| Titel: | Ein Mittel zur Entsäuerung alter abgelagerter Rheinweine; von Justus Liebig. | 
| Fundstelle: | Band 108, Jahrgang 1848, Nr. LXII., S. 300 | 
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                        LXII.
                        Ein Mittel zur Entsäuerung alter abgelagerter
                           Rheinweine; von Justus
                              Liebig.
                        Aus den Annalen der Chemie und Pharmacie, März 1848, S.
                              552.
                        Liebig, über ein Mittel zur Entsäuerung alter abgelagerter
                           Rheinweine.
                        
                     
                        
                           Die meisten Rheinweine, selbst von den günstigsten Jahrgängen und den besten Lagen,
                              enthalten eine gewisse Menge freier Weinsäure, von deren Anwesenheit viele ihrer
                              wesentlichen Eigenschaften abhängig sind. Der Saft aller Traubensorten enthält
                              saures weinsaures Kali (Weinstein), der Saft der am Rheine wachsenden
                              Rieslingtrauben ist in guten Jahren damit gesättigt. Wenn der Most von dieser
                              Traubensorte in Gährung übergeht, so verliert im Verhältniß als der Alkoholgehalt
                              desselben zunimmt, der Weinstein seine Löslichkeit in dieser Flüssigkeit.  Ein Theil davon
                              scheidet sich mit der Hefe ab, in welcher man mit dem Mikroskope, häufig schon mit
                              bloßem Auge, deutliche Krystalle von Weinstein wahrnimmt. Dieser Absatz von
                              Weinstein nimmt in den ersten Jahren beim Lagern zu, die Wände der Fässer bedecken
                              sich mit einer kristallinischen Kruste dieses Salzes, dessen Menge sich eine
                              zeitlang beständig vermehrt. Die Ursache dieser Zunahme ist einleuchtend. In den
                              ersten Jahren ist die Verdunstung des Weins, namentlich in neuen Fässern, besonders
                              beträchtlich, und da die Fässer, um der Verderbniß des Weins zu begegnen, stets voll
                              erhalten werden müssen, so wird bei jedesmaligem Auffüllen in dem Wein, der hierzu
                              dient, eine neue Quantität Weinstein hinzugefügt. Bei weiterem Verdunsten setzt sich
                              dieser Weinstein krystallinisch ab. Dieser Absatz hat aber eine Gränze. Bei dem
                              Auffüllen empfängt nämlich der Wein eine gewisse Menge freier Weinsäure, der Wein
                              wird reicher an dieser Säure, und erhält damit bei einem gewissen Punkte der
                              Concentration das Vermögen, den abgesetzten Weinstein wieder aufzulösen. Beim Lagern
                              vieler, namentlich edler Weine verschwindet bei einem gewissen Zeitpunkt der
                              Weinstein wieder. Bei fortdauerndem Auffüllen nimmt die Säuremenge in gleichem
                              Verhältniß zu, der Geruch und Geschmack des Weins veredelt sich, aber der Gehalt an
                              Säure macht denselben für den Genuß minder angenehm. Für die Liebhaber und die
                              Weinproducenten dürfte deßhalb ein Mittel willkommen seyn, mit dessen Hülfe man die
                              freie Weinsäure hinwegnehmen kann, ohne daß die Qualität des Weins in irgend einer
                              Weise dadurch geändert wird. Dieses Mittel ist reines, neutrales, weinsaures Kali.
                              Für die Chemiker bedarf es in Beziehung auf die Wirkung desselben auf eine
                              Flüssigkeit, welche freie Weinsäure enthält, keiner weiteren Auseinandersetzung.
                              Wenn dieses Salz in concentrirter Lösung zu einer solchen Flüssigkeit gesetzt wird,
                              so entsteht der schwerauflösliche Weinstein (1 Theil davon bedarf 180–200
                              Theile Wasser von gewöhnlicher Temperatur zu seiner Auflösung), die freie Weinsäure
                              verbindet sich mit dem neutralen Salze und scheidet sich als saures Salz aus der
                              Flüssigkeit aus.
                           Setzt man zu 100 Theilen einer Flüssigkeit, welche 1 Gewichtstheil freier Weinsäure
                              enthält, 1 1/2 Gewichtstheile neutrales, weinsaures Kali zu, so scheiden sich in der
                              Ruhe bei 18–19° C. zwei Gewichtstheile Weinstein krystallinisch aus
                              und die Flüssigkeit enthält jetzt 1/2 Gewichtstheil Weinstein gelöst, worin sich nur
                              0,2 Gewichtstheile der ursprünglich freien Weinsäure befinden. In diesem Fall
                              scheiden sich 0,8 der freien Weinsäure aus der Flüssigkeit aus. Wäre die
                              Flüssigkeit, welche die freie Weinsäure enthielt, mit Weinstein gesättigt gewesen,
                              so würde sich der ganze
                              Ueberschuß der freien Weinsäure mit dem zugesetzten weinsauren Kali vollkommen
                              abgeschieden haben.
                           Da nun die alten Weine mit Weinstein gesättigt sind, so sieht man ein, daß man im
                              Stande ist, durch verhältnißmäßigen Zusatz von neutralem weinsaurem Kali alle freie
                              Säure abzuscheiden. Es gibt kein Mittel, welches dem ebenangeführten an Wirksamkeit
                              gleichsteht. Man kann mit Leichtigkeit durch Alkalien und alkalische Erden die
                              Säuren im Wein neutralisiren, aber dieß kann nicht geschehen, ohne die Qualität des
                              Weins wesentlich zu andern. Setzt man, wie dieß am Rheine häufig geschieht, dem Wein
                              Pottasche zu (gewöhnlich wendet man eine gesättigte Auflösung in Zuckersyrup hierzu
                              an), so wird der Wein an Salzen reicher, die Säure wird abgestumpft, aber sie bleibt
                              im Wein in der Form von neutralem weinsaurem Kali. Wendet man Kalk an, so erhält der
                              Wein einen den Kennern leicht bemerklichen Kalkgeschmack. Durch die Wirkung der
                              Alkalien und des Kalks wird eine Verbindung in dem Weine zerstört, welche
                              wesentlichen Antheil an seinem Geschmacke hat, der Wein wird statt und er verliert
                              sein Aroma; ein neutrales Salz, wie das weinsaure Kali, ist auf die im Weine
                              enthaltenen Verbindungen ohne Einfluß. Ich habe dieses Mittel an einem Weine vom
                              Jahr 1811 in Anwendung gebracht, und es war die Verbesserung des Weins, welche
                              dadurch erzielt wurde, im höchsten Grade auffallend. Nach dem Zusatz von 7 Grammen
                              chemisch-reinen weinsauren Kali's auf 1 hessische Maaß (2 Liters) schied sich
                              eine Masse Weinstein ab, und nach acht Tagen war der Wein an Lieblichkeit und mildem
                              Geschmack einem südlichen Weine gleich, ohne irgend eine der Tugenden, welche den
                              Rheinwein auszeichnen, verloren zu haben.
                           Der Herbst 1846 hat vielen Weinproducenten Veranlassung geboten sich zu überzeugen,
                              in welch hohem Grade der Wein, zu ihrem und zum Vortheil der Weinconsumenten,
                              verbessert wird, wenn man dem Moste vor der Gährung
                              6–10 Proc. reinen Zucker zusetzt, wenn man also dem Safte den mangelnden
                              Hauptbestandtheil gibt, den eine kräftigere Sonne unzweifelhaft in größerer Menge
                              erzeugt haben würde. Ich fühle ganz, wie verfänglich es ist, den Weinproducenten
                              gegenüber den Zuckerzusatz zum Moste zu empfehlen, aber alle Chemiker und alle
                              diejenigen, welche sich nicht abhalten ließen einen vergleichenden Versuch zu
                              machen, sind darüber vollkommen einverstanden, daß der Zucker in schlechten
                              Jahrgängen, der Theorie und Praxis gemäß, das einzige Mittel ist, um einen
                              trinkbaren Wein aus einem Moste zu erzielen, der ohne denselben keinen genießbaren
                              Wein geliefert haben würde. Die Besorgniß der meisten Weinbergbesitzer, welche sie
                              vorzüglich zu Gegnern dieser wahren Verbesserung macht, daß nämlich durch den Zuckerzusatz der Werth der
                              guten und der schlechten Weinbergslagen ausgeglichen werde, daß also mit
                              Zuhülfenahme dieses Mittels aus schlechten Lagen dieselben Weine erzielt werden
                              könnten, wie aus guten oder den besten, ist völlig ungegründet. Wenn zwei Weinberge
                              in einem guten Jahrgang Weine von ungleicher Qualität Produciren, so bleibt sich der
                              Unterschied gleich, wenn dem in einem schlechten Jahrgang in beiden gewonnenen Moste
                              eine gleiche Quantität Zucker zugesetzt wird. Die bessere Lage liefert in diesem
                              Fall stets einen besseren Wein. Der Grund hievon ist jedem einleuchtend, welcher in
                              Betracht zieht, daß der Weingeistgehalt allein für die Qualität nicht entscheidend
                              ist. Wäre der Weingeist ein Maaß für den Werth des Weins, so würden der
                              Scharlachberger und manche Pfälzer Weine den meisten Rheingauer Weinen vorangestellt
                              werden müssen.
                           Die folgende Tabelle, welche wir den gewissenhaften und sorgfältigen Versuchen
                              Geigers verdanken, dürfte für jedermann überzeugend seyn.
                           100 Wein vom Jahr 1822 enthielten an absolutem Weingeist:
                           und hinterließen nach dem Abdampfen an trockenem Rückstand:
                           
                              
                                         Ort
                                 
                                       
                                    Traubensorte
                                  Spec.-Gew.
                                    Absol.Weingeist
                                    Trockner  Rückstand
                                 
                              
                                 Steinberg
                                 
                                           
                                    Riesling
                                     1,0025
                                    10,87
                                      9,94
                                 
                              
                                 Rüdesheim
                                 
                                      Riesling,
                                    Orleans
                                     1,0025
                                    12,65
                                      5,39
                                 
                              
                                 Markobrunn
                                 
                                           
                                    Riesling
                                     0,9985
                                    11,6
                                      5,10
                                 
                              
                                 Geisenheim
                                 
                                               „
                                     0,9935
                                    12,6
                                      3,05
                                 
                              
                                 Dienheim
                                 
                                               „
                                     0,9925
                                      9,84
                                      2,18
                                 
                              
                                 Weinheim
                                 
                                      Hubberg,
                                    Riesling
                                     0,9925
                                    11,7
                                      2,18
                                 
                              
                                 Worms
                                 
                                 Liebfrauenmilch, Riesling
                                     0,9930
                                    10,62
                                      2,27
                                 
                              
                                 BingenScharlachberg
                                 
                                    
                                    
                                           
                                    Riesling
                                   nicht best.
                                    12,1
                                  nicht best.Der Alkoholgehalt der beiden Binger Weine ist von Geromont in dem hiesigen Laboratorium
                                          bestimmt.
                                    
                                 
                              
                                 Eisler,
                                 
                                 Kleinberger und Riesling
                                         „
                                    11,9
                                         „
                                 
                              
                                 WiesbadenNeroberg
                                 
                                    
                                    
                                           
                                    Riesling
                                     0,9950
                                    10,83
                                      2,78
                                 
                              
                                 Wiesloch
                                 
                                           
                                    Riesling
                                     0,9945
                                      9,83
                                      2,18
                                 
                              
                           Aus der obigen Tabelle, in welche ich vorzugsweise Weine von derselben Traubensorte
                              aufgenommen habe, und aus den bekannten Preisen derselben ergibt sich, daß der
                              Alkoholgehalt der geschätztesten Weine durchaus nicht im Verhältniß zu ihrem
                              Handelswerthe steht. Der Alkohol ist ein Factor der Werthbestimmung, aber nicht der einzige
                              entscheidende Factor.
                           Wirft man einen Blick auf die obige Tabelle, so fällt sogleich in die Augen, daß die
                              edelsten Weine eine weit größere Menge von festen Substanzen gelöst enthalten, als
                              wie geringere Sorten, ja daß das Gewicht des Rückstandes, den diese Weine nach dem
                              Verdampfen hinterlassen (in der Tabelle sind sie nach der Werthschätzung geordnet),
                              einen weit sichereren Anhaltspunkt zur Beurtheilung ihres Handelswerthes abgibt, als
                              wie die Alkoholbestimmung; diese Substanzen sind es, welche die Säure im Weine
                              verhüllen und ihr die Schärfe im Geschmack nehmen, sie geben dem Weine die
                              dickliche, markige, ölige Beschaffenheit.
                           Unter den in dem Weine vorhandenen extractartigen Materien befindet sich in jungen
                              Weinen Zucker, der beim Lagern allmählich verschwindet und außerdem noch einige
                              wenig gekannte gummiartige Stoffe, die beim Abdampfen des Weins sich mit großer
                              Leichtigkeit bräunen. Auf die Gegenwart dieser Stoffe im Wein scheint vorzugsweise
                              die Bodenbeschaffenheit und Lage des Weinbergs von Einfluß zu seyn, und es ist
                              einleuchtend, daß durch den Zucker die Eigenthümlichkeiten, welche von den letzteren
                              abhängig sind, nicht ersetzt werden können. In Dürkheim wird man also in mittleren
                              oder schlechten Jahrgängen durch Zusatz von Zucker zum Moste einen weit besseren
                              Wein, aber immer nur einen besseren Dürkheimer, in Worms eine bessere
                              Liebfrauenmilch, in Weinheim einen besseren Hubberger, aber niemals einen
                              Steinberger, Rüdesheimer oder eine andere Weinsorte erzielen, und in dieser
                              Beziehung kann die Anwendung des Zuckers merkantilisch keinen Nachtheil haben. Ich
                              bin vollkommen des Widerspruchs der meisten Weinproducenten gewärtig, aber ebenso
                              gewiß, daß in einem Menschenalter in schlechten Jahrgängen (in guten wäre bei einem
                              Zuckergehalt im Moste von 20–25 Proc. ein Zuckerzusatz absurd) längs des
                              ganzen Rheins diese Verbesserung ganz allgemein im Gebrauche seyn wird und daß die
                              Nachkommen über die Bedenklichkeiten und Einwürfe ihrer Vorfahren lächeln werden.
                              Die Natur erzeugt keinen Wein, es ist immer der Mensch der ihn fabricirt, der durch
                              die künstlichen Mittel der sogenannten Veredelung die Naturkräfte nach seinen
                              Zwecken lenkt und wirken läßt.
                           In dem Voranstehenden habe ich erwähnt, daß das neutrale weinsaure Kali ein Mittel
                              ist, um in dem abgelagerten Weine die freie Säure hinwegzunehmen, aber es ist von
                              Wichtigkeit, durch besondere Versuche die Menge dieses Salzes, welche hierzu nöthig
                              ist, im Kleinen zu
                              bestimmen, ein großer Ueberschuß desselben würde auf den Geschmack des Weins von
                              Einfluß seyn.
                           Es muß hier ganz besonders hervorgehoben werden, daß die freie Säure vor der Gährung
                              nicht hinweggenommen werden darf, weil sie es ist, von deren Anwesenheit in der
                              Gährung und im Lagern der Geschmack und die Haupteigenschaften des Weins abhängig
                              sind. Wenn diese Säure vor der Gährung neutralisirt wird, so wird die Gährung damit
                              nicht aufgehalten, aber man erhält eine gegohrene Flüssigkeit, welche dem Weine
                              nicht mehr gleicht, die auch beim Lagern den ihr zukommenden Geruch und Geschmack
                              nicht erhält.
                           Durch eine besondere Gährungsweise wird in Frankreich, namentlich bei den
                              Bordeauxweinen, ein künstliches und zwar ein flüchtiges Bouquet erzeugt, indem man
                              die Gährung in den ungekelterten Trauben bei ziemlich hoher Temperatur und bei sehr
                              wenig beschränktem Luftzutritt vor sich gehen läßt. In den meisten Bordeauxweinen
                              ist dieses flüchtige Bouquet Essigsäureäther, aber es ist wahrscheinlich, daß sich
                              unter diesen Umständen auch Buttersäureäther und Baldriansäureäther erzeugt. Dem
                              Mangel an freier Säure kommt man hier, wie man leicht bemerkt, durch Bedingungen zu
                              Hülfe, welche die Säurebildung befördern.