gebrochen im
                              									Armenhause.
                           Eine glücklichere Hand in der Ausnützung seiner Erfindungen hatte der Belgier Ernst
                              									Solvay, der Begründer des jetzigen Sodamonopols. Er setzte an die Stelle des
                              									Leblanc-Verfahrens das nach ihm benannte Ammoniakverfahren.
                           Die eigentlichen Erfinder des Ammoniaksodaprozesses sind Dynar und Wennering (1838).
                              									Praktischen Wert erhielt er aber erst durch Solvay. Er mußte mit der Durchsetzung
                              									seines Verfahrens einen unerbittlichen Kampf gegen die Leblanc-Soda führen, deren
                              									Fabrikation sich in England, nachdem die französische Industrie, wie gesagt, das
                              									Verfahren hatte unbeachtet liegen lassen, zur vollen Blüte entwickelt hatte. Er
                              									setzte sich mit außerordentlicher Energie durch und verschaffte sich einen
                              									unbestrittenen Sieg. Mit diesem Erfolg trat die chemische Industrie wiederum an eine
                              									neue Art des Aufstieges.
                           Es war in Deutschland, wo das Ringen am heftigsten tobte, dafür entfaltete sich aber
                              									die junge Industrie zur höchsten Vollendung. Solvay gründete nach und nach in jedem
                              									zivilisiertem Lande eine oder mehrere wunderbar eingerichtete und mustergültige
                              									Sodafabriken. Ueber 90 v. H. des Gesamtweltbedarfs an diesem unentbehrlichen
                              									Produkte werden durch sie gedeckt. Die erste Fabrik wurde im Jahre 1863 gegründet.
                              									Damals erzeugte Solvay kaum 300000 kg, während nach dem Leblanc-Verfahren mehr als
                              									das 10fache hergestellt wurde. Heute liegen die Verhältnisse umgekehrt. Nach dem
                              									Solvayverfahren werden in der Jetztzeit ungefähr 2000000000 kg fabriziert. Trotz des
                              									niedrigen Preises bleibt ein erstaunlich großer Gewinn übrig. Selbst in England
                              									verschaffte sich das Solvay-Verfahren Anerkennung und trat erfolgreich gegen die
                              									scharfe Konkurrenz auf. Solvay besitzt in England bereits fünf Fabriken. Ebensoviele
                              									sind in Deutschland vorhanden, wo die Deutschen Solvay-Werke im Jahre 1880 gegründet
                              									wurden.
                           Was nun die technische Seite des Verfahrens anbelangt, so benutzte Solvay – ein Mann
                              									von seltener Begabung, Selfmademan, ohne systematische wissenschaftliche Ausbildung,
                              									damals noch nicht einmal Fachmann aus der Soda-Industrie, sondern Gehilfe in einer
                              									Gasanstalt – zur Sodagewinnung ebenfalls Kochsalz, aber in gesättigter Lösung. Diese
                              									wird mit Ammoniumbikarbonat zusammengebracht. In der wässerigen Lösung scheidet sich
                              									in Wechselzersetzung Natriumbikarbonat als weißer Kristallbrei aus. Durch' Erhitzen
                              									gibt dieses Salz Kohlensäure ab und verwandelt sich in Soda. Das teure Ammoniak
                              									kehrt immer wieder in den Fabrikationskreislauf zurück. Als Abfall bildet sich
                              									Chlorcalzium, das in die Abwässer fließt und mit dem Chlorgehalt des Kochsalzes
                              									verloren geht. Das ist ein Mangel, der diesem genialen Verfahren anhaftet. Er spielt
                              									aber nach der bisherigen Ansicht keine große Rolle bei der Rentabilitätsberechnung.
                              									Viel wichtiger war die Wiedergewinnung des kostspieligen Ammoniaks. Solvay war der
                              									erste, dem dieses durch sinnreich konstruierte Formen chemischer Apparate gelungen
                              									ist. Solvay war ständig bemüht, sich alle Errungenschaften der Technik nutzbar zu
                              									machen. Er kaufte fast alle Patente auf dem Gebiete der Sodagewinnung. In seiner
                              									Hand wurde die chemische Großindustrie in immer neue Bahnen gebracht. Dadurch, daß
                              									es Solvay ebenfalls verstanden hat, die Wärmeverluste, die bei der Vereinigung von
                              									Ammoniak und Kohlensäure zu Ammoniumbikarbonat entbunden wurden, erheblich
                              									herabzumindern, hat er die Wirtschaftlichkeit seines Verfahrens wie keiner seiner
                              									Vorgänger auf die ihm vorschwebende Höhe gebracht und seine vielen Unternehmungen zu
                              									solch ungeheurem Erfolge geführt. Geringe Mengen des Ammoniaks gehen infolge der
                              									großen Flüssigkeit trotzdem bei der Verdampfung in der Luft verloren. Um nun dieses
                              									recht teure Material zu verbilligen, befaßte sich Solvay als einer der erstem mit
                              									dem Problem der Gewinnung von Nebenprodukten aus der Verkohlung der Kohle. Der
                              									Semet-Solvay-Koksofen verdankt ihm und seinem Schwager Semet die technische
                              									Durchführung. Auch dieser Erfolg war wiederum ein bedeutsames Glied in der
                              									Entwicklung der Chemischen Großindustrie.
                           Die oben genannten Nachteile der bisherigen Sodagewinnung sollen nunmehr nach einem
                              									neueren Verfahren, das dem bekannten Großindustriellen Dr. Caro patentiert ist,
                              									beseitigt werden. Der Vorgang bei diesem Sodagewinnungsverfahren, das mit der
                              									Ammoniakfabrikation der Kalkstickstoffwerke und den nach dem Haberschen Verfahren
                              									arbeitenden Ammoniakfabriken in Verbindung steht, ist ganz kurz folgender: Zunächst
                              									werden Aetzkalk und Kohlensäure erzeugt. Im elektrischen Ofen wird Aetzkalk mit Koks
                              									gemischt, auf Kalciumkarbid verarbeitet. Aus kalciumkarbid entsteht Kalkstickstoff
                              									und durch Einwirkung von Wasserdampf auf diesen Ammoniak. Mittels Kohlensäure und
                              									Kochsalz wird das Ammoniak in Soda und Chlorammoniumlösung umgesetzt. Durch
                              									Eindampfen entsteht aus dieser fester Salmiak.
                           Diese Vereinigung von Sodagewinnung in Verbindung von Chlorammonium als Hauptprodukt
                              									bedeutet gegenüber den bisherigen Verfahren erhebliche Vorteile. Einmal wird der
                              									Ammoniakverlust vermieden, zweitens wird die Verschleuderung von Chlornatrium, das
                              									immerhin einen gewissen Wert darstellt, ganz bedeutend eingeschränkt, drittens
                              									fallen keinerlei Abfallstoffe an, wodurch die Schwierigkeiten durch Beseitigung der
                              									Chlorkalziumlauge behoben sind. Das Chlorammonium wird als Düngemittel verwandt und
                              									ist dem schwefelsauren Ammoniak gleichwertig. Eine andere Art der Sodagewinnung ist
                              									das elektrolytische Verfahren, das ebenfalls als Ausgangsprodukt Kochsalz verwendet.
                              									Bei der Zersetzung des Chlornatriums setzt sich an der Anode Chlor und an der
                              									Kathode metallisches Natrium ab. In dem Wasser der Kochsalzlösung bildet sich
                              									alsbald Aetznatron, das sich, mit Kohlendioxyd behandelt, zu Soda entwickelt. Das
                              									Verfahren befindet sich noch im Anfangstadium und liefert neben Soda noch
                              									Wasserstoff und Chlor als Nebenprodukte. Ueber die Wirtschaftlichkeit können nähere
                              									Angaben noch nicht gemacht werden; es müßte mindestens mit einem Gewinn von 30–40%
                              									arbeiten, um der Solvay-Soda ebenbürtig zu sein.