| Titel: | Neue Beobachtungen über das Orcin, den Farbstoff der Variolaria dealbata; von Hrn. Robiquet. | 
| Fundstelle: | Band 57, Jahrgang 1835, Nr. XLIV., S. 216 | 
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                        XLIV.
                        Neue Beobachtungen uͤber das Orcin, den Farbstoff der Variolaria
                              dealbata; von Hrn. Robiquet.
                        Aus den Annales de Chimie
                                 et de Physique. Maͤrz 1835, S. 320.
                        Robiquet's neue Beobachtungen uͤber das Orcin.
                        
                     
                        
                           Unter allen Industriezweigen zieht keiner so großen und unmittelbaren Vortheil aus
                              den Fortschritten in der Chemie, wie die Faͤrbekunst; man ist von dieser
                              Wahrheit gegenwaͤrtig so allgemein uͤberzeugt, daß die meisten jungen
                              Faͤrber sich mit Eifer dem Studium einer Wissenschaft widmen, welche die
                              Basis ihrer Kunst ausmacht und die ihnen die Mittel liefert, den Grund der
                              gebraͤuchlichen Verfahrungsarten einzusehen und neue aufzufinden. Der
                              Zusammenhang, welcher zwischen der Faͤrbekunst und der Chemie Statt findet,
                              ist leicht auf den ersten Blik einzusehen; es ist aber vielleicht schwerer, sich
                              davon zu uͤberzeugen, wie groß und wichtig bis jezt die Dienste waren, welche
                              die Chemie der Faͤrbekunst leistete, weil man so weit ging, die wesentlichen
                              Vortheile, die dem Praktiker jene Wissenschaft gewaͤhren kann, in Zweifel zu
                              ziehen. Vor Kurzem haͤtte man einen wahrscheinlichen Grund fuͤr den
                              Stillstand dieser Kunst noch darin finden koͤnnen, daß die Chemiker nicht
                              genug Faͤrber oder die Faͤrber nicht genug Chemiker waren; heut zu
                              Tage faͤllt dieser Vorwurf aber weg; fast uͤberall sind die
                              Coloristen, welche bloß nach alten Recepten oder langjaͤhriger Erfahrung
                              arbeiten koͤnnen, durch wissenschaftlich gebildete Leute ersezt worden;
                              ungluͤklicher Weise wild uns aber das Privatinteresse noch lange verhindern,
                              die Ergebnisse dieser wichtigen Verbesserung ganz kennen zu lernen. Wer weiß nicht,
                              daß wenn ein geschikter Fabrikant auf eine gluͤkliche Anwendung gekommen ist,
                              er sich beeilt sie zu benuzen, und sich wohl huͤtet sie bekannt zu machen; er
                              wird nicht ermangeln sich zu erkundigen, warum unter gewissen Umstaͤnden
                              seine Voraussehung nicht eintraf, aber einen gluͤklichen Erfolg derselben nur
                              selten bekannt machen. Nichts ist billiger und natuͤrlicher: deßwegen wundere
                              man sich aber auch nicht, daß die Verbesserungen, welche man taͤglich
                              vornimmt und die meistens einer Wissenschaft ihren Ursprung verdanken, welche erst seit Kurzem in die
                              Werkstaͤtten verpflanzt wurde, lange unbekannt bleiben. Indessen ist das
                              Studium der Farbstoffe gewiß mit vielen Schwierigkeiten verknuͤpft, weil sie
                              sehr verwikelte Verbindungen eingehen und ihre eigentliche Natur nur noch sehr
                              unvollkommen erforscht ist. Man muͤßte, um alles in den Faͤrbereien
                              Vorkommende begreifen und erklaͤren zu koͤnnen, die Farbstoffe in
                              ihren zahlreichen Umaͤnderungen von ihrem Ursprunge bis zu ihrer Befestigung
                              verfolgen koͤnnen. Wenn man sich bei einem solchen Studium nur wenigstens
                              durch einige sichere Grundlagen leiten lassen koͤnnte, leider sind wir hievon
                              aber noch weit entfernt, und wissen noch nicht einmal, ob es in der zahlreichen
                              Reihe organischer Producte eine gewisse Anzahl gibt, die man unter der allgemeinen
                              Benennung Farbstoff in eine Gruppe vereinigen kann, d.h. ob mehrere unter ihnen
                              wirklich gewisse charakteristische Eigenschaften mit einander gemein haben. In jedem
                              Lehrbuche der Chemie ist den Farbstoffen ein besonderes Capitel gewidmet, allein man
                              sucht vergebens nach ihren allgemeinen Eigenschaften; ich bemuͤhte mich eine
                              gewisse Anzahl von solchen zusammenzubringen, kann aber nur so viel angeben, daß die
                              organischen Farbstoffe, welche man in reinem Zustande dargestellt hat, im
                              Allgemeinen neutral, ferner krystallisirbar und fluͤchtig sind; daß sie sich
                              mit verschiedenen Basen verbinden und dann die Rolle der Saͤuren zu spielen
                              scheinen. Die Oxyde des Aluminiums, Calciums, Eisens, Bleies und Zinns sind
                              diejenigen Basen, welche die groͤßte Verwandtschaft zu den Farbstoffen haben
                              und mit ihnen unaufloͤsliche Verbindungen bilden. Diese Basen sind es, welche
                              die sogenannten Mordans oder Beizen ausmachen.
                           Die Farbstoffe zeichnen sich hauptsaͤchlich durch ihre Verwandtschaft zur
                              Faser aus; bisweilen ist diese so groß, daß die Vereinigung, wie bei dem Indigo,
                              ohne anderes Zwischenmittel Statt finden kann; manchmal vereinigt sich hingegen der
                              Farbstoff mit der organischen Faser nur durch Dazwischenkunft eines dritten
                              Koͤrpers, eines sogenannten Beizmittels. Einige von ihnen koͤnnen sich
                              auch mit den Saͤuren verbinden, ohne sie jedoch zu neutralisiren, und diese
                              scheinen sich also den Basen zu naͤhern.
                           Da der allgemeinen Eigenschaften, welche man an den Farbstoffen auffinden kann, so
                              wenige sind, so muß man eigentlich annehmen, daß jeder seinen eigenen Typus hat und
                              nur fuͤr sich beschrieben werden kann. Auch haben sich nur wenige Chemiker
                              uͤber dieses wirklich schwierige Studium gemacht, und man begreift daher
                              leicht, daß wenn wir allerdings viel von einer Wissenschaft erwarten duͤrfen,
                              die unaufhoͤrlich neue Wahrheiten entdekt, wir doch gewiß noch weit davon
                              entfernt sind, uns eine Menge von Erscheinungen erklaͤren zu
                              koͤnnen, die sich taͤglich in den Faͤrbereien darbieten und
                              deren Erklaͤrung nothwendig zu den Fortschritten der Kunst beitragen
                              wuͤrde. Ich will nun im Folgenden einige Thatsachen mittheilen, welche mir in
                              hohem Grade die Aufmerksamkeit der Chemiker und der Faͤrber zu verdienen
                              scheinen.
                           Gewoͤhnlich glaubt man, daß eine Substanz, um zum Faͤrben dienen zu
                              koͤnnen, selbst gefaͤrbt seyn muß. Der eigentlich sogenannte Indigo
                              ist jedoch nicht mehr der Koͤrper, wie ihn der Organismus erzeugt, denn aller
                              Wahrscheinlichkeit nach ist er in der Pflanze urspruͤnglich farblos. Er ist
                              auch nicht der einzige Farbstoff, wobei dieser Fall vorkommt; bekanntlich ist das
                              Haͤmatin des Hrn. Chevreul beinahe farblos, und
                              man wuͤrde es vielleicht vollkommen weiß erhalten, wenn man es gegen jede
                              Veraͤnderung verwahren koͤnnte. Ich selbst habe bewiesen, daß der
                              Farbstoff der Orseille aus einer farblosen Substanz entsteht, und dieses
                              duͤrfte noch bei vielen anderen Farbstoffen der Fall seyn, woruͤber
                              wir jedoch jezt nur Vermuthungen aufstellen koͤnnen. Da mir nun der Zufall
                              eine urspruͤnglich farblose Substanz verschaffte, die sich durch eine Reihe
                              von Modificationen in einen der sattesten Farbstoffe umaͤnderte, so
                              beschaͤftigte ich mich um so eifriger mit ihrer Untersuchung, weil wir
                              ungeachtet der mannigfaltigsten Versuche unserer geschiktesten Chemiker die
                              Veraͤnderung, welche der farblose Indigo bei seinem Uebergange in den blauen
                              erleidet, noch nicht genau kennen. Ich glaubte naͤmlich anfangs, daß wenn es
                              mir gelaͤnge auszumitteln, auf welche Art sich das Orcin in Farbstoff
                              umaͤndert, dieses mich darauf leiten koͤnnte, wie das farblose
                              Indigotin blau wird. Ich habe zwar meinen Zwek nicht vollkommen erreicht, kann
                              jedoch einige neue Thatsachen mittheilen, welche die Aufmerksamkeit der Chemiker in
                              hohem Grade verdienen.
                           Das Orcin, dessen ich so eben erwaͤhnte, stellte ich im Jahre 1829 aus einer
                              Flechtenart, der variolaria dealbata dar. Als
                              Haupteigenschaften dieser neuen Substanz gab ich an, daß sie in reinem Zustande
                              farblos ist, in schoͤnen vierseitigen Prismen krystallisirt und so
                              suͤß schmekt, daß ich sie anfangs fuͤr eine Art Mannazuker hielt und
                              mich erst nach vielen Versuchen uͤberzeugte, daß nur sie den Farbstoff der
                              franzoͤsischen Land-Orseille liefert. Ich bemerkte auch schon damals,
                              daß sie sich nur unter dem Einflusse von Sauerstoff und Ammoniak in Farbstoff
                              verwandelt, was ganz mit der Orseillefabrikation uͤbereinstimmt, die in der
                              Hauptsache darin besteht, daß man diese Flechten in hoͤlzernen Kufen entweder
                              in gefaulten Urin oder geradezu in gewoͤhnliches Ammoniak einweicht. Es blieb
                              nun aber noch auszumitteln uͤbrig, worin eigentlich die Veraͤnderungen
                              bestehen, welche das
                              Orcin bei dieser merkwuͤrdigen Metamorphose erleidet, oder mit anderen
                              Worten, wodurch sich der Farbstoff, welchen ich jezt Orcein nenne, von der farblosen Substanz, dem Orcin, unterscheidet.
                           Man wird ohne Zweifel meinen, daß das beste Mittel diese interessante Frage ohne
                              weitere Umstaͤnde zu loͤsen, darin bestuͤnde, diese beiden
                              Producte zu analysiren und ihre Elementarzusammensezung zu vergleichen, um sodann
                              durch mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothesen zu erklaͤren, wie eine
                              solche Verwandlung nach und nach herbeigefuͤhrt wurde. Um mich aber vor jeder
                              gewagten Vermuthung zu huͤten, hielt ich es fuͤr besser, die
                              Einfluͤsse, welche unumgaͤnglich noͤthig sind, um diese
                              Veraͤnderung hervorzubringen, geradezu auszumitteln; ich hoffte auf diesem
                              Wege der Wahrheit eher nahe zu kommen. Nachdem ich mich also neuerdings
                              uͤberzeugt hatte, daß Mitwirkung von Ammoniak und Sauerstoff nicht entbehrt
                              werden kann, fand ich, daß uͤberdieß auch noch Feuchtigkeit zugegen seyn muß.
                              Laͤßt man naͤmlich Orcin mit Ammoniakgas und trokener Luft in
                              Beruͤhrung, so nimmt es nur einen Theil des alkalischen Gases in seine Poren
                              auf, ohne sich zu faͤrben, und ohne seinen suͤßen Geschmak im
                              Geringsten zu verlieren; waͤhrend es sich bei Dazwischenkunft von
                              Feuchtigkeit allmaͤhlich faͤrbt, und seinen suͤßen Geschmak
                              taͤglich mehr und endlich vollstaͤndig verliert.
                           Es ist also die Mitwirkung von drei Koͤrpern: Ammoniak, Sauerstoff und Wasser
                              noͤthig, um das Orcin in Farbstoff zu verwandeln; wie wirken aber diese drei
                              Substanzen und welche besondere Rolle spielt jede von ihnen? Keine von ihnen hat
                              fuͤr sich allein eine Wirkung auf das Orcin. Das Ammoniak wird, wie wir
                              gesehen haben, von gepulvertem Orcin wie von jedem anderen poroͤsen
                              Koͤrper verschlukt, ohne daß lezteres dadurch eine Veraͤnderung
                              erleidet; dasselbe ist bei der Feuchtigkeit der Fall und auch der Sauerstoff bleibt
                              wirkungslos, wenn er fuͤr sich allein mit dem Orcin in Beruͤhrung ist.
                              Der Farbstoff kann also nur durch gleichzeitliche Einwirkung aller drei
                              Koͤrper entstehen. Folgt aber hieraus, daß jeder von ihnen auch ziemlich
                              gleichen Antheil an dieser Reaction hat? Ich glaube es nicht; es scheint vielmehr,
                              daß das Ammoniak die Hauptrolle spielen muß. Als Beweis fuͤhre ich folgenden
                              Versuch an:
                           Ich brachte hydratisches und gepulvertes Orcin in eine graduirte Gloke, welche 15
                              Theile atmosphaͤrische Luft und 3 Theile Ammoniakgas enthielt. Die Absorption
                              erfolgte schnell und stand mit lezterem Gas in Verhaͤltniß. Ich sezte nun auf
                              sechs Mal im Verlauf mehrerer Tage bis 20 Theile Ammoniakgas zu und hoͤrte
                              mit dem Zusezen erst dann auf, als selbst nach mehreren Tagen keine Absorption mehr Statt fand. Um
                              sodann aus dem in der Gloke zuruͤkgebliebenen Gase das
                              uͤberschuͤssige Alkali abzusondern, brachte ich Kalkwasser hinein;
                              nach gehoͤrigem Schuͤtteln hinterblieben noch 14,1 Theile Gas. Das
                              Kalkwasser war ganz durchsichtig geblieben; es hatte sich also im Verlaufe dieser
                              Reaction keine Kohlensaͤure gebildet und in den zuruͤkgebliebenen 14,1
                              Th. Gas war, was sehr merkwuͤrdig ist, der Sauerstoff ziemlich in demselben
                              Verhaͤltnisse wie in der atmosphaͤrischen Luft. Diese 14,1 Theile
                              reducirten sich naͤmlich durch Phosphor auf 11,47, so daß der Verlust 2,63
                              betrug, waͤhrend er 2,96 betragen haben wuͤrde, wenn die Luft allen
                              Sauerstoff beibehalten haͤtte. Man sieht also, daß der Sauerstoff bei dieser
                              merkwuͤrdigen Reaction sich nur in sehr geringer Menge mit dem Orcein
                              verbindet. Doch habe ich auch gefunden, daß mit reinem Sauerstoffgas die Absorption
                              schneller erfolgt; es scheint, daß die Wirkung desselben dann aber auch zu weit
                              geht, indem man an Statt einer satten purpurvioletten Farbe nur eine schwarzbraune
                              erhaͤlt, gleichsam als wenn zu viel Kohle ausgeschieden worden
                              waͤre.
                           Ueber die Rolle, welche die Feuchtigkeit spielt, kann man wohl nicht in Zweifel seyn,
                              denn bekanntlich ist das Wasser das unumgaͤnglich noͤthige
                              Zwischenmittel, wenn eine chemische Verbindung erfolgen soll. Die Hauptwirkung bei
                              der Metamorphose des Orcins uͤbt also das Ammoniak aus; nun fragt es sich
                              aber, ob sich dieses Alkali als solches mit ihm vereinigt oder nur seine
                              Bestandtheile.
                           Ich werde in der Folge einige Versuche anfuͤhren, die ich anstellte, um diese
                              Frage aufzuklaͤren; vorher will ich aber bemerken, daß wenn das Ammoniak hier
                              hauptsaͤchlich als salzfaͤhige Basis wirken wuͤrde, d.h.
                              vermoͤge seiner Eigenschaft eine Saͤure zu saͤttigen, deren
                              Erzeugung es gleichsam selbst hervorgerufen hat, es wahrscheinlich wuͤrde,
                              daß alle anderen salzfaͤhigen Basen denselben Einfluß aͤußern
                              wuͤrden; wenn man jedoch ein Gemenge von Orcin, Wasser und Kalilauge mit
                              Sauerstoff oder Luft in Beruͤhrung laͤßt, so erfolgt nicht dieselbe
                              Art von Veraͤnderung, wie durch Ammoniak. Es erfolgt wohl eine braune
                              Faͤrbung, aber alle inneren Waͤnde des Gefaͤßes, welches das
                              Gemenge enthaͤlt, bleiben in Folge der freiwilligen Verdampfung mit kleinen
                              Krystallen bekleidet, welche ganz die Form und den Geschmak des Orcins haben. Da
                              sich jedoch annehmen ließ, daß die Reaction, welche uͤber acht Tage
                              fortgesezt wurde, nicht lange genug dauerte, so wurde das Product nochmals mit einer
                              verduͤnnten Aufloͤsung von Aezkali angeruͤhrt und wieder
                              fuͤnfzehn Tage lang in Beruͤhrung mit Luft gelassen. Die braune Farbe
                              wurde dadurch etwas dunkler, aber der suͤße Geschmak war noch immer sehr
                              auffallend; um mich nun zu uͤberzeugen, ob das Gemenge wirklich noch
                              unveraͤndertes Orcin enthielt, troknete ich es bei sehr gelinder
                              Waͤrme aus und behandelte den Ruͤkstand mit rectificirtem Aether.
                              Dadurch erhielt ich eine schwach gefaͤrbte Aufloͤsung, welche bei
                              freiwilliger Verdampfung kleine spießige, fast farblose und suͤß schmekende
                              Krystalle hinterließ, die alle Eigenschaften des Orcins besaßen.
                           Das Kali brachte also unter denselben Umstaͤnden wie das Ammoniak nicht die
                              naͤmliche Wirkung hervor, denn die braune Faͤrbung, wovon ich sprach,
                              findet auch Statt, wenn befeuchtetes Orcin lange in Beruͤhrung mit Luft
                              bleibt.
                           Es handelte sich nun darum, zu erfahren, ob der neue Farbstoff, welchen ich Orcein nenne, nur eine directe Verbindung des Ammoniaks
                              mit der urspruͤnglichen Substanz, dem Orcin, ist.
                              Ich suchte daher zuerst durch Erwaͤrmen denjenigen Theil des Ammoniaks
                              abzuscheiden, welcher bloß durch die Porositaͤt zuruͤkgehalten wird;
                              ich nahm naͤmlich Orcin, welches in die fuͤr seine Verwandlung in
                              Farbstoff guͤnstigen Umstaͤnde gebracht worden war, und sezte es lange
                              Zeit einer Waͤrme aus, welche anfangs gelind war und dann bis zur Siedhize
                              des Wassers gesteigert wurde, um allen Ueberschuß von freiem Alkali auszutreiben.
                              Als kein ammoniakalischer Geruch mehr bemerkt werden konnte, ruͤhrte ich den
                              ausgetrokneten Ruͤkstand mit Wasser an, welches mit Essig schwach
                              angesaͤuert war. Ein kleiner Theil dieses Ruͤkstandes loͤste
                              sich auf, der Rest sezte sich als ein leichtes dunkelbraunes Pulver ab, welches man
                              aus einem Filter sammelte und mit kleinen Quantitaͤten kalten Wassers so
                              lange aussuͤßte, bis es sich nicht mehr merklich faͤrbte; dieses war
                              nun das Orcein, d.h. das Product, welches wir studiren
                              muͤssen, um zu erfahren, ob es bloß eine Verbindung der
                              urspruͤnglichen Substanz mit Ammoniak ist. Es ist dieses jedoch schon
                              deßwegen nicht wahrscheinlich, weil die angewandte Essigsaure diese Verbindung
                              zerstoͤrt haben muͤßte; auch bemerkt man nicht den geringsten
                              suͤßen Geschmak mehr, selbst nach der Anwendung der Essigsaͤure, und
                              das Product bleibt unaufloͤslich, waͤhrend das Orcin einer der
                              aufloͤslichsten Koͤrper ist. Erhizt man jedoch dieses gut
                              ausgetroknete Orcein in einer Glasroͤhre, so entwikeln sich ammoniakalische
                              Daͤmpfe, welche geroͤthetes Lakmuspapier wieder blau machen; wir
                              wissen aber, daß dieses eine Eigenschaft der meisten stikstoffhaltigen Substanzen
                              ist, und daß man daraus nicht auf vorher vorhandenes Ammoniak schließen darf.
                           Das Orcein loͤst sich leicht in den Alkalien auf und wahrscheinlich
                              wuͤrde das Ammoniak, wenn es darin bloß als solches chemisch gebunden
                              waͤre, durch Kali oder Natron ausgetrieben werden, so daß wieder Orcin
                              entstuͤnde; dieß geschieht aber nicht. Wahr ist jedoch, daß sich ein sehr merklicher
                              Ammoniakgeruch verbreitet, wenn man Orcein mit einer Aufloͤsung von Aezkali
                              kocht; ich erhielt es so sehr lange im Kochen und neutralisirte dann das
                              uͤberschuͤssige Alkali mit Essigsaͤure, worauf sich ein
                              reichlicher Niederschlag absezte, welcher auf einem Filter gesammelt und
                              ausgesuͤßt, wieder der Farbstoff mit seinen wesentlichen Eigenschaften war;
                              nur hatte er durch das Austroknen ein harzartiges Aussehen bekommen, und zeigte sich
                              auf dem Bruche glasig.
                           Durch das Vorhergehende ist meiner Meinung nach hinreichend erwiesen, daß das
                              Ammoniak bei dieser Reaction nicht die Rolle des Alkali spielt, sondern die eines
                              zusammengesezten Koͤrpers, dessen Bestandtheile dazu dienen, ein neue Product
                              zu erzeugen, welches ein Farbstoff ist.
                           Man erhaͤlt also durch den Einfluß von Ammoniak, Sauerstoff und Wasser aus
                              einer farblosen, nicht stikstoffhaltigen, fluͤchtigen, krystallisirbaren,
                              suͤß schmekenden, in Wasser, Alkohol und Aether aufloͤslichen
                              Substanz, ein festes, sehr gefaͤrbtes, stikstoffhaltiges, wenig oder gar
                              nicht in Wasser aufloͤsliches und unkrystallisirbares Product. Ein so
                              auffallendes Resultat verdiene wohl beachtet zu werden, und dasselbe koͤnnte,
                              wie es mir scheint, zum Verstehen gewisser bisher noch unerklaͤrter
                              Erscheinungen fuͤhren. Es gibt wenige Substanzen, die so oft und so umsichtig
                              von den ausgezeichnetsten Chemikern untersucht wurden, wie der Indigo, und doch
                              kennen wir seinen anfaͤnglichen Zustand keineswegs und wissen auch nicht, wie
                              er von demselben in den eines Farbstoffes uͤbergeht. Seit den schoͤnen
                              Untersuchungen der HH. Chevreul, Berzelius und Liebig nimmt man allgemein an, daß das Indigotin in den
                              Pflanzen, die es liefern, farblos ist; das farblose Indigotin erfordert aber, wie
                              Berzelius selbst bemerkt, die Gegenwart eines
                              Alkalis, um sich aufzuloͤsen, und doch ist es in dem Aufgusse der Pflanze
                              vollkommen aufgeloͤst, obgleich dieser Aufguß immer das Lakmus
                              roͤthet. Sollte man hieraus nicht folgern, daß wir das wahre Indigoradical
                              noch nicht kennen und daß es ein ganz anderer Koͤrper ist, als das reducirte
                              Indigotin von Berzelius oder Doͤbereiner's Isatinsaͤure? Zwar hat Hr. Chevreul direct farbloses Indigotin aus der Pflanze
                              ausgezogen, aber er erhielt davon keine hinreichende Menge, um es mit dem reducirten
                              Indigotin vergleichen und die Umstaͤnde genau bestimmen zu koͤnnen,
                              unter welchen es sich in einen Farbstoff verwandelt. Er fand bloß, daß zur
                              Faͤrbung Sauerstoff noͤthig ist, aber eine so geringe Menge, daß die
                              in unausgekochtem Kalkwasser enthaltene Luft hinreicht, waͤhrend zur
                              Oxydation von reducirtem Indigotin eine betraͤchtliche Menge Sauerstoff
                              erforderlich ist.
                           
                           Es waͤre also moͤglich, daß das reducirte Indigotin ein von dem
                              Indigoradical ganz verschiedenes Product ist und daß lezteres sich wie das Orcin
                              unter dem Einflusse von Sauerstoff, Wasser und Ammoniak in Farbstoff verwandeln
                              kann. Eine solche Annahme wird durch die bei der Darstellung des Indigos
                              gebraͤuchlichen Verfahrungsarten ziemlich wahrscheinlich gemacht. Man wendet
                              naͤmlich dabei entweder die Gaͤhrung (Faͤulniß) oder das
                              Einweichen der gepulverten Pflanze an. Im ersten Falle wird offenbar Ammoniak
                              entwikelt, weil in diesen Pflanzen mehrere stikstoffhaltige Bestandtheile vorkommen,
                              und im zweiten wird vor dem Schlagen immer Kalkwasser zugesezt, welches nicht bloß
                              die Faͤllung erleichtern wird, indem es die uͤberschuͤssige
                              Saͤure saͤttigt, sondern hauptsaͤchlich auch durch die
                              Zersezung der in diesen Pflanzen enthaltenen Ammoniaksalze Ammoniak frei macht.
                              Erinnern wir uns nun noch, daß zu dieser Faͤrbung eine außerordentlich
                              geringe Menge Sauerstoff noͤthig ist, wie Hr. Chevreul bewiesen hat, so haben wir hier dieselben Elemente und die
                              naͤmlichen Bedingungen wie fuͤr das Orcin. Ich gehe vielleicht zu
                              weit, aber ich betrachte es als wahrscheinlich, daß das Indigoradical keinen
                              Stikstoff enthaͤlt, daß ihm nur das Ammoniak diesen Bestandtheil liefert und
                              daß der Indigo gerade so wie das Orcein, nachdem er einmal erzeugt ist, nicht mehr
                              in seinen anfaͤnglichen Zustand zuruͤkgehen kann, weil er seine Natur
                              ganz geaͤndert hat und das Indigoradical von dem reducirten Indigotin
                              wesentlich verschieden ist. Es waͤre daher sehr zu wuͤnschen, daß neue
                              Versuche unter diesem Gesichtspunkte angestellt wuͤrden.
                           Es werden vielleicht nur wenige Chemiker geneigt seyn, meine Ansichten uͤber
                              diesen Punkt zu theilen, weil man bisher noch keine aͤhnlichen Reactionen
                              beobachtet hat; ich glaube aber, daß diese erste Beobachtung andere zur Folge haben
                              wird, und ich koͤnnte sogar schon jezt eine anfuͤhren, die mir große
                              Analogien darzubieten scheint; ich meine naͤmlich die Gallussaͤure
                              oder vielmehr die Pyrogallussaͤure. Berzelius hat
                              gefunden, daß die gewoͤhnliche Gallussaͤure, je mehr man sie reinigt,
                              desto mehr auch ihre sauren Eigenschaften verliert, so zwar daß man endlich, wenn
                              man ihr durch Sublimation alle fremdartigen Substanzen entzieht, einen vollkommen
                              neutralen Koͤrper erhaͤlt. Andererseits weiß man, daß die
                              Gallussaͤure zerstoͤrt wird, wenn man Ammoniak damit verbindet,
                              wodurch eine sehr dunkelbraune Substanz entsteht, die sich nach Hrn. Chevreul nur unter dem Einfluß von Sauerstoff bilden
                              kann. Wir sehen also an diesem Beispiele, daß sich eine fluͤchtige neutrale
                              Substanz, die keinen Stikstoff enthaͤlt und in Wasser aufloͤslich ist,
                              unter dem Einfluß von Sauerstoff, Ammoniak und Feuchtigkeit, in ein anderes fixes,
                              stikstoffhaltiges,
                              wenig oder gar nicht in Wasser aufloͤsliches und stark gefaͤrbtes
                              Product umaͤndert; die Analogie kann gewiß nicht vollstaͤndiger seyn,
                              wenn man anders nicht bloß solche Products als Farbstoffe betrachten will, die
                              auffallende und angenehme Farben liefern.
                           Wenn man aus diesen Beobachtungen allgemeine Schluͤsse ziehen kann, so scheint
                              der Stikstoff, dessen charakteristische Eigenschaften groͤßten Theils
                              Anomalien sind, in der vegetabilischen Chemie eine der wichtigsten Rollen zu
                              spielen.
                           Ich beabsichtige demnaͤchst auch den Farbstoff, welchen man aus mehreren
                              anderen Flechtenarten auszieht, zu untersuchen.