| Titel: | Mittheilungen aus dem Laboratorium für technische Chemie in Braunschweig. | 
| Fundstelle: | Band 192, Jahrgang 1869, Nr. LXXXIII., S. 298 | 
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                        LXXXIII.
                        Mittheilungen aus dem Laboratorium für technische
                           								Chemie in Braunschweig.
                        Mittheilungen aus dem Laboratorium für technische Chemie in
                           								Braunschweig.
                        
                     
                        
                           I. Bedingungen der Bildung des Chlorkalkes; von Tschigianjanz, Fricke und
                                 										Reimer.
                           Bei der Einwirkung des gasförmigen Chlors auf pulverförmigen Kalk hat man von jeher
                              									in Theorie und Praxis dem Wassergehalt des gelöschten Kalkes einen wesentlichen
                              									Einfluß zugeschrieben. Die Angaben  über diesen Punkt gehen jedoch im Einzelnen in sehr
                              									auffallender Weise auseinander.
                           Nach Weiß wird das Chlorgas von trockenem Kalkhydrat unter
                              									Lichtentwickelung aufgenommen. Nach Morin nimmt der Kalk
                              									mit½ Atom Wasser gelöscht ¼ Atom Chlor, mit 1–2 Atom. Wasser
                              									gelöscht ½ Atom Chlor auf. — Löscht man Kalk mit viel Wasser und
                              									befreit ihn durch Erhitzen bei einer Temperatur über 100#x00B0; C. von dem
                              									ungebundenen Wasser, so nehmen nach Houton-Labillardiére 47 Gewichtstheile dieses trockenen Hydrates 53
                              									Gewichtstheile Chlor auf. — Ure's Versuche sind
                              									mit einem Kalk angestellt, den er „atomic
                                    											protohydrate of pure lime“ nennt; dem von ihm angegebenen
                              									Wassergehalt nach (auf 46,0 Gewichtstheile Calciumoxyd 14,6 Gewichtstheile Wasser
                              									oder 24,1 Proc.) muß jenes völlig trockenes Hydrat gewesen seyn, welches 24,3 Proc.
                              									Wasser verlangt. Das Product daraus enthielt 40,3 Proc. Chlor. — Nach Sh. Muspratt bildet trockenes Kalkhydrat einen Bleichkalk mit
                              									36 Proc. Chlor. — Nach Th. Graham ist Kalkhydrat,
                              									über Schwefelsäure getrocknet, zur Aufnahme von Chlor vorzüglich geeignet, während
                              									bei 100° C. getrocknetes Kalkhydrat gar kein Chlor aufnimmt. Die letztere
                              									Beobachtung bestätigte neuerdings Bolley, nach welchem
                              									bei 100° getrocknetes Kalkhydrat in trockenem Chlorgas nichts erhebliches
                              									aufnimmt und so gut wie keine Gewichtsänderung zeigt.
                           Wie man sieht, widersprechen sich diese Angaben zumeist in Bezug aus das Verhalten
                              									des trockenen Kalkhydrates; nach Einigen nimmt dieses reichlich, bis zu 40 Proc.,
                              									selbst über 50 Proc. Chlor aus; nach Anderen verhält Es sich zu Chlorgas völlig
                              									indifferent. Von vornherein war Es sehr unwahrscheinlich, daß diese Widersprüche auf
                              									bloßem Irrthum beruhten, die Angaben wiesen vielmehr darauf hin, daß wahrscheinlich
                              									irgend ein dritter, nicht gehörig beachteter Umstand im Spiel sey, von dem das
                              									Verhalten des Kalkhydrates bestimmt werde. Namentlich wies die Unterscheidung des
                              									bei 100° und des über Schwefelsäure getrockneten Kalkhydrates von Seiten
                              									eines hervorragenden Beobachters wie Graham auf das
                              									Vorhandenseyn eines solchen Umstandes hin. In diesem Sinne sind nachfolgende
                              									Beobachtungen angestellt worden.
                           Es handelte sich zunächst um ein reines Material für die Versuche. Man bereitete
                              									reinen Kalk durch Brennen und Löschen vor. Bekanntlich ist Es keine ganz leichte
                              									Sache, den Kalk durch Glühen völlig von Kohlensäure zu befreien, ohne ihn todt zu
                              									brennen. Der Kalk, wie er im gewöhnlichen Leben gebraucht wird, ist schwerlich
                              									jemals völlig caustisch. Auch bei sorgfältigstem Ausglühen im Kleinen wollte Es
                              									nicht gelingen die Kohlensäure vollständig auszutreiben, der gebrannte Kalk brauste
                              										 stets merklich mit
                              									Säuren aus. Die Umwandlung in reinen caustischen Kalk gelingt jedoch leicht und mit
                              									Sicherheit, wenn man den einmal gebrannten Kalk mit Oel tränkt und ein zweitesmal
                              									glüht. Oel ist vor anderen organischen Stoffen geeignet, weil Es bequem mit dem Kalk
                              									zu mischen, reich an Kohlenstoff ist und keine Asche hinterläßt. Auf diese Weise bei
                              									mäßiger Rothgluth im Tiegel und Windofen bei Holzkohle georannter Kalt unterscheidet
                              									sich von dem gewöhnlichen schon sehr bestimmt durch die Art wie er sich löscht.
                              									Gewöhnlicher Kalk reagirt anfangs gar nicht gegen das Wasser, er liegt eine Zeit
                              									lang, auch der fetteste Kalk oft mehrere Minuten, eingetaucht ehe Wärmeentwickelung
                              									und Aufquellen beginnt. Läßt man dagegen ein Stück nach obiger Weise gebrannten
                              									(reinen) Kalkes in's Wasser fallen, so löscht Es sich augenblicklich unter hellem
                              									Zischen wie eine glühende Kohle. Als reiner Kalk zum Brennen diente in erster Linie
                              									künstlich dargestellter kohlensaurer Kalk durch Fällen einer Lösung von reinem Chlor
                              									calcium und kohlensaurem Ammoniak. In zweiter Linie diente ein weißer Marmor, in
                              									verdünnter. Salzsäure ohne Rückstand auflöslich, der nur Spuren von Bittererde
                              									enthielt. Um ein möglichst gleichförmiges und durchaus feinzertheiltes
                              									klumpenfreies, nicht durch Ueberhitzung sandig gewordenes Product zu erhalten,
                              									löschte man den gebrannten Kalk der einen oder anderen Art, indem man ihn stückweise
                              									in einen großen Ueberschuß von Wasser eintrug, die entstandene Kalkmilch einige
                              									Stunden stehen ließ, dann von den etwaigen gröberen Theilchen durch Abschlämmen
                              									trennte, die so erhaltene geschlämmte Kalkmilch in geschlossenen Glascylindern
                              									absitzen ließ, das klare Kalkwasser abzog und den weißen Schlamm zu einer
                              									zusammenhängenden noch feuchtenfeuch;en Masse eintrocknete, die sich aber bröckeln ließ. In diesem Zustand wurde
                              									sie für die Verwendung in festverschlossenen Flaschen aufbewahrt.
                           Bei diesem vorläufigen Trocknen war man natürlich bedacht, jede Aufnahme von
                              									Kohlensäure abzuhalten. So weit sich das Wasser nach dem Absitzen der Kalkmilch
                              									nicht mit dem Heber (Pipette) entfernen Ließ, entfernte man Es durch Filtration oder
                              									Saugen mit Fließpapier und füllte den Schlamm rasch in ein geräumiges etwa
                              									schuhlanges Glasrohr. Durch dieses Rohr saugte ein Tröpfelgerinne einen Luftstrom,
                              									durch Schwefelsäure von Wasser, durch Aetznatron von Kohlensäure befreit.
                           Zunächst gieng die Absicht dahin, die Beobachtung von Graham zu wiederholen. Man trocknete einen Antheil des als feuchte Masse
                              									gewonnenen gelöschten Kalkes im luftverdünnten Raum über Schwefelsäure, einen
                              									anderen im Wasserbad, in der Liebig'schen Trockenröhre,
                              									bis kein Gewichtsverlust mehr stattfand. Ueber jede dieser Proben wurde  dann etwa 1½ Stunden
                              									lang ein Strom von Chlor geleitet; die im Wasserbad getrocknete blieb zu dem Ende in
                              									der Liebig'schen Trockenröhre, die über Schwefelsäure
                              									getrocknete füllte man in eine solche, vorher tarirte Röhre um. Um das nicht
                              									gebundene Chlor auszutreiben, leitete man zuletzt eine Zeit lang kohlensäurefreie
                              									Luft durch die mit dem Kalk beschickten Röhren.
                           Zur Entwickelung des Chlors diente ein bis zum Hals mit Haselnuß großen
                              									Braunsteinstücken gefüllter Kolben; durch ein S förmig
                              									gekrümmtes Rohr goß man von Zeit zu Zeit in mäßigen Antheilen soviel Salzsäure zu
                              									als nöthig war den Braunstein damit gehörig feucht zu erhalten. Ein Ofen mit
                              									Gasbrenner in niedrigster Stellung der Flämmchen gab die erforderliche Wärme. Der
                              									Chlorstrom gieng zunächst durch zwei Woulff'sche Flaschen
                              									mit Wasser, dann durch eine dritte Woulff'sche Flasche
                              									mit concentrirter Schwefelsäure, ferner durch eine längere Röhre mit Chlorcalcium
                              									und von da, wo er als rein betrachtet worden, durch die Liebig'schen Trockenröhren mit dem Kalkhydrat. Die Trockenröhren konnten
                              									durch ein darunter befindliches Gefäß mit Wasser nach Belieben abgekühlt werden. Das
                              									Ergebniß war wie folgt:
                           1) Im Wasserbad getrocknetes Kalkhydrat:
                           
                              
                                 Gewicht der Röhre mit Kalkhydrat nachdem kein Gewichtsverlust mehr
                                    											stattgefunden
                                 10,7925 Grm.
                                 
                              
                                 Gewicht der Röhre an sich
                                 9.4060 Grm.
                                 
                              
                                 
                                 ––––––––––––
                                 
                              
                                 getrockntes Kalkhydrat
                                 1,3865 Grm.
                                 
                              
                                 Gewicht der Röhre mit Kalkhydrat nach der Behandlung mit Chlor
                                 10,8060 Grm.
                                 
                              
                                 Gewicht der Röhre vorher
                                 10,7925 Grm.
                                 
                              
                                 
                                 ––––––––––––
                                 
                              
                                 Gewichtszunahme durch Chlor
                                 0,0135 Grm.
                                 
                              
                                     oder 0,98 Proc. des Kalkhydrates.
                                 
                                 
                              
                           Es hatte daher so gut wie keine Gewichtszunahme des Kalkhydrates in 1½Stunden
                              									stattgefunden, also auch keine Aufnahme von Chlor. Während des Darüberleitens von
                              									letzterem war nicht die geringste Erwärmung bemerklich, also das untrügliche Zeichen
                              									der Reaction des Chlors auf das Kalkhydrat nicht eingetreten.
                           2) Ueber Schwefelsäure getrocknetes Kalkhydrat: Schon ein vorläufiger qualitativer
                              									Versuch zeigte entschiedene Aufnahme des Chlors unter Erwärmung. Bei dem
                              									quantitativen Versuch erlitten 2,503 Grm. des angewendeten Kalkhydrates eine
                              									Gewichtszunahme durch Chlor von1,5245 Grm., entsprechend 60,95 Proc. des
                              									Kalkhydrates. Es hatten daher 2,503 Grm. Kalkhydrat 4,0275 Grm. oder fast 161 Proc.
                              									Chlorkalk geliefert und zwar unter lebhafter Wärmeentwickelung, so daß die  Röhre mehrmals durch
                              									Eintauchen in das Gefäß mit Wasser gekühlt werden mußte. Nach der Methode von Otto mit schwefelsaurem Eisenoxydul titrirt gab das
                              									Product 29,9 Proc. Chlor.
                           Darnach fand die Angabe von Graham (beziehungsweise die
                              									von Bolley) ihre volle Bestätigung: über Schwefelsäure
                              									getrocknetes Kalkhydrat verhält sich wesentlich anders, als im Wasserbad
                              									getrocknetes Kalkhydrat. Es lag nahe, als Ursache dieser so auffallenden
                              									Verschiedenheit eine unvollständige Entfernung des nicht gebundenen Wassers aus dem
                              									Kalkhydrat im luftverdünnten Raum über Schwefelsäure zu vermuthen. In der That war
                              									dem so:
                           3) Das Gewicht einer Trockenröhre mit Kalkhydrat betrug, als
                           
                              
                                 keine Abnahme über Schwefelsäure mehr stattfand
                                 12,6355 Grm.
                                 
                              
                                 Gewicht der Röhre an sich 
                                 9,4055 Grm.
                                 
                              
                                 
                                 –––––––––––––––
                                 
                              
                                 des über Schwefelsäure getrockneten Kalkes
                                 3,2300 Grm.
                                 
                              
                           Im Wasserbad mit einem von Kohlensäure befreiten Luftstrom behandelt bis das Gewicht
                              									sich gleichblieb, wog die Röhre mit dem Kalkhydrat noch 12,6225 Grm., hatte also bei
                              									100° C. um 12,6355 – 12,6225 = 0,0130 Grm. oder 0,402 Proc. des
                              									Kalkhydrates abgenommen. Es scheint demnach die Gegenwart eines Rückhaltes von
                              									ungebundenem Wasser die Bedingung zur Aufnahme des Chlors durch Kalkhydrat. Daß eine
                              									so kleine Menge Wasser schon den entscheidenden Einfluß übt, kann nicht gerade
                              									befremden, insofern Es sich lediglich um die Einleitung des Processes handelt, der
                              									nachher unter Abscheidung von gebundenem Wasser von Molecül zu Molecül
                              									fortschreitet.
                           Es blieb noch übrig, nach den Regeln wissenschaftlicher Beobachtung diese Thatsache
                              									durch Wiederholung des Versuches vollkommen festzustellen. Der Erfolg hat bewiesen,
                              									daß man eine solche Vorsichtsmaßregel nie unterlassen soll. Wir lassen zuerst das
                              									Ergebniß folgen.
                           4) Ueber Schwefelsäure im luftverdünnten Raum getrocknetes Kalkhydrat ;
                           2,312 Grm. des getrockneten Kalkhydrates ergaben nach dem Darüberleiten von Chlor
                              									1¼ Stunde lang in dem oben beschriebenen Apparat eine Gewichtszunahme von
                              									1,3965 Grm. oder 60,40 Proc. des Kalkhydrates; 100 Gewichtstheile dieses letzteren
                              									hatten daher 160,4 Gewichtstheile Bleichkalk geliefert. Mit schwefelsaurem
                              									Eisenoxydul titrirt, gab dieser 32,69 Proc. Chlor.
                           5) Im Wasserbade bei 100° C. getrocknetes Kalkhydrat: Als solches diente die
                              									Probe von Versuch (3). Diese hatte nach dem Trocknen
                           
                           
                              
                                 über Schwefelsäure im luftverdünnten Raum gewogen
                                 3,2300 Grm.,
                                 
                              
                                 sie hatte bei 100° verloren noch
                                 0,0130 Grm. 
                                 
                              
                                 
                                 –––––––––––––––
                                 
                              
                                 wog mithin bei 100° getrocknet
                                 3,2170 Grm. 
                                 
                              
                           Nach der Behandlung mit Chlor, wobei lebhafte Wärmeentwickelung eintrat, ergab sich
                              									eine Gewichtszunahme durch Chlor von 1,8092 Grm. oder 56,24 Proc. des Kalkhydrates;
                              									100 Thle. des letzteren gaben daher 156,24 Chlorkalk, welcher bei der Titrirung wie
                              									oben eine Stärke von 32,25 Proc. Chlor auswies. Man hatte bei diesem Versuch hinter
                              									das Rohr mit dem Kalkhydrat während der Behandlung mit Chlorgas eine
                              									Chlorcalciumröhre angefügt zur Bestimmung des bei der Aufnahme des Chlors
                              									abgeschiedenen Wassers. Man erhielt:
                           
                              
                                 Gewicht des Chlorcalciumrohres nach dem Versuch
                                 15,8327 Grm.
                                 
                              
                                 Gewicht des cholorcalciumrohres vorher
                                 15,7967 Grm.
                                 
                              
                                 
                                 ––––––––––––
                                 
                              
                                 Wasser
                                 0,0360 Grm.
                                 
                              
                           6) Zu einem ähnlichen Ergebniß führte auch der folgende Versuch mit unmittelbar bei
                              									100° C. getrocknetem Kalkhydrat. Das bis zum Aufhören des Gewichtsverlustes
                              									getrocknete Kalkhydrat wog 2,0635 Grm. und ergab nach der Behandlung mit Chlor eine
                              									Gewichtszunahme von 1,5040 Grm., entsprechend 72,88 Proc. des Kalkhydrates, so daß
                              									100 Gewichtstheile des letzteren 172,88 Bleichkalk lieferten, dessen Stärke bei der
                              									Titrirung sich zu 37,8 Proc. Chlor ergab.
                           
                              
                                 Das (wie im Vers. 5) angehängte Chlorcalciumrohrwog nach der
                                    											Behandlung mit Chlor
                                 23,939 Grm.
                                 
                              
                                 vorher
                                 23,922 Grm.
                                 
                              
                                 
                                 ––––––––––––
                                 
                              
                                 weggegangenes Wasser
                                 0,017 Grm.
                                 
                              
                           Die Versuche 5) und 6) führten mithin bei ganz gleicher Behandlung und gleicher
                              									Vorsicht auf ein dem Versuch 1) völlig widersprechendes Ergebniß. In diesem
                              									letzteren Fall so gut wie keine Reaction des Chlors, in jenen beiden Fällen Bildung
                              									von Chlorkalk in aller Form. Insofern auch bei den Versuchen 5) und 6) das
                              									Kalkhydrat getrocknet war bis Es nichts mehr an Gewicht verlor, ganz wie bei Versuch
                              									1), konnte ein etwaiger Rückhalt an Feuchtigkeit nicht wohl als Ursache des
                              									abweichenden Verhaltens angenommen werden. Denn eine Steigerung der Temperatur beim
                              									Trocknen des Kalkhydrates über 100° hinaus bewirkte kaum noch
                              									Gewichtsveränderung: 3,455 Grm. im Wasserbad getrocknetes Kalkhydrat, die im
                              									Wasserbad 0,014 Grm. an Gewicht verloren hatten, minderten sich im Paraffinbad bei
                              									120° nach längerer Zeit nur noch um 0,002 Grm. Dagegen war das Kalkhydrat der
                              									Versuche 5) und 6) von anderer Darstellung als das von Versuch 1); Es lag daher  nahe, an eine
                              									Verschiedenheit des angewendeten Präparates, an eine Beimengung oder Unreinheit zu
                              									denken, die untergelaufen seyn mochte. Bei der näheren Untersuchung dieses
                              									Kalkhydrates von Versuch 5) und 6) zeigte sich in der That, daß dieses nach dem
                              									Auflösen in verdünnter Salzsäure einen nachweisbaren Rückstand von Papierfasern
                              									hinterließ, welche von dem gebrauchten Filtrum herstammten. Durch die Einwirkung des
                              									Chlors auf diese organische Substanz mochte eine, wenn auch geringe, doch zur
                              									Einleitung der Chlorkalkbildung hinreichende Menge Wasser gebildet worden seyn. Denn
                              									daß dazu Bruchtheile von einem Procent des Kalkhydrates genügen, war nach Versuch 1)
                              									und 2) ja außer Zweifel.
                           Um darüber in's Reine zu kommen, stellte man frisches Kalkhydrat auf dem Eingangs
                              									beschriebenen Wege dar, entfernte jedoch das Wasser mit gänzlicher Ausschließung von
                              									Filtern durch bloßes Decantiren und Abgießen. Die so von organischen Fasern
                              									vollkommen freie feuchte Masse von Kalkhydrat wurde dann im Wasserbad bis zum
                              									Einstehen des Gewichtes getrocknet und dem Chlorstrom ausgesetzt, Alles wie bei den
                              									vorhergehenden Versuchen. Schon eine qualitative Probe ergab lebhafte
                              									Wärmeentwickelung und ein Product von entschiedener Bleichkraft auf Indiglösung;
                              									entsprechend führte ein quantitativer Versuch auf folgendes Ergebniß:
                           7) 2,530 Grm. getrocknetes Kalkhydrat nahmen bei dreiviertel Stunden langer
                              									Behandlung durch Chlor um 1,3195 Grm. zu, entsprechend 52,15 Proc. des
                              									Kalkhydrates
                           Als Gegenversuch trocknete man das Kalkhydrat obiger Darstellung statt im Wasserbad
                              									vielmehr im Paraffinbad bei 120°C. (also noch weit unter der Temperatur, bei
                              									welcher das Hydratwasser weggeht) bis kein Gewichtsverlust mehr stattfand und
                              									leitete dann das Chlor im langsamen Strome darüber. Da nur sehr schwache
                              									Wärmeentwickelung stattgefunden, so brach man den Versuch nach einer halben Stunde
                              									ab.
                           8) Gewicht des getrockneten Kalkhydrates 4,2845Grm., Gewichtszunahme durch Chlor
                              									0,8720 Grm., entsprechend 20,35 Proc. des Kalkhydrates.
                           Aus den Beobachtungen bis dahin geht hervor, daß die Trocknung des Kalkhydrates bei
                              									100° C. und darüber die Reaction des Chlors zwar in einigen, aber keineswegs
                              									in allen Fällen aufhob. In diesen letzteren Fällen konnte weder ein Rückhalt an
                              									hygroskopischem Wasser, noch Gegenwart von organischer Substanz im Spiel seyn und
                              									mußte daher eine weitere Ursache vorhanden seyn, welche die Einwirkung des Chlors
                              									auf den Kalk bedingt. Die Vermuthung lag nahe, daß diese dritte Ursache nicht in dem
                              									Kalkhydrat, in seiner Bereitung und Beschaffenheit,  sondern anderswo gelegen sey.
                              									Man dachte zunächst an das Chlor. Bei der sehr sorgfältigen und mehrfachen
                              									Austrocknung des immer sehr langsam entwickelten Chlorstromes war ein Rückhalt von
                              									Feuchtigkeit in diesem Gas von vorn herein sehr unwahrscheinlich. In der That gab
                              									auch entwässertes schwefelsaures Kupferoxyd nicht die geringste Reaction auf
                              									Feuchtigkeit. Dagegen war die Annahme nicht ganz abzuweisen, daß das Chlor trotz
                              									mehrmaligem Waschen mit Wasser nicht ganz frei von Chlorwasserstoff zu dem
                              									Kalkhydrat gelange. In Folge der Bindung der beigemischten Chlorwasserstoffsäure
                              									durch das Kalkhydrat zu Chlorcalcium würde Wasser gebildet und disponibel, möglicher
                              									Weise in einem zur Einleitung der Chlorkalkbildung geeigneten Zustande.
                           Um die dem Chlor beigemischte Chlorwasserstoffsäure von vorn herein möglichst
                              									wegzuschaffen, fügte man an den Kolben zur Entwickelung des Chlors ein drei Fuß
                              									langes Glasrohr mit gröblich zerschlagenem Braunstein, ließ den Chlorstrom von da
                              									durch drei Waschflaschen mit destillirtem Wasser und durch die Trockenapparate wie
                              									anfangs gehen. Die Versuche nach dieser Vorbereitung, mit chemisch reinem
                              									Kalkhydrat, getrocknet bei 120° C., führten zu folgenden Zahlen:
                           9) 4,5575 Grm. Kalkhydrat erlitten eine Gewichtszunahme durch Chlor um 0,048 Grm.;
                              									ebenso
                           10) 4,3140 Grm. Kalkhydrat um 0,0240 Grm., entsprechend 1,05 Proc. und 0,55 Proc.
                              									Gewichtszunahme. Die Reaction des Chlors auf das Kalkhydrat war demnach zwar auf
                              									einen kleinen Betrag zurückgedrängt, aber nicht verschwunden, und insofern die
                              									Wirkung des mit Braunsteinstücken gefüllten Rohres vielleicht nicht erschöpfend.
                              									Dieß führte auf den Gedanken, zwischen diese Braunsteinsäule und die übrigen Glieder
                              									des Apparates ein zollweites zwei Fuß langes Rohr mit fertigem Bleichkalk
                              									einzuschalten. Man erhielt so:
                           11) von 4,020 Grm. Kalkhydrat, bei 120° C. getrocknet, eine Gewichtszunahme
                              									von 0,008 Grm.; ferner
                           12) von 2,421 Grm. eine Zunahme von 0,005 Grm., entsprechend 0,20 Proc. für beide
                              									Versuche, wobei das Chlor ¾ bis 1 Stunde lang ununterbrochen übergeleitet
                              									wurde. Die Reaction des Chlors auf das Kalkhydrat war nun kaum mehr als den
                              									unvermeidlichen Beobachtungsfehlern zugeschrieben werden kann. Für die schwebende
                              									Frage war Es nun von Interesse, nach vollständiger Fernhaltung der
                              									Chlorwasserstoffsäure, das Verhalten des im Wasserbade und des nur über
                              									Schwefelsäure unter der Luftpumpe, statt bei 120° C. im Paraffinbad,
                              									getrockneten Kalkhydrates zu untersuchen. Es mußte sich dann der Einfluß eines
                              									Rückhaltes von Feuchtigkeit an sich herausstellen, während bei  den früheren Versuchen ein
                              									Rückhalt von Chlorwasserstoff mit im Spiel war. Man erhielt:
                           13) von 2,976 Grm. im Wasserbad getrocknetem Kalkhydrat eine Zunahme von 0,031
                              									Grm.;
                           14) von 2,571 Grm. über Schwefelsäure getrocknetem Kalkhydrat eine Zunahme von 0,895
                              									Grm.
                           Das Kalkhydrat im Wasserbade getrocknet nahm daher um 1,25 Proc., über Schwefelsäure
                              									getrocknet um 34,81 Proc. zu. Kein Zweifel demnach, daß ein kleiner Rückhalt von
                              									Feuchtigkeit vollkommen hinreicht die Aufnahme des Chlors einzuleiten, oder die
                              									Umwandlung des Kalkes in Chlorkalk zu veranlassen, je nach dem Betrag. In dem bei
                              									100° C. getrockneten Kalk scheint die Feuchtigkeit nicht hinreichend um
                              									Chlorkalk von der vollen Stärke auch nach längerer Einwirkung zu erzeugen, denn das
                              									Product von Nr. 14 gab mit schwefelsaurem Eisenoxydul geprüft nur 23,4 Proc.
                              									Chlor.
                           Bis dahin war das Material der Versuche stets chemisch reiner Kalk von der im Eingang
                              									beschriebenen Darstellung. Gegenversuche wurden angestellt um zu sehen, wie sich der
                              									gewöhnliche gelöschte Kalk verhält, wie ihn die Chlorkalkfabriken anwenden. Dazu
                              									diente gelöschter Kalk von einer Baustätte bei 120° C. im Paraffinbade
                              									getrocknet in dem Apparat wie bei Versuch 11 u. ff.
                           15) 3,415 Grm. Kalkhydrat nahmen zu um 0,027 Grm.;
                           16) 3,575 Grm. Kalkhydrat ebenso um 0,035 Grm., entsprechend 0,79 Proc. und 0,98
                              									Proc.
                           Somit schien festzustehen, daß der Angriff des Chlors auf Kalkhydrat durch kleine
                              									Mengen von Feuchtigkeit oder von Chlorwasserstoff oder von beiden zugleich bedingt
                              									werde, ohne daß jedoch bei möglichster Ausschließung dieser Bedingungen die Reaction
                              									völlig aufhört. Es trat vielmehr auch in diesem Falle eine Gewichtszunahme des
                              									Kalkhydrates ein, die sich in engen Grenzen um etwa 1 Proc. bewegte. Um zu sehen, ob
                              									diese beschränkte Einwirkung des Chlors sich nicht beseitigen lasse, wurden die
                              									Versuche mit reinem bei 120° C. getrocknetem Kalkhydrat wieder aufgenommen
                              									und das Chlor aus dem zur Entwickelung dienenden Kolben nacheinander durch eine
                              									Röhre mit Braunsteinstücken, eine Röhre mit fertigem Bleichkalk, durch
                              									Chamäleonlösung, durch vier Flaschen mit destillirtem Wasser, eine Flasche mit
                              									Schwefelsäure, zwei Röhren voll Glasstücke mit Schwefelsäure befruchtet und zwei
                              									Chlorcalciumröhren geleitet. Man ließ den Chlorstrom je 1 Stunde lang auf das
                              									Kalkhydrat einwirken. Um den Zeitpunkt zu erkennen, wo die Luft aus diesem
                              									weitläufigen Apparat verdrängt ist und das Chlor aus dem  Apparat anfängt auszutreten,
                              									ließ man den Gasstrom vor seinem Entweichen durch eine Flasche mit Lackmustinctur
                              									streichen. Die Farbe des Chlors giebt übrigens schon ein sehr gutes Merkzeichen ab,
                              									um seinen Durchgang und den Moment zu erkennen, wo Es zu dem Kalkhydrat gelangt. Man
                              									ließ das Chlor von diesem Zeitpunkt an gerechnet je 1 Stunde lang einwirken.
                           Zur großen Befremdung des Beobachters blieb jene geringe Einwirkung des Chlors trotz
                              									der sorgfältigen Reinigung desselben nicht nur nicht aus, sondern schlug mit einem
                              									Mal dergestalt in's äußerste Gegentheil, im Widerspruch mit den vorhergehenden
                              									Ergebnissen um, wie aus den folgenden Zahlen der Versuche ersichtlich:
                           17) 1,365 Grm. Kalkhydrat nahmen zu um 0,919 Grm.;
                           18) 0,868 Grm. Kalkhydrat nahmen zu um 0,507 Grm., entsprechend 67,39 Proc. und 58,41
                              									Proc. des Kalkhydrates.
                           Offenbar war neben dem Einfluß von Spuren von Feuchtigkeit und Chlorwasserstoff im
                              									Chlor noch eine weitere sehr mächtige Ursache, welche die Reaction des Chlors auf
                              									Kalkhydrat bedingt, eine Ursache die mitunter fast ganz zurück-, mitunter
                              									völlig in den Vordergrund tritt, eine Ursache endlich, die sowohl außerhalb des
                              									Chlors, als auch außerhalb des Kalkhydrates gelegen seyn muß. Bei dem Ausschluß
                              									aller übrigen Momente war Es nicht mehr schwer, als diese Ursache die Temperatur zu
                              									erkennen, unter welcher das Chlor mit dem Kalk in Berührung ist.
                           Die Einwirkung des Chlors beginnt, wo sie überhaupt Platz greift, jedesmal an dem
                              									vordersten, d. h. dem kommenden Chlorstrom zugekehrten Ende der Kalkschichte und
                              									schreitet von da unter sehr fühlbarer Erhitzung sehr allmählich nach hinten vor,
                              									auch wenn das ganze Rohr mit Chlor erfüllt ist und dieses im Ueberschuß abzieht. In
                              									den anfänglichen Versuchen hatte man die Röhre mit Kalk einigemal durch Eintauchen
                              									in Wasser, einigemal durch Auflegen von befeuchteten Papierstreifen, man hatte sie
                              									zum Theil von vorn herein, zum Theil erst abgekühlt, nachdem einige Erwärmung
                              									eingetreten, man hatte dieß endlich ganz unterlassen, wenn Es überflüssig schien.
                              									Bei den Versuchen 17) und 18) insbesondere war das Rohr mit Kalkhydrat ohne andere
                              									Abkühlung als die durch die Luft des Laboratoriums geblieben. In keinem Fall hatte
                              									man Sorge getragen die Erwärmung vom Beginn aus unmöglich zu machen. Dieß geschah
                              									bei den folgenden Versuchen durch Einschichten der Liebig'schen Röhre in Eis; alles Uebrige blieb wie bei 17) und 18); nur daß
                              									man das Chlor möglichst langsam, unter öfterem Löschen der den Kolben erwärmenden
                              									Gasflamme, entwickelte:
                           
                           19) 1,375 Grm. Kalkhydrat nahmen zu um 0,021 Grm.;
                           20) 1,826 Grm. Kalkhydrat nahmen zu um 0,041 Grm., entsprechend 2,12 Proc. und 2,24
                              									Proc. Gewichtszunahme.
                           Ein Gegenversuch mit über Schwefelsäure getrocknetem Kalkhydrat gab dagegen bei
                              									1½ stündigem Ueberleiten von Chlor:
                           21) von 1,003 Grm. Kalkhydrat eine Zunahme von 0,495 Grm., entsprechend 49,35
                              									Proc.
                           Demnach wird absolut trockenes Kalkhydrat bei 0° C. nicht wesentlich
                              									verändert, Kalkhydrat mit Spuren von Feuchtigkeit aber bei dieser Temperatur in
                              									Chlorkalk umgewandelt.
                           Um den Einfluß der Temperatur noch entschiedener darzuthun, unterwarf man dieselbe
                              									Probe Kalkhydrat, bei 120–130° im Paraffinbad getrocknet, der Wirkung
                              									des Chlors erst im Eisbad, dann ohne dieses in der abgetrockneten Röhre, ohne den
                              									Apparat auseinander zu nehmen, je 1 Stunde lang:
                           22) 1,3185 Grm. Kalkhydrat, von Eis umgeben, nahmen zu um 0,0275 Grm.; ohne Eis, nur
                              									von Luft umgeben, noch um 0,903 Grm., entsprechend 2,08 Proc. und 68,48 Proc.
                           23) 1,129 Grm. Kalkhydrat, mit Eis umgeben, nahmen zu um 0,020 Grm.; mit Luft ohne
                              									Eis noch um 0,716 Grm., entsprechend 1,77 und 63,42 Proc.
                           Alles zusammengefaßt steht fest, daß ein Rückhalt von Wasser von 0,4 Proc. (wie
                              									Kalkhydrat über Schwefelsäure getrocknet) und darüber, bei jeder Temperatur die
                              									Bildung von Chlorkalk bedingt; daß bei 100 bis 130° C. getrocknetes
                              									Kalkhydrat bei 0° C., wenn Es sich erwärmen kann, in Chlorkalk verwandelt
                              									wird, aber bei Abkühlung auf die gewöhnliche Temperatur oder 0° C. keine oder
                              									doch nur sehr unerhebliche Veränderungen zeigt.
                           Diese unerheblichen Gewichtszunahmen zeigen, wo sie auftreten, eine auffallende
                              									Uebereinstimmung des Betrages. In der That betrug die Gewichtszunahme in den
                              									Versuchen mit Eisabkühlung:
                           
                              
                                 Nr.
                                 19
                                 
                                 20
                                 
                                 22
                                 
                                 23
                                 
                                 im Mittel
                                 
                              
                                 
                                 2,12
                                 —
                                 2,24
                                 —
                                 2,08
                                 —
                                 1,77
                                 —
                                 2,05 Proc.
                                 
                              
                           Bei der niederen Temperatur dieser Versuche gieng kein Wasser aus der Liebig'schen Röhre weg, das angefügte Rohr mit
                              									Chlorcalcium zeigte keine Gewichtsveränderung. In den vorhergehenden Versuchen, wo
                              									dieß allerdings der Fall war, erscheint die Gewichtszunahme geringer, nämlich in
                              									Versuch:
                           
                              
                                 1
                                 
                                 9
                                 
                                 13
                                 
                                 15
                                 
                                 16
                                 
                                 im Mittel
                                 
                              
                                 0,98
                                 —
                                 1,05
                                 —
                                 1,25
                                 —
                                 0,79
                                 —
                                 0,98
                                 —
                                 1,01 Proc.
                                 
                              
                           
                           Es muß dahin gestellt bleiben, woher diese Erscheinung rührt, ob auch der bei höherer
                              									Temperatur getrocknete Kalk noch Spuren von Wasser enthält, oder ob sie zufällig
                              									ist.