| Titel: | Ueber die allmähliche Verlängerung des Eisendrahtes bei verschiedener Strekung; von Hrn. Vicat. | 
| Fundstelle: | Band 51, Jahrgang 1834, Nr. XCVI., S. 434 | 
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                        XCVI.
                        Ueber die allmaͤhliche
                           Verlaͤngerung des Eisendrahtes bei verschiedener Strekung; von Hrn. Vicat.
                        Aus den Annales de Chimie et de Physique. September
                              1833, S. 35.
                        Allmaͤhliche Verlaͤngerung des Eisendrahtes bei
                           verschiedener Strekung.
                        
                     
                        
                           Jedermann weiß, daß eine Kugel aus Baumharz, wenn sie einem allmaͤhlichen
                              Druke ausgesezt wird, sich unmerklich abplattet, waͤhrend sie im Gegentheil
                              zu Splittern zerschellt, wenn man sie gegen einen harten Koͤrper schleudert.
                              Etwas Aehnliches findet bei dem Biegen des Holzes Statt, denn wenn man eine Ruche
                              langsam biegt, so kann man sie viel staͤrker kruͤmmen, ohne daß sie
                              bricht, als wenn man bei dem Biegen rasch verfaͤhrt. Es laͤßt sich
                              daher vermuthen, daß die meisten festen Koͤrper ohne zu brechen ihre Gestalt
                              um so auffallender veraͤndern koͤnnen, je laͤnger die auf sie
                              ausgeuͤbte Wirkung dauert.
                           Dieß veranlaßte mich verschiedene Stuͤke von einem nicht angelassenen
                              Eisendrahte auf 1/4, 1/3, 1/2 und 3/4 der Ziehkraft zu streken, deren er bei der
                              Probe nach dem gewoͤhnlichen Verfahren faͤhig ist, und dann lange Zeit
                              das Fortschreiten seiner Verlaͤngerung zu beobachten.
                           
                           Ich ließ also einen eichenen Balken von zehn Centimeter im Gevierte auf 2,3 Meter
                              Laͤnge wagrecht mit seinen beiden Enden in die entgegengesezten Mauern einer
                              kleinen gewoͤlbten Kammer einfuͤgen, und durch sechs senkrechte
                              Stangen, wovon ihn drei vom Boden aus nach Oben und drei vom Gewoͤlbe aus
                              nach Unten stuͤzten, jede Biegung desselben unmoͤglich machen; auf
                              diese Art erhielt ich also eine beinahe unerschuͤtterliche Unterlage. Zu noch
                              groͤßerer Sicherheit befestigte ich in gerader Linie vier spize Punkte, wovon
                              jeder einem der zum Aufhaͤngen der Drahtstuͤke gewaͤhlten
                              Punkte entgegengesezt war. Vermittelst dieser Merkzeichen ließen sich die kleinsten
                              Bewegungen beobachten, indem man von Zeit zu Zeit die Punkte mittelst eines
                              gespannten Seidenfadens abmaß.
                           Die zum Versuche angewandten Drahtstuͤke gingen durch den Balken, auf welchem
                              sie fest angehalten waren. Mit jedem derselben war in der Entfernung eines Meters
                              vom Aufhaͤngepunkt ein kleiner Haken verbunden, welcher den Arm eines sehr
                              leichten Hebels in Bewegung sezte, der dazu diente, Verlaͤngerungen von 1/100
                              Millimeter deutlich anzuzeigen.
                           Der Versuch wurde den 12. Jul. 1830 bei einer Temperatur von 21,8° C.
                              angefangen. Die mit 1, 2, 3 und 4 numerirten Drahtstuͤke wurden respective
                              bei 10,7 Kilogr., 14,25 K., 21,50 K. und 32,25 K. gestrekt (die totale Ziehkraft
                              betrug 43,25 K.) und verlaͤngerten sich anfangs augenbliklich um eine
                              Groͤße, welche man nicht beruͤksichtigte. Von diesem Augenblike an
                              brachte man aber die Vergleichungshebel an ihre Stelle und bezeichnete den
                              Ausgangspunkt von jedem derselben mit Null.
                           Den 12. Jul. 1831 zeichnete man bei einer Temperatur von 22° folgende
                              Beobachtungen auf:
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 51, S. 435
                              Reihe der durchlaufenen
                                 Boͤgen; durch den großen Arm; durch den kleinen Arm; Drahtstuͤk
                                 No. 1; Drahtstuͤk No. 2; Drahtstuͤk No. 3; Drahtstuͤk No.
                                 4
                              
                           Unmittelbar darauf wurden die vergleichenden Hebel wieder in ihre anfaͤngliche
                              Lage gebracht, indem man die als Achse dienenden Schneiden gehoͤrig
                              herabließ, und den 12. Jul. 1832 sammelte man bei einer Temperatur von 21,50°
                              C. folgende Beobachtungen:
                           
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 51, S. 436
                              Reihe der durchlaufenen
                                 Boͤgen; durch den großen Arm; durch den kleinen Arm; Drahtstuͤk
                                 No. 1; Drahtstuͤk No. 2; Drahtstuͤk No. 3; Drahtstuͤk No.
                                 4
                              
                           Nachdem die vergleichenden Hebel zum dritten Mal auf den Nullpunkt
                              zuruͤkgebracht worden waren, zeigten sie noch immer eine aͤhnliche
                              Progression von Verlaͤngerungen an, wie in den vorhergehenden Jahren. Der
                              Draht No. 4 brach aber am Anhaͤngepunkt im Monat
                              April 1833; ich muß hier bemerken, daß jedes Drahtstuͤk mit troknendem Oehl
                              uͤberzogen worden war, um es gegen Oxydation zu schaͤzen; der
                              gebrochene Draht war in seiner ganzen Laͤnge unversehrt und nur an der Stelle
                              wo er brach, hatte sich ein rother Punkt gebildet, den man fruͤher nicht
                              bemerkte. Man muß daher diesen Vorfall, welcher der Fortsezung der Beobachtungen ein
                              Ende machte, der Schwaͤchung des Eisens an dieser Stelle zuschreiben. Aus dem
                              Vorhergehenden koͤnnen wir also uͤber die Graͤnze der
                              Verlaͤngerungen nichts schließen, wohl aber mit allem Recht folgende
                              Thatsachen aufstellen:
                           1) Nicht angelassener Eisendraht, der auf das Viertel seiner Ziehkraft, so wie man
                              sie gewoͤhnlich schaͤzt, gestrekt wird, und jeder schwankenden
                              Bewegung entzogen ist, strekt sich anfangs, verlaͤngert sich aber dann nicht
                              mehr merklich.
                           2) Derselbe Draht verlaͤngerte sich, als er unter denselben Umstaͤnden
                              auf 1/3 der Ziehkraft gestrekt wurde, um 2,75 Millimeter per Meter in 33 Monaten; darin ist die augenblikliche Verlaͤngerung
                              in Folge der ersten Wirkung der Belastung nicht inbegriffen.
                           3) Derselbe Draht, auf 1/2 seiner Staͤrke gestrekt, verlaͤngerte sich
                              in derselben Zeit und unter denselben Umstaͤnden um 4,09 Millimeter.
                           4) Derselbe Draht endlich, auf 1/4 seiner Kraft gestrekt, verlaͤngerte sich
                              immer in derselben Zeit und unter denselben Umstaͤnden um 6,13
                              Millimeter.
                           Bei Vergleichung dieser Zahlen sieht man, daß von dem Augenblike angefangen, wo die
                              augenblikliche Wirkung der Belastung beendigt ist, die Geschwindigkeiten der darauf
                              folgenden Verlaͤngerungen ziemlich den Zeiten proportional bleiben, und
                              ferner, daß die Groͤße der Verlaͤngerung bei Draͤhten, die
                              uͤber 1/4 ihrer Staͤrke belastet sind, nach gleichen Zeiten ziemlich
                              der Strekung proportional ist.
                           Durch besondere Versuche habe ich auch gefunden, daß der Coefficient der
                              thermometrischen Ausdehnung fuͤr Draͤhte, die bei verschiedenen Graden
                              gestrekt sind, derselbe ist, wie fuͤr freie Draͤhte.
                           Aus dem Vorhergehenden ergibt sich nun, daß die Elasticitaͤt des nicht
                              angelassenen Eisendrahtes sich bei einer Strekung zwischen 1/4 und 1/3 seiner
                              Ziehkraft (leztere auf gewoͤhnliche Art gemessen) zu veraͤndern
                              anfaͤngt, so daß eine Drahtbruͤke, deren Eisendrahtkabeln uͤber
                              das Viertel hinaus gestrekt waͤren, sich, besonders bei der
                              erschuͤtternden Bewegung, bestaͤndig von Jahr zu Jahr und
                              wahrscheinlich bis zu ihrem Einsturze senken koͤnnte.
                           Das Maß des Widerstandes der Materialien, so wie man es bei den gewoͤhnlichen
                              Versuchen erhaͤlt, die nur einige Minuten oder einige Stunden dauern, ist
                              also ganz relativ und nur fuͤr die Dauer dieser Versuche guͤltig; wenn
                              man das Maß der absoluten Widerstaͤnde erfahren wollte, so muͤßte man
                              die Materialien Proben von mehreren Monaten unterziehen, und mit sehr genauen
                              Instrumenten beobachten.
                           Was auch immer die Zahl seyn mag, welche man bisher fuͤr das Maximum der
                              Strekung annahm, der man Eisen fuͤr Arbeiten von langer Dauer aussezen darf,
                              so geht aus den vorhergehenden Versuchen hervor, daß kein ploͤzlicher oder unvorhergesehener
                              Unfall bei den Eisendrahtkabeln der Drahtbruͤken zu befuͤrchten ist;
                              denn die Textur dieser Kabeln ist schon eine Garantie fuͤr die Gleichheit
                              ihrer Kraft auf allen Punkten, daher auch die dem Bruche vorangehende
                              Verlaͤngerung gleichfoͤrmig auf allen Punkten Statt finden muß. Wir
                              wollen z.B. annehmen, das Maximum der Ausdehnung, deren der laufende Meter noch nach
                              der anfaͤnglichen Strekung durch das Gewicht des Bogens und der Belastung
                              beim Probiren faͤhig ist, betrage nur sechs Millimeter, und es handle sich um
                              eine Oeffnung von 100 Meter mit 8 Meter Bogenhoͤhe: so ergibt eine sehr
                              einfache Berechnung, daß diese Ausdehnung von sechs Millimeter per Meter allmaͤhlich eine Senkung von mehr als
                              1,25 Meter in der Mitte hervorbringen wuͤrde, so daß man also durch diese
                              außerordentliche Bewegung von der Gefahr benachrichtigt wuͤrde.
                           Die Ketten aus geschmiedetem Eisen bieten ungluͤklicher Weise nicht dieselben
                              Garantien dar. Bei drei Haͤngebruͤken fanden schon große
                              Ungluͤksfaͤlle Statt, die durch keinen vorlaͤufigen Umstand
                              angezeigt wurden. Dieß kommt daher, daß die Verlaͤngerung immer auf den
                              schwachen oder fehlerhaften Theil der brechenden Stangen beschraͤnkt ist, so
                              daß sie sich nicht hinreichend vorher anzeigen kann. Der neuliche Einsturz eines der
                              Fluͤgel der Bruͤke von Cosne uͤber die Loire hat eine andere
                              sehr wichtige Thatsache bestaͤtigt (die, wie ich glaube, schon von dem
                              Ingenieur Henri in Rußland beobachtet wurde): daß naͤmlich eine Eisenstange,
                              welche einer gewissen Probe widerstand, unter einer neuen Probe, die nicht so stark
                              wie die vorhergehende ist, dennoch brechen kann.