| Titel: | Ueber Natur und Constitution der Gerbsäure; von Dr. Hugo Schiff. | 
| Fundstelle: | Band 201, Jahrgang 1871, Nr. LXXI., S. 271 | 
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                        LXXI.
                        Ueber Natur und Constitution der Gerbsäure; von
                           								Dr. Hugo
                              								Schiff.
                        Aus den Berichten der deutschen chemischen Gesellschaft zu
                                 										Berlin, 1871, Nr. 5.
                        Schiff, über die Natur der Gerbsäure.
                        
                     
                        
                           Die Frage nach der Natur der Gerbsäure hat die Chemiker schon vielfach beschäftigt,
                              									und nur über wenige andere Fragen liegen so verschiedenartige, scheinbar sich
                              									widersprechende Angaben vor. Es ist offenbar, daß die rohe Gerbsäure Glykose
                              									enthält, und daß diese nicht als bloßer Gemengtheil in ihr vorhanden ist. Es ist
                              									Thatsache, daß der Zuckergehalt von verschiedenen Forschern sehr wechselnd gefunden
                              									wurde, und daß man denselben durch geeignete Reinigungsverfahren auf nur wenige
                              									Procente reduciren kann, ohne daß die Gerbsäure nur im geringsten veränderte
                              									Reactionen zeigte. Während die Einen die Gerbsäure als Glykosid ansprechen, glauben
                              									sich die Anderen vollkommen berechtigt, ihre Glykosidnatur zu läugnen, und es bleibt
                              									uns immer die schon seit langer Zeit aufgeworfene und noch nicht beantwortete Frage:
                              									welches ist die Natur und die Konstitution der Gerbsäure?
                           Die folgende Mittheilung wird geeignet erscheinen, einen Beitrag zur endlichen Lösung
                              									dieser Frage zu liefern. Mischt man wohlgereinigte und gut krystallisirte, bei
                              									110° C. getrocknete Gallussäure mit Phosphoroxychlorid bis zur Consistenz
                              									einer Emulsion und erhitzt diese im Wasserbade zuerst auf 100° C., später im
                              									Oelbade bis 120° C., so erfolgt reichliche Entwickelung von Salzsäure, welche
                              									schließlich sehr nachläßt. Die Gallussäure ist in ein gelbes Pulver verwandelt,
                              									welches man zunächst durch Decantation mehrmals mit wasserfreiem Aether wäscht. Vom
                              									Rückstand entfernt man den Aether durch gelindes Erwärmen und löst ihn dann in wenig
                              									Wasser. Nach zwölf Stunden sammelt sich am Boden eine Krystallisation von
                              									unverändert gebliebener Gallussäure (etwa 10 Proc. der angewandten Menge). Sättigt
                              									man die davon abgegossene gelbrothe Lösung mit gepulvertem Kochsalz, so erstarrt die
                              									ganze Masse; man fügt mehr Kochsalz zu und erreicht hierdurch, daß die gefällte
                              									Masse sich zu einer harzartigen Masse zusammenzieht, von welcher der größte  Theil der Salzlösung
                              									abgegossen werden kann. Man wäscht noch zweimall mit Salzlösung, trocknet die
                              									Harzmasse unter der Luftpumpe vollkommen aus, löst in wenig absolutem Weingeist zur
                              									Trennung von Kochsalz, fügt zur alkoholischen Lösung ein mehrfaches Volum Aether,
                              									filtrirt, destillirt den Aether ab und trocknet den amorphen Rückstand im Vacuum
                              									aus.
                           Der firnißartig eintrocknende, etwas gefärbte (aber fast farblos zu erhaltende)
                              									Rückstand zeigt sämmtliche Reactionen,
                                 										Löslichkeitsverhältnisse, physikalische Eigenschaften, Geschmack etc.,
                              									welche man gewöhnlich als für Gerbsäure charakteristisch betrachtet. Es ist die erste vollkommen zuckerfreie Gerbsäure. Sie
                              									wurde durch Kochen mit Salzsäure gänzlich in
                              									krystallisirte Gallussäure, und diese ein zweitesmal in Gerbsäure übergeführt.
                           In verschiedenen Portionen fand ich bis jetzt:
                           51,7–52,3 C und 3,8–4,1
                              										H.
                           Die Frage nach der Natur der Gerbsäure beantwortet sich hiernach:
                           Die Gerbsäure ist ein alkoholisches Anhydrid der Gallussäure,
                                 										höchst wahrscheinlich Digallussäure.
                           Die Beziehung zwischen beiden Säuren spricht sich in folgenden Formeln aus:
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 201, S. 271
                              Gallussäure; Gerbsäure.
                              
                           Die in den Gerbsäure gebenden Pflanzen enthaltene Verbindung ist wahrscheinlich ein
                              									sehr leicht zersetzbares Glykosid einer Polygallussäure, vielleicht von der von Strecker vorgeschlagenen Zusammensetzung. Die amwenigsten gereinigte Gerbsäure wäre hiernach die
                              										reinste. Mit der Formel von Strecker kann das Zerfallen in Glykose, Ellagsäure und Digallussäure
                              									gewissermaßen erklärt werden, wie ich dieß später in einer ausführlicheren
                              									Abhandlung zeigen werde. Bis jetzt habe ich mittelst Phosphoroxychlorid aus
                              									Gallussäure keine Ellagsäure erhalten, wie auch Digallussäure bei ihrer Umwandlung
                              									in Gallussäure keine Ellagsäure liefert. Reine Gerbsäure hat mir aber beim Behandeln
                              									mit Phosphoroxychlorid bei 130–140° C. etwas Ellagsäure geliefert.
                              									Letztere 
                              									scheint ein erstes alkoholisches Anhydrid der
                              									Digallussäure zu seyn, wenn sie nicht etwa einer höher condensirten Polygallussäure
                              									entspricht.
                           Ich darf nicht vergessen hier daran zu erinnern, daß I. Löwe bereits vor zwei Jahren eine sich wie Gerbsäure verhaltende Substanz
                              									durch Zersetzung von gallussaurem Silber, und Ellagsäure durch Behandeln von
                              									Gallussäure mit Arsensäure erhalten hat. Es konnten diese Resultate nicht zur
                              									Erkenntniß der Constitution der Gerbsäure führen, weil Löwe diese Zersetzungen als Oxydationsprocesse auffaßte. Ich werde später
                              									versuchen diese Reactionen zu erklären.
                           Wir sind wohl berechtigt zu glauben, daß die mannichfachen verschiedenartigen
                              									Condensationen der Gallussäure und die diesen Condensationen entsprechenden aciden
                              									und alkoholischen Anhydride, wichtige Aufschlüsse über die Constitution vieler
                              									Gerbstoffkörper und über die zwischen denselben statthabenden Beziehungen bieten
                              									werden.
                           Florenz, Istituto superiore,
                              									März 1871.