| Titel: | Ueber Schießbaumwolle und Schießpulver; von Morin. | 
| Fundstelle: | Band 111, Jahrgang 1849, Nr. XCI., S. 429 | 
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                        XCI.
                        Ueber Schießbaumwolle und Schießpulver; von
                           Morin.
                        Aus den Comptes rendus, Januar 1849, Nr.
                              4.
                        Morin, über Schießbaumwolle und Schießpulver.
                        
                     
                        
                           Aus Versuchen der HHrn. Pelouze
                              und Payen geht hervor, daß
                              wenn man Schießbaumwolle andauernd einer Temperatur aussetzt, die bei ordinärer nach
                              Payen 50 bis 60° C., und bei der reinsten und
                              bestbereiteten nach Pelouze 60 bis 80° beträgt,
                              eine langsame aber stetige Zersetzung stattfindet, welche mit einer freiwilligen
                              Explosion endigt. Dadurch werden die von Hrn. Piobert und mir öfters ausgesprochenen
                              Befürchtungen hinsichtlich der Gefahren und Uebelstände, welche die Bereitung und
                              Anwendung der Schießbaumwolle und anderer Schießfasern darbieten,
                              gerechtfertigt.
                           
                           Den Artillerie-Officieren ist es schon lange bekannt, daß man die
                              Schnelligkeit der Entzündung und Verbrennung des Pulvers nicht ungestraft und ohne
                              die Conservirung der Geschütze aufs Spiel zu setzen, vermehren darf, und die
                              Erfahrung hat seit den Jahren 1826 und 1827, wo man statt des alten Stampfpulvers
                              stärkere Pulver anzuwenden versuchte, deren Wirkung die bronzenen Kanonen nicht zu
                              widerstehen vermochten, es nur zu sehr bestätigt.
                           Schon damals zeigte Piobert in seinen Untersuchungen über
                              die Wirkung des Pulvers, daß je schneller das Pulver sich entzündet und verbrennt,
                              desto größer und zerstörender für die Geschützröhre in den ersten Augenblicken der
                              Bewegung des Projectils auch die Spannung des Gases sey. Aus demselben Grunde schlug
                              er später ein neues Verfahren die Geschütze zu laden vor, welches lediglich darin
                              bestund, den von der Ladung eingenommenen Raum zu vergrößern, um dadurch die
                              Spannung der Gase in den ersten Augenblicken der Bewegung des Projectils zu
                              verringern. Versuche rechtfertigten diese Voraussetzungen, denn sie ergaben, daß mit
                              den bronzenen Kanonen vom größten Kaliber, bei dieser Art zu laden, beinahe 3000
                              Schüsse gemacht werden können, bis sie untauglich werden, während früher schon 300
                              Schüsse dazu hinreichten. Hinsichtlich der Schießwolle, welche so rasch verbrennt,
                              kam er zu denselben Schlüssen. Eben deßhalb antwortete ich, als mir mehrere Chemiker
                              verschiedene Schießfasern als ein gutes Ersatzmittel für das gewöhnliche Pulver zu
                              Kriegszwecken übergaben und dabei vorzüglichen Werth auf deren außerordentliche
                              Kraft legten (in der Sitzung des 16. Nov. 1846), daß eben was sie als einen Vorzug
                              betrachten, ein großer und vielen Gefahren aussetzender Fehler sey. Diese
                              Befürchtungen haben sich durch die Erfahrung nur zu sehr gerechtfertigt.
                           Die ersten bei der Fabrication, vorzüglich beim Trocknen der Schießbaumwolle
                              entstandenen Unglücksfälle, die freiwilligen Explosionen in Trockenkammern, deren
                              mittlere Temperatur nur ungefähr 75–80° C. betrug (Sitzung vom 30.
                              Nov. 1846), wurden, bei der den neuen Producten gewordenen Gunst, durch mehr oder
                              weniger wahrscheinliche Ursachen erklärt, und doch ist diese Temperatur gerade
                              diejenige, welche Hr. Pelouze
                              jetzt als eine solche erklärt, welche die Explosion unvermeidlich herbeiführt. Der
                              Unglücksfall aber in der mit Dampf geheizten Trockenanstalt zu Bouchet, wo die
                              Temperatur nie über 45 bis 50° C. steigen kann; dann die Explosion eines
                              kleinen Magazins im Walde von Vincennes, das von einem Pfahlzaun umgeben ist, in
                              welches seit mehrern Tagen niemand gekommen war und das an einem Montag um 5 Uhr
                              Morgens in die Luft sprang, nachdem es Sonntag den ganzen Tag über stark von der Sonne
                              beschienen worden war – diese beide Explosionen finden ihre natürliche
                              Erklärung in den von den HHrn. Pelouze und Payen beobachteten Eigenschaften der Schießbaumwolle.
                           Von dem schrecklichen Ereigniß, welches zu Dartford 20 Menschen das Leben kostete und
                              die Fabrik zerstörte, worin erwiesenermaßen die Temperatur wenig über 80° C.
                              betrug; sowie von dem neuerlichen zu Bouchet, welches den Tod von vier mit dem
                              Einpacken von Schießwolle in Fässer beschäftigten jungen Leuten zur Folge hatte,
                              will ich hier nicht sprechen.
                           Es ist also erwiesen, daß die Schießwolle ohne Gefahr einer Temperatur von 50 bis
                              60° C. andauernd nicht ausgesetzt werden darf. Wie leicht aber können mit
                              Eisenblech gedeckte Munitionswägen und selbst Magazine diese Temperatur erreichen?
                              Das Pulver, dessen Aufbewahrung man mit Recht als so gefährlich betrachtet,
                              explodirt erst bei 300° C., welche Temperatur aber beinahe niemals aus
                              natürlichen, vom Willen des Menschen unabhängigen Ursachen entsteht, und es ist kein
                              Beispiel der freiwilligen Entzündung von Pulver bekannt.
                           Ich gehe nun auf die Wirkungen in andern Waffen über.
                           Ich erinnere zunächst daran, daß ein gußeiserner Probemörser in Folge einer Ladung
                              von nur 46 Grammen Schießbaumwolle barst und einen Pulvermüller schwer verwundete,
                              während aus solchen Mörsern Tausende von Schüssen mit 92 Grammen Pulvers gemacht
                              werden, ohne daß je einer gesprungen wäre. Nach den Dimensionen dieser Mörser konnte
                              die Spannung des Gases, welche das Zerspringen veranlaßte, nicht weniger als 4000
                              Atmosphären betragen. Zur selben Zeit sprang auch ein kleiner schmiedeiserner
                              Probemörser, welcher mit 4,9 Grammen geladen war, verwundete einen Arbeiter und
                              hätte mehrere Artillerie-Officiere beinahe getödtet. Der Berechnung nach
                              betrug die Spannung des Gases wenigstens 4000 bis 4500 Atmosphären.
                           Von einer Kommission von Artillerie-Officieren, welcher die HHrn. Pelouze und Combes beigegeben waren, wurden zahlreiche
                              Versuche mit größter Sorgfalt angestellt. Die Versuche wurden hinsichtlich der
                              Waffen, der Ladungen und der explodirenden Körper abgeändert, und ich kann, obwohl
                              man mit dieser Arbeit noch nicht zu Ende ist, doch einige Resultate derselben
                              mittheilen.
                           Für die Flinten wurde zuerst mittelst des Pendelgradbogens die Ladung von
                              Schießbaumwolle bestimmt, welche der Kugel einer Infanterieflinte dieselbe
                              Geschwindigkeit mittheilt, wie die Ladung von 8 Gram. Schießpulvers, und dieselbe =
                              2,86 Grammen gefunden.
                           
                           Hierauf wurden diese äquivalenten Ladungen aus Läufen von abnehmenden Längen
                              abgeschossen und zwar von dem der 1,083 Meter langen Infanteriestinte ausgehend; die
                              Längen der Läufe standen in folgendem Verhältniß zum Kaliber oder Durchmesser der
                              Kugel: 64, 49, 32, 29, 22, 16, 11, 7, 5 und 4mal das Kaliber.
                           Die den Kugeln mitgetheilten Geschwindigkeiten wurden mittelst des Pendelgradbogens
                              gemessen, indem man stets auf gleiche Entfernung schoß.
                           Nach den Resultaten dieser Versuche konnte man die den Kugeln durch gleiche Ladungen
                              und bei verschiedenen Längen der Seele mitgetheilte lebendige Kraft bestimmen, wobei
                              sich die Wirkung der schnellern Verbrennung der Schießbaumwolle herausstellte und
                              ergab, daß in den ersten Augenblicken der Bewegung des Projectils die Spannung der
                              durch diese Substanz entbundenen Gase mehr als doppelt (wenigstens 2,30mal) so groß
                              als die der Pulvergase ist. Ferner hat sich hinsichtlich der Schießbaumwolle
                              ergeben, daß bei Ladungen über 4–5 Gramme hinaus die Kugeln ihre Gestalt
                              gänzlich verloren und sich oft in mehrere unregelmäßige Bruchstücke zertheilten,
                              wodurch der Schuß ganz unsicher wurde.
                           Als man dessenungeachtet fortfuhr mit zunehmenden Ladungen zu schießen, fand man, daß
                              beinahe alle Flintenläufe schon bei den ersten Schüssen mit einer Ladung von 7 bis
                              7,5 Grammen Schießbaumwolle (aus kardirter Baumwolle) barsten, während bei den
                              gewöhnlichen Proben diese Läufe einer Ladung von 27,5 Grammen seinen Jagdpulvers
                              widerstehen. Nun ist es aber im Felde nichts Seltenes, daß ein Gewehr zwei, ja
                              selbst drei Ladungen erhält, und man sieht, was dieß bei Schießbaumwolle für Folgen
                              hätte.
                           Noch mehr: es ist aus langer Erfahrung bekannt, daß eine gewöhnliche
                              Infanterieflinte, ohne zu bersten oder untauglich zu werden, 25 bis 30,000 Schüsse
                              mit der Ladung von 8–10 Grammen Schießpulvers aushalten kann; die Versuche
                              aber ergaben, daß neue Flintenläufe schon nach etwa 500 Schüssen mit der schwachen
                              Ladung von 2,86 Grammen Schießbaumwolle fast sämmtlich barsten.
                           Ich füge noch bei, daß von unserer Artillerie die mannichfaltigsten Versuche
                              angestellt wurden, um die Schnelligkeit der Verbrennung der Schießbaumwolle zu
                              vermindern; die Baumwolle wurde dazu kardirt, mehr oder weniger zusammengedrückt,
                              gesponnen, gezwirnt, gewoben, in Form von Pappe, in Klümpchen, oder in Pulvergestalt
                              etc. genommen; deßgleichen wurden die explodirenden Präparate von Hanf,
                              Holzsägespänen etc. versucht, aber alle diese Versuche scheiterten und es wurde nichts damit erreicht,
                              als daß man minder kräftige, in ihren Wirkungen veränderlichere, aber doch eben so
                              gefährliche, wo nicht gefährlichere Substanzen erhielt, als das Präparat von
                              kardirter Baumwolle ist.
                           Das Schießpapier, welches Hr. Pelouze für kräftiger hielt als die Schießwolle, wurde mit
                              verschiedenen Papiersorten bereitet und auch das von ihm selbst verfertigte probirt.
                              Die Resultate des Schusses mit diesem Präparat waren sehr unregelmäßig und immer
                              jenen der Schießbaumwolle nachstehend, in der Regel ganz null. Die Kugeln traten
                              kaum aus den Flinten hervor.
                           Den Versuchen mit den Flinten folgten andere mit bronzenen Geschützen, die mit einer
                              12pfünder Kanone ausgeführt wurden, deren Pulver-Ladung in der Regel 2
                              Kilogr. betrug. Den vorausgehenden Beobachtungen zufolge hätte die entsprechende
                              Schießbaumwolle-Ladung ungefähr 700 Gramme betragen müssen; aus Vorsicht aber
                              wurde mit allmählich steigenden Ladungen von 200, 300, 400 etc. Grammen angefangen.
                              Es ergab sich, daß die geeignete Dichtigkeit, um mit Schießwolle das Maximum von
                              Geschwindigkeit zu erhalten (wie bei den Flinten) 0,33 war (8 Schießpulver: 2,86
                              Schießbaumwolle).
                           Nach erst fünf bei dieser Dichtigkeit gemachten Schüssen mit einer Ladung von 400
                              Gram zeigte die Kanone schon einige Beschädigungen.
                           Nach fünf weitern Schüssen mit derselben Ladung und 0,500 Dichtigkeit nahmen die
                              Beschädigungen rasch zu. Beim ersten darauffolgenden Schuß mit einer Ladung von 500
                              Grammen wurde der Zündkern gehoben und aus der Stelle gerückt. Nach 15 Schüssen mit
                              gleicher Ladung betrug die Vertiefung des Kugellagers 5,2 Millim., weßhalb die
                              Kanone schon als untauglich zurückgestellt zu werden verdiente. Das Innere der Seele
                              war in dem Theil, welchen die Ladung einnahm, angefressen und an der obern Kante in
                              der Nähe des Zündkerns zeigte sich eine Furche. Man ging nun auf die Ladung mit 600
                              Grammen über und schon nach 15 Schüssen war das Kugellager = 7,5 Millimeter. Die
                              Beschädigungen der Seele waren so groß, daß der Stückstelenmesser (étoile mobile) sie nicht mehr anzeigen konnte.
                              Als hierauf die Ladung von 700 Grammen angewandt wurde, zeigten sich nach fünf
                              Schüssen gegen das vordere Ende vom Bodenstück zahlreiche Sprünge, und da der Schuß
                              nun ganz unregelmäßig wurde, führte man das Geschütz an den Kugelfang, wo nach zehn
                              weiteren Schüssen mit 700 Grammen Ladung die anfängliche Furche vor dem Zündkern auf
                              4 Centimeter verlängert und auf 3–4 Millimeter erweitert wurde.
                           Demnach war diese Kanone nach ungefähr 55 Schüssen mit Ladungen von 400 bis 700
                              Grammen schon ganz zu Grunde gerichtet.
                           
                           Solchen Resultaten gegenüber kann über die zerstörende Wirkung der so raschen
                              Explosion der Schießbaumwolle auf Flinten und Kanonen kein Zweifel mehr seyn; ich
                              muß vielmehr gestehen, daß sie meine Erwartungen noch weit übertraf, und gewiß wird
                              man jetzt anerkennen, daß ich mit Recht gleich Anfangs diese merkwürdige Substanz
                              für mehr gefährlich als nützlich erklärte.