| Titel: | Ueber die Art der Bewegung der Waggons auf den Eisenbahnen. Von Hrn. Theodor Olivier. | 
| Fundstelle: | Band 69, Jahrgang 1838, Nr. LXXXVIII., S. 404 | 
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                        LXXXVIII.
                        Ueber die Art der Bewegung der Waggons auf den
                           Eisenbahnen. Von Hrn. Theodor
                              Olivier.
                        Aus dem Bulletin de la Société
                                 d'encouragement. Jun. 1838, S. 206.
                        Olivier, uͤber die Bewegung der Waggons auf den
                           Eisenbahnen.
                        
                     
                        
                           Jedermann, der auf Eisenbahnen mit maͤßiger Geschwindigkeit gefahren ist, wird
                              Gelegenheit gehabt haben, sich von jener Erscheinung, die man unter dem Namen des
                              Nestels (lacet) versteht, zu uͤberzeugen. Man
                              sagt naͤmlich, daß ein Wagenzug einen Nestel bildet, wenn die Wagen
                              abwechselnd auf die rechte und auf die linke Seite geneigt sind, so daß die ganze
                              Wagenreihe keine gerade, sondern eine Schlangenlinie bildet. Diese Erscheinung ist
                              hauptsaͤchlich dadurch bedingt, daß die Schienen, wie sorgfaͤltig sie
                              auch gemacht wurden, nach einer bestimmten Zeit und in Folge der Ungleichheit der
                              Senkungen in ihrer senkrechten Flaͤche ein undulirendes Profil darbieten, dem
                              gemaͤß jeder Wagen wegen der abwechselnd auf der rechten und linken Schiene vorkommenden
                              Schraͤgen und Gegenschraͤgen bald nach Rechts, bald nach Links gekehrt
                              erscheint. Dieser sogenannte Nestel ist nun fuͤr die geraden Bahnlinien sehr
                              nachtheilig, indem er es ist, der am maͤchtigsten zur Abnuͤzung
                              beitraͤgt. Die Erschuͤtterungen, welche die Wagen erzeugen, indem sie
                              sich abwechselnd gegen die linke oder rechte Schiene werfen, streben die Bahnspur zu
                              erweitern, da die Schienen auf diese Weise von einander entfernt werden; ebenso
                              werden durch sie nicht selten die Schienenstuͤhle umgeworfen und die Schienen
                              an ihren Verbindungsstellen gebrochen.
                           Hr. Thomas, Civilingenieur, machte mir in dieser Hinsicht
                              bei seiner Ruͤkkehr von einer neuerlich nach England unternommenen Reise
                              folgende Bemerkung. „Wenn ich auf der
                                 Liverpool-Manchester-Eisenbahn nur mit einer mittleren
                                 Geschwindigkeit von 8 bis 10 Stunden in der Zeitstunde fuhr, war die Erscheinung
                                 des Nestels sehr ausgesprochen, und die durch das Anschlagen der Wagen gegen die
                                 Schienen erzeugten Erschuͤtterungen waren stark und selbst fuͤr
                                 die Reisenden unangenehm. So wie aber die Geschwindigkeit des Wagenzuges zunahm,
                                 verschwand der Nestel immer mehr: so zwar, daß er bei einer Geschwindigkeit von
                                 15 Wegstunden in der Zeitstunde beinahe ganz unmerklich war. Ich habe mich
                                 hievon mehrere Male und mit einer guten Secundenuhr ausgeruͤstet
                                 uͤberzeugt.“
                              
                           Es duͤrfte nicht ohne Nuzen seyn, sich uͤber diese Thatsache, die mit
                              den Vorgaͤngen auf den Canaͤlen einige Aehnlichkeit hat, ins Klare zu
                              sezen. In der That ist bekannt, daß, wenn ein Boot auf einem Canale in Bewegung
                              gesezt wird, vor dessen Vordertheil eine Woge entsteht, deren Hoͤhe in dem
                              Maaße waͤchst, als die Geschwindigkeit des Fahrzeuges zunimmt. Dieser Woge,
                              die der bewegliche Vordertheil genannt wird, hat man hauptsaͤchlich die
                              Beschaͤdigungen der Canalufer zuzuschreiben, da sie die Wellen erzeugt,
                              welche mit solcher Gewalt an die Ufer anschlagen. Es ist aber auch ausgemacht, daß
                              wenn die Geschwindigkeit des Bootes jene des beweglichen Vordertheiles, welche
                              ungefaͤhr 4 Wegstunden in der Zeitstunde betraͤgt, uͤbersteigt,
                              das Boot so zu sagen auf der Oberflaͤche des Wassers hingleitet, so daß die
                              Wellen, die sonst gegen die Ufer schlugen, und die auch noch eine ziemliche Streke
                              hinter dem Boote bemerkbar waren, ganz verschwinden. Gleichwie demnach bei einer
                              Geschwindigkeit der Boote von mehr dann 4 Wegstunden in der Zeitstunde die Canalufer
                              nicht mehr Schaden leiden, so duͤrfte auch die Abnuͤzung einer geraden
                              Schienenbahn bei einer Geschwindigkeit von mehr dann 15 Wegstunden in der Zeitstunde
                              minder zu befuͤrchten seyn, indem bei dieser die Erscheinung des Nestels
                              unbemerkbar ist.
                           
                           Dieser Gegenstand verdient gewiß die sorgfaͤltigste Pruͤfung; denn
                              manche Veraͤnderungen duͤrften sich daraus in den Ansichten ergeben,
                              welche man uͤber den Bau, den Entwurf und die Benuzung der Eisenbahnen, und
                              namentlich uͤber den Bau, das Gewicht und die Dimensionen verschiedener
                              Theile der Locomotiven hegt.
                           Uebrigens duͤrfte der Nestel zum Theil auch der Convexitaͤt der
                              Radfelgen zuzuschreiben seyn. Die Englaͤnder pflegen naͤmlich seit
                              langer Zeit die Raͤder ihrer Waggons kegelfoͤrmig abzudrehen, da diese
                              Form die Kreisbewegung der Wagenzuͤge auf den Curven der Eisenbahnen
                              erleichtert. Wuͤrde man die Radfelgen cylindrisch abdrehen; wuͤrde man
                              den Felgen der vier Raͤder eines Waggons einen und denselben Durchmesser
                              geben, und wuͤrde man in dieser Hinsicht keine Abweichung dulden, so ist es
                              hoͤchst wahrscheinlich, daß der Nestel auf den geraden Bahnlinien schon bei
                              einer geringeren Geschwindigkeit als bei 15 Wegstunden in der Zeitstunde unbemerkbar
                              werden wuͤrde.