| Titel: | Ueber den Einfluß der Blätter des Weinstoks auf die Entwiklung und das Reifen der Trauben. Ein der französischen Akademie der Wissenschaften von Hrn. Gasparin erstatteter Bericht. | 
| Fundstelle: | Band 89, Jahrgang 1843, Nr. CXXIII., S. 455 | 
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                        CXXIII.
                        Ueber den Einfluß der Blaͤtter des
                           								Weinstoks auf die Entwiklung und das Reifen der Trauben. Ein der franzoͤsischen
                           								Akademie der Wissenschaften von Hrn. Gasparin erstatteter Bericht.
                        Aus den Comptes rendus, 1843, 2tes Semester, Nr.
                              									5.
                        Gasparin, üb. den Einfluß des Weinstoks auf die Entwikl. d.
                           								Trauben.
                        
                     
                        
                           Die Blätter führen dem Saft neue Elemente zu, welche sich mit den schon darin
                              									vorhandenen verbinden; einige im Ueberfluß vorhandene Stoffe werden dafür
                              									ausgeschieden. Aber welchen Einfluß hat dieser Zusaz auf den Saft selbst? welche
                              									Verbindungen entstehen durch denselben, die durch jenen Entgang befördert werden?
                              									Kurz, was wird mit dem Safte und der von ihm bewirkten Fruchtbildung, wenn man die
                              									blattartigen Organe vermindert oder ganz entfernt? Hr. Leclerc-Thouin, über dessen Abhandlung ich zu berichten habe, hat
                              									diese Fragen, wenn nicht völlig gelöst, doch zu ihrer Beantwortung einen sehr
                              									beachtenswerten Beitrag geliefert.
                           In vielen Weingegenden wird unter andern Vortheilen das Abzwiken der Spizen des
                              									Rebholzes bald nach dem Ansezen der Traube, so wie das Entblättern oder Ablauben
                              									während des Heranwachsens der Trauben empfohlen; der für das Abzwiken angegebene
                              									Zwek ist, dem Fuße des Weinstoks Kraft zu geben, weil der Saft dadurch in den untern
                              									Theilen erhalten wird, und so eine größere Frucht zu erhalten und ihre Reife zu
                              									befördern. Der Verfasser bemerkt, daß die erste dieser Behauptungen durch die
                              									Beobachtung widerlegt werde, daß jeder Schnitt, sowohl in den troknen (holzigen), als in den grünen Theil wohl zur Wirkung haben kann, die ernährenden
                              									Säfte in den verschiedenen Theilen der Pflanze gleichheitlicher zu vertheilen, daß
                              									er aber niemals zur normalen Zunahme des ganzen Individuums beitrage und die
                              									geschnittene Staude sich immer weniger entwikle als die nicht geschnittene. Was die
                              									Wirkungen auf die Frucht betrifft, stellte der Verfasser mehrere Versuche in
                              									verschiedenen, der Reife mehr oder weniger nahen, Epochen an. Waren die Trauben noch
                              									nicht weit voran, so war kein anderer Unterschied zu bemerken, als geringere
                              									Uebereinstimmung in der Zeit ihrer Reife und daß sich After-Sprößlinge (Sous-bourgeons) entwikelten, welche blüheten und
                              									zur halben Reife gelangten. Wurde der Versuch später vorgenommen, wann der Saft
                              									nicht mehr so  lebhaft
                              									aufstieg und die Spizen der Neben nicht mehr im Wachsen begriffen waren, so blieben
                              									die Trauben, weit entfernt an Größe zuzunehmen, in der Regel in ihrer Entwiklung
                              									stehen, und zwar um so auffallender, je weniger darüber befindliche Ansäze bei der
                              									Operation stehen gelassen wurden. Später endlich, im September, nachdem es kühler
                              									geworden war und man hätte glauben sollen, daß die den Sonnenstrahlen am directesten
                              									ausgesezten Trauben im größten Vortheil wären, hatte das Abzwiken den Erfolg, der
                              									Entwiklung der Trauben zu schaden, ihre Reife zu verzögern, und ihren Zukergeschmak
                              									bedeutend zu schwächen. Das Ablauben schien das Reifen der Früchte sichtbar zu
                              									beeinträchtigen.
                           Endlich entlaubte der Verfasser zwei Weinstöke, jeden mit einigen Trauben, deren
                              									Beeren das Fünftheil ihrer Größe erreicht hatten, gänzlich, und entfernte sofort
                              									alle Blätter, welche von neuen Sprößlingen entwikelt wurden.
                           Die Beeren, welche seit dem ersten Tage der Entlaubung wenig mehr an Gewicht
                              									zugenommen hatten, hörten nun gänzlich zuzunehmen auf; sie fielen eine nach der
                              									andern ab, so daß zur Zeit der Reife gar keine mehr da war. Im folgenden Frühjahr
                              									trieben die beiden Stöke nur mehr schwach. Hr. Leclerc
                              									bestätigt somit, was eigentlich Niemand bezweifelt, die Nothwendigkeit der Blätter
                              									für das normale Leben der Pflanze.
                           Bei dieser Gelegenheit aber beobachtete er eine Erscheinung, welche ihn auf
                              									wichtigere Versuche führte. Eine längs der Mauer einer Orangerie, welche keine Sonne
                              									hatte, hinrankende Rebe bedekte sich frühzeitig mit Laub, welches erst spät im
                              									Herbst wieder abfiel. Diese Blätter waren mit Tröpfchen einer ungefärbten und
                              									geschmaklosen Flüssigkeit bedekt, welche durch die an dieser Stelle schwache
                              									Verdunstung nicht verschwanden. Aber niemals trug der Stok auch nur eine einzige
                              									Weinbeere. Die Temperatur an dieser Stelle war in der Regel höher als außen. Der
                              									Verfasser fragte sich nun, ob der Mangel an Licht oder an Verdunstung die Entwiklung
                              									der Reproductionsorgane verhinderte.
                           Um beide Theile der Frage besonders zu studiren, schloß er am 25. Jul. drei Stöke in
                              									einem Verschlag von Brettern ein, die er mit zwei beglasten und innerlich
                              									geschwärzten Dekeln bedekte. Das zerstreute Licht war derart, daß die Blätter ihre
                              									Farbe behielten und sogar eine noch etwas dunklere annahmen, als außerhalb. Die
                              									genau beobachtete Mittagshize war in der Regel um 5–6 Centesimalgrade höher
                              									als die äußere, die der Nacht hingegen etwas niederer. In diesem Zustand hörten die
                              									Trauben sich zu entwikeln auf, verloren den sauren Geschmak der halbreifen Trauben;
                              									eine  bräunliche Farbe
                              									trat an die Stelle der grünen, ihre Flüssigkeit ergoß sich und zulezt hatten sie nur
                              									mehr die Gestalt und Consistenz einer kleinen schwärzlichen Blase, welche unter dem
                              									Finger plazte.
                           Zu gleicher Zeit nahm der Verfasser zwei andere Stöke in Versuch, welche ebenfalls
                              									von einem Bretterverschlag umgeben, aber mit ungefärbten Fenstern bedekt wurden.
                              									Hier war die Hize noch größer. Beide Stöke trieben außerordentlich kräftig, die
                              									Trauben bildeten sich und wurden ziemlich zu gleicher Zeit so groß wie die nicht
                              									geschüzten; leztere aber hatten schon Zukergeschmak, während diejenigen unter dem
                              									Verschlag sauer blieben; sie faulten gegen die Mitte Octobers zu, ohne ihre Reife
                              									erlangen zu können.
                           Also hindert das völlige Entlauben des Weinstoks die Entwiklung und Reife der
                              									Trauben.
                           Das theilweise Ablauben im Frühjahr ruft die Entwiklung der winkelständigen
                              									Sprößlinge hervor, welche die hinweggenommenen Blätter ersezen; bei vorgerükterer
                              									Zeit, wo die Sprößlinge sich nicht mehr entwikeln können, stört diese Entlaubung die
                              									Entwiklung der Beeren, vermindert die Quantität des Mosts, verzögert die Reife und
                              									beeinträchtigt die Ausbildung des Zukerstoffs (das Kochen).
                           Mangel an Verdunstung und Sonnenstrahlen verhindern die Entwikelung der
                              									Befruchtungsorgane.
                           Ueberfluß an Wasser und folglich mangelnde Verdunstung in warmer, lichtvoller
                              									Atmosphäre ruft eine wuchernde Vegetation der blattartigen Organe hervor, schadet
                              									aber der Ausbildung der Säfte, welche kraftlos bleiben. Die Reife kömmt nicht
                              									vollkommen zu Stande.
                           In feuchter, warmer und dunkler Atmosphäre endlich entwikeln sich zwar die Blätter,
                              									die Säfte aber verlieren ihren Geschmak, nehmen immer mehr ab und der Embryo kann
                              									sich nicht bilden.
                           Die praktischen Resultate dieser Versuche lassen sich leicht ableiten; vielleicht
                              									findet sich in ihnen die Erklärung der engen Begränzung des Weinstokklima's unter
                              									einer zwar vollkommen genügenden Temperatur, aber nebeligem Himmel, welcher den
                              									Glanz der Sonnenstrahlen umschleiert.