| Titel: | Ueber den praktischen Werth des Velocipedes; von G. Heim. | 
| Fundstelle: | Band 194, Jahrgang 1869, Nr. LXXIX., S. 407 | 
| Download: | XML | 
                     
                        LXXIX.
                        Ueber den praktischen Werth des Velocipedes; von
                           									G. Heim.
                        Aus dem württembergischen Gewerbeblatt, 1869, Nr.
                              									46.
                        Heim, über den praktischen Werth des Velocipedes.
                        
                     
                        
                           Kaum sind drei Jahre verflossen, seitdem gleichzeitig verschiedene Pariser Mechaniker
                              									der Welt gezeigt haben, daß der Mensch im Stande ist, sich auf einer Maschine mit
                              									2 Rädern fortzubewegen, ohne anders den Boden zu berühren, und schon ist dieses
                              										„Velociped“ in allen Welttheilen verbreitet; anfänglich nur
                              									als turnerisches Geräthe benutzt, sucht man immer mehr dieser Maschine ihre
                              									praktische Seite abzugewinnen, und wenn ihre Verbesserungen und die Reduction des
                              									Preises noch einige Jahre gleichen Schritt halten, so wird auch bald das Velociped
                              									zu den „unentbehrlichen“ Hausgeräthen gezählt werden. Leider
                              									ist diese schöne Erfindung mit einem unglücklichen Namen zur Welt gekommenDer Deutsche hätte alle Ursache, den Namen „Draisine“ für sie zu reclamiren; denn schon vor
                                    											etwa 40 Jahren wurde sie, – allerdings in etwas minder vollkommener
                                    											Construction – von dem badischen Forstmeister Drais in Anregung und Ausübung gebracht. Handelt es sich übrigens
                                    											um einen die Maschine sprachlich bezeichnenden Namen, so wäre wohl analog
                                    											dem „Steckenpferd“ die Benennung
                                    												„Radpferd“ die richtige. Bereits hat einer unserer
                                    											Herren Mitarbeiter (Gewerbeblatt Nr. 9) die Velocipedisten in
                                    												„Tretreiter“ wie wir glauben ganz passend
                                    											übersetzt. Anm. der Red. des württemb. Gewerbebl. und mußte sich dafür das Gespött von Jung und Alt gefallen lassen; meinten
                              									doch die Meisten, es sey eine Wettrennmaschine erfunden worden, mit der es nun der
                              									Mensch im Laufen mit dem Pferd aufnehmen könne oder müsse. Und wirklich liegt auch
                              									für den Anfänger die Versuchung sehr nahe, anstatt 70 bis 100 Tritten in der
                              										Minute,Wenn nicht anders bemerkt ist, so beziehen sich im Folgenden die Anzah Tritte
                                    											beider Füße auf die Zeitdauer der Minute, die Geschwindigkeit und
                                    											Met.-Kilogr. auf die der Secunde. wobei die tägliche Leistung eines Mannes ein Maximum ist, 130 bis 150 zu
                              									machen, um eine Geschwindigkeit von 4 Metern wie ein Pferd im Galopp anzunehmen. Bei
                              									so großer Geschwindigkeit ist aber der Fahrwiderstand weit größer (als er weiter
                              									unten angegeben wird) und zudem ist der mechanische Effect, welchen ein Mann auf die
                              									Dauer auszuüben vermag, alsdann nicht halb so groß als bei 80 Tritten; überdieß
                              									arbeitet der Anfänger auch mit geringerem Effect als der Geübte, und so kommt es,
                              									daß Velocipedisten sich bisweilen in einer Stunde so sehr ermüden und erhitzen, daß
                              									es recht schädliche Folgen haben kann.
                           Solche Eiferer haben dem Ansehen und der Verbreitung des Velocipedes schon viel
                              									geschadet: mögen deßhalb auch diese Zeilen dazu beitragen, daß von dieser Maschine
                              									nur das Mögliche erwartet werde, daß Anfänger zur Erlernung des Fahrens den für sie
                              									besten Weg einschlagen und vor pecuniärem Schaden bewahrt bleiben.
                           Zum Fahrenlernen eignen sich am besten Maschinen mit 80 bis 90 Centimeter
                              									Treibraddurchmesser, welche ein Anfänger nicht kaufen, sondern aus einer
                              									Velocipedschule borgen sollte; dabei wird er Gelegenheit haben, sich mit Geübten zu
                              									messen und nach 1 bis 2 Monaten beurtheilen können, welche Größe, ob 100 oder 110 Centim.
                              									Treibraddurchmesser sich für die Länge seiner Beine und seine erreichbare
                              									Geschicklichkeit im Aufsteigen etc. am besten eignen. Künftige Constructionen werden
                              									wahrscheinlich noch auf größere Räder führen, indem bei solchen der Fahrwiderstand
                              									geringer ist; den folgenden Berechnungen aber sey ein Durchmesser von 110 Centimeter
                              									oder 3,456 Meter Radumfang zu Grunde gelegt.
                           Während bekannt ist, daß ein Fußgänger von mittlerer Kraft auf ebener Straße täglich
                              									9 Wegstunden à 4500 Meter = 40500 Meter weit
                              									gehen kann, und sich dabei nur so weit ermüdet, daß er Tag für Tag diese Strecke
                              									zurücklegen kann, so weiß man auch, daß derselbe Mann, wenn er an einem Tretrad oder
                              									ähnlichen Maschinen arbeitet, täglich in 8 Stunden 259000 oder per Secunde 9 Meter-Kilogramme Arbeit verrichten
                              									kann. Beim Velocipedfahren sind nur wenig stärkere Kniebeugungen erforderlich, so
                              									daß anzunehmen ist, ein sehr geübter Velocipedist werde per Secunde 8 Meter-Kilogr. ausüben können, wofür jedoch mit
                              									Rücksicht auf weniger Geübte im Nachfolgenden nur 7 Met.-Kilogr. per Secunde alltäglich 8 Stunden lang ausgeübte Arbeit
                              									angenommen werden.
                           Nun fragt es sich, wie weit kann sich ein Velocipedist alltäglich mit dieser
                              									Kraftäußerung fortbewegen?
                           Die vom Verfasser auf verschiedenen horizontalen Wegen angestellten Versuche haben
                              									ergeben, daß der Fahrwiderstand, d.h. der erforderliche horizontale Zug zur Bewegung
                              									des Velocipedes mit 2 bis 3 Meter Geschwindigkeit ist:
                           
                              
                                 auf trockenen vorzüglich unterhaltenen Straßen
                                    											oder       sehr festem feinem
                                    											Sandwegauf trockenerMerkwürdig ist, wie ganz trockene Straßen durch Thau bisweilen so
                                          													viel Feuchtigkeit aufnehmen, daß es sich auf denselben fast
                                          													schlechter fährt, als auf morastigen Wegen. gewöhnlich guter
                                    											Landstraße      
                                    											durchschnittlichauf trockenen gewöhnlich guten Vicinalwegen,
                                    											wenn       der Velocipedist
                                    											die beste Bahn
                                    											auszuwählen       versteht,
                                    											durchschnittlich
                                 1/60 bis 1/801/461/42
                                 
                                    
                                    
                                 des Gewichtesdes
                                    											MannessammtMaschine.
                                 
                              
                           Nimmt man aus letzteren Zahlen den Mittelwerth 1/44 und das Gewicht des Mannes = 68
                              									und der Maschine = 36 Kilogr., zusammen = 104 Kilogr., so findet man die mittlere
                              									Zugkraft = 2,36 Kilogr. auf horizontaler Straße. Macht überdieß der Mann 97 Tritte,
                              									bewegt sich also mit
                              									2793 Meter Geschwindigkeit, so legt er in 8 Stunden 80456 Meter, d. i. 18
                              									Reisestunden, mithin doppelt so viel Weg zurück, als obiger Fußgänger in 9 Stunden.
                              									Dabei muß er 2,36 × 2,793 = 6,6 Meter-Kilogr. Arbeit leisten, also
                              									noch weniger, als oben angenommen wurde.
                           Wenn nun gleich nach Vorstehendem das Velociped geeignet erscheint, den Menschen auf
                              									große Entfernungen zu befördern, so wird dieser Eigenschaft doch schwerlich ein
                              									besonderer praktischer Werth zugestanden werden. Weit größer scheint dessen Nutzen
                              									zu seyn, wenn man im Stande wäre, mit dem Velociped eine Entfernung von 3
                              									Reisestunden d. i. 13500 Meter in einer Stunde zurückzulegen, und dabei sich in
                              									dieser einen Stunde nicht mehr zu ermüden, als ein Fußgänger in dreien. Hierzu müßte
                              									ein Velocipedist 3,75 Met. per Secunde zurücklegen,
                              									folglich 130 Tritte machen und hätte Arbeit zu leisten
                           3,75 104/40 = 9,75 Met.-Kilogr.,
                           indem bei so großer Geschwindigkeit der Fahrwiderstand größer
                              									als 1/44 etwa = 1/40 ist. Es hätte nun gar keinen Anstand, daß ein Mann anstatt 3
                              									Stunden zu gehen, eine Stunde lang 9,75 oder auch 10 Meter-Kilogr. leisten
                              									würde, allein nur bei höchstens 100 Tritten; bei 130 aber ist die Leistungsfähigkeit
                              									der meisten Menschen schon so gering, daß die oben gestellte Aufgabe nur von sehr
                              									geübten Velocipedisten von ungewöhnlicher Körperstärke wird gelöst werden können.
                              									Dagegen kann schon ein minder Geübter in einer Stunde 2 1/2 Reisestunden
                              									zurücklegen, ohne sich mehr zu ermüden, als ein Fußgänger. Hiermit wäre der
                              									praktische Werth des Velocipedes ziemlich genau ermittelt, und es bleibt Nur noch
                              									übrig, das Befahren von Straßen mit Gefälle zu
                              									erörtern.
                           Um eine Steigung von 3 Procent aufwärts mit 1,8 Meter Geschwindigkeit zu befahren,
                              									darf ein Velocipedist nur 63 Tritte machen und muß
                           1,8 . 104 (1/44 + 1/33) = 9,92 Met.-Kil.
                           leisten. Beinahe die gleiche Anstrengung muß aber auch der
                              									Fußgänger machen und kommt doch nur 0,7mal soweit per
                              									Secunde, folglich ist auch hier der Velocipedist im Vortheil, und geht es wieder
                              									bergab mit 3 Proc. Gefälle, so wird er ohne zu treten circa 3,6 Meter Geschwindigkeit annehmen und holt die Zeitversäumniß beim
                              									Bergauffahren fast wieder ein, wobei er überdieß durch Auflegen der Beine auf die
                              									Wadenträger ausruhen kann, während der Fußgänger bergab
                                 										ebensosehr ermüdet wie auf ebener Straße. – Aehnlich verhält es sich auf Straßen mit
                              									verschiedenartigem Gefälle, so daß der Velocipedist bei gleicher Anstrengung und in
                              									gleicher Zeit doppelt so weit kommt als der Fußgänger, und erst wenn die Steigungen
                              									mehr als 4 Procent betragen, stellt sich die Rechnung weniger günstig für das
                              									Velociped, indem bei 50 und weniger Tritten die Leistung des Mannes wieder eine
                              									geringere ist, und durch das dann nöthige Bremsen viel Arbeit verloren geht.
                           Anschließend an Obiges dürften noch einige Notizen über die Beurtheilung
                              									verschiedener Maschinen am Platze seyn. Es ist einleuchtend, um wie viel mehr sich
                              									obige Rechnungen zu Gunsten des Velocipedes stellen müssen, wenn dem Fahrenden noch
                              									bessere Straßen zu Gebote stehen, wo der Fahrwiderstand nur 1/50 oder weniger ist.
                              									Fast ebenso wichtig wie die Beschaffenheit der Straße ist aber auch die der Maschine
                              									und insbesondere die der Räder. Bestünden die kleinen harten Unebenheiten der Straße
                              									aus einem vollkommen elastischen Materiale, so würde ein solcher Buckel die beim
                              									Auflaufen des Rades auf denselben aufgenommene Kraft beim Ablaufen wieder abgeben
                              									und die Maschine liefe ebenso leicht über Erhöhungen wie auf ebenem
                              									Sandsteintrottoir, wo der Fahrwiderstand weniger als 1/100 ist. Eben dasselbe fände
                              									statt, wenn anstatt der Straße die Räder vollkommen elastisch wären. Einigermaßen
                              									elastisch sind dieselben wohl alle, allein in sehr verschiedenem Grade, und es ist
                              									die schwierigste Aufgabe des Velocipedfabrikanten, Räder herzustellen, welche bei
                              									großer Festigkeit an ihrem ganzen Umfang und an jeder Stelle ganz gleichmäßig
                              									gespannt und elastisch sind. Es ist dieß von so großem Einfluß auf die Güte der
                              									Maschine, daß von zwei sonst ganz gleich aussehenden Velocipeden auf ein und
                              									derselben Straße das eine einen Fahrwiderstand von 1/35 und das andere nur 1/45
                              									ergeben kann.
                           Der größere oder kleinere Vorzug der einen Maschine vor einer anderen läßt sich
                              									übrigens recht leicht und zuverlässig auf folgende Art ermitteln. Man wähle eine
                              									gute Straße mit 2 1/2 bis 3 Procent Steigung aus; auf dieser mögen beide
                              									Velocipedisten gleichzeitig und hinter einander anfänglich mit etwa 80 Tritten
                              									fahren; auf ein gegebenes Zeichen hören beide zu treten auf und in kurzer Zeit wird
                              									ihr Abstand größer oder kleiner werden, d.h. die Maschine des Vorreiters würde als
                              									besser oder geringer erscheinen. Hierauf machen beide die Probe noch einmal, indem
                              									der Vorreiter jetzt hinten nachfährt; sodann werde diese doppelte Probe wiederholt,
                              									indem die beiden Fahrenden ihre Maschinen vertauschen und wieder ohne zu treten das
                              									Gefälle abwärts fahren. Auf diese Weise läßt sich ein richtiges Urtheil über den
                              									relativen Werth zweier und mehrerer Velocipede erlangen.
                           
                           Möge das Gesagte dazu beitragen, ebensowohl allzugroße Erwartungen als Vorurtheile
                              									gegen diese Erfindung auf das rechte Maaß zurückzuführen und das Velociped, wo es in
                              									seiner jetzigen Gestalt Nutzen bringen kann, einzuführen.