| Titel: | Die Dampfmaschinen-Steuerungen auf der Wiener Weltausstellung 1873; von Ingenieur Müller-Melchiors. | 
| Fundstelle: | Band 212, Jahrgang 1874, Nr. XXXIX., S. 261 | 
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                        XXXIX.
                        Die Dampfmaschinen-Steuerungen auf der
                           Wiener Weltausstellung 1873; von Ingenieur Müller-Melchiors.
                        Mit Holzschnitten und Abbildungen auf Tab. V.
                        (Fortsetzung von S. 187 des vorhergehenden
                           Heftes.)
                        Müller-Melchiors, über die Dampfmaschinen-Steuerungen
                           auf der Wiener Weltausstellung 1873.
                        
                     
                        
                           Dagegen hat die letzte der hier zu behandelnden Steuerungen – die von Guinotte – das Problem der veränderlichen
                              Expansion durch Veränderung des Hubes und des
                              Voreilungswinkels mittels Coulissen auf eine so sinnreiche Weise gelöst, daß eine
                              nähere Besprechung derselben hier jedenfalls am Platze ist.
                           Doch bevor es möglich ist, den eigentlichen Mechanismus der auf der Ausstellung
                              befindlichen Steuerung zu erklären, wird es zunächst erforderlich sein, die
                              leitenden Gesichtspunkte des Erfinders, wie sie derselbe in einer eigenen
                              SchriftEtude générale sur la détente
                                       variable par LucienGuinotte. Liège 1872. selbst dargelegt hat, an dem beim Beginne dieses Abschnittes bereits
                              aufgestellten Diagramme (Holzschnitt I S. 81) zu
                              verfolgen.
                           Wir hatten aus demselben zwei Classen von Steuerungen mit veränderlicher Expansion
                              abgeleitet, je nachdem der Expansions-Schieberkreis e, oder der Distanzkreis OL verändert
                              wurde.
                           Letzterer bleibt nun im vorliegenden Falle wie auch bei den vorangegangenen
                              Coulissen-Steuerungen constant, d.h. der Expansionsschieber besteht aus einer
                              unveränderlichen, auf dem Vertheilungsschieber gleitenden Platte; der Mittelpunkt
                              des Expansions-Schieberkreises aber soll nach einem bestimmten Gesetze
                              verschoben werden, um alle Füllungen von Null bis zu der durch den
                              Vertheilungsschieber erreichbaren Maximalfüllung zu gestatten.
                           Nachdem aber, um keine Nachfüllung zu erhalten, der zweite Durchschnittspunkt M des Expansions-Schieberkreises e mit dem Distanzkreise OL
                              (Holzschnitt X) stets hinter die Kurbelstellung
                              OR – welche den Dampfabschluß durch den
                              Vertheilungsschieber anzeigt – fallen muß, so glaubt Guinotte das gesuchte Bewegungsgesetz für den Mittelpunkt des
                              Expansions-Excenters in der Bedingung gefunden zu haben, daß alle verschiedenen Expansions-Schieberkreise den
                                 constanten Distanzkreis OL in demselben, hinter OR liegenden Punkte M
                                 schneiden sollen.
                           Ohne hier schon näher darauf einzugehen, daß diese Bedingung eine ganz willkürliche
                              ist und durchaus keine vollkommene Dampfvertheilung erzielen läßt, seien noch die
                              weiteren Schlußfolgerungen des Constructeurs in Kürze dargelegt.
                           
                              
                              Holzschnitt X, Bd. 212, S. 262
                              Aus der aufgestellten Bedingung folgt, daß der geometrische Ort aller
                                 Mittelpunkte e der Expansions-Schieberkreise
                                 für die verschiedenen Füllungen durch die Grade eo
                                 ev, senkrecht
                                 im Halbirungspunkte von OM, gegeben wird, auf
                                 welcher der Schieberkreis eo die Minimalfüllung Null, der
                                 Schieberkreis ev die größte erreichbare Füllung gleich derjenigen des
                                 Vertheilungsschiebers darstellt.
                              Diesen Stellungen des ideellen Schieberkreises e
                                 entsprechen nach der früher schon (Holzschnitt II
                                 auf Seite 82) gegebenen Ableitung die Stellungen do, dv des
                                 Expansions-Excenters im Diagramme (Holzschnitt
                                    X) und endlich die wirklichen Stellungen
                                 DoDv des
                                 Expansions-Excenters in Bezug auf die Kurbel A und das Vertheilungs-Excenter D.
                              
                           So führt also die ursprünglich aufgestellte Bedingung zu einer genau bestimmten
                              geraden Linie DoDv,
                              auf welcher der Mittelpunkt des Expansions-Excenters verschoben werden muß,
                              um alle Füllungen von Null bis zur Kurbelstellung OR zu
                              erzielen. In der thatsächlichen, durch Holzschnitt XI
                              veranschaulichten Ausführung wird aber nicht das Excenter verschoben sondern der mit
                              der Schieberschubstange l verbundene Gleitbacken einer
                              Coulisse cc, welche von zwei in der Mittelpunktslinie
                              DoDv liegenden
                              Excentern ∆₀, ∆v bewegt wird.
                           Hier soll nun durch Verstellung des Gleitbackens in der Coulisse dieselbe Wirkung auf
                              den Expansionsschieber erzielt werden, als ob das Expansions-Excenter selbst
                              in der Graden DoDv
                              verschoben würde, indem die – allerdings nur für unendlich lange Stangen
                              genau giltige – Annahme gemacht wird, daß die Bewegung eines beliebigen
                              Punktes π der Coulisse cc die Bewegung eines Excenters p substituire,
                              dessen Lage auf der
                              Graden DoDv durch die
                              Beziehung: δvπ : δoπdvπ : doπ
                              = ∆vp : ∆op gefunden ist.
                              Die Verstellung des Gleitbackens in der Coulisse wird durch einen Steuerhebel
                              bewerkstelligt, welcher in der Zeichnung (Figur 1) mit h bezeichnet ist. Aus dieser Ansicht sowie dem
                              Grundplane in Figur
                                 2 geht zugleich die constructive Anwendung dieses Systemes für Maschinen
                              mit constantem Umdrehungssinne klar hervor.
                           
                              
                              Holzschnitt XI, Bd. 212, S. 263
                              
                           Der eigentliche Werth dieser Steuerung beruht jedoch in der leichten Anwendbarkeit
                              derselben für Reversirmaschinen – und nur in dieser Gestalt war dieselbe auch
                              auf der Ausstellung bei zwei ausgeführten Maschinen und in einem Modelle
                              vertreten.
                           Hier gilt (vergl. Holzschnitt XII) das
                              Vertheilungs-Excenter D und die Mittelpunktslinie
                              DoDv für die
                              rechtsseitige Bewegung der Kurbel A, das Excenter D' und die Mittelpunktslinie D'o
                              D'v für den
                              entgegengesetzten Bewegungssinn der Maschine, und es handelt sich nun darum,
                              zugleich mit der Bewegung der Coulisse CC, welche in
                              bekannter Weise den Vertheilungsschieber reversirt, auch gleichzeitig die Expansion
                              für den Rückwärtsgang einzustellen.
                           
                              
                              Holzschnitt XII, Bd. 212, S. 263
                              
                           Zu diesem Zwecke ist zunächst die Expansions-Coulisse cc im Punkte x mit einem Excenter verbunden,
                              dessen Mittelpunkt X in dem Durchschnittspunkte der
                              beiden Mittelpunktslinien DoDv und D'o
                              D'v –
                              diametral der Kurbel A gegenüber – gelegen ist,
                              so daß es sowohl für den Vorwärtsgang als Rückwärtsgang in gleicher Weise geeignet
                              bleibt. Ein zweites Excenter Q aber, welches sich für
                              den Retourgang in Q'
                              verwandelt und dadurch
                              die Mittelpunktslinie Do
                              XDv
                              Q in D'o
                              XD'v
                              Q' verändert, wird auf folgende Weise hergestellt.
                           Ein zweiarmiger Hebel t'q' ist im Punkte d mit der Schieberstange des Vertheilungsschiebers
                              verbunden, empfängt also hier dieselbe Bewegung, als ob er durch das Excenter D resp. D' – je nach
                              der Stellung der Coulisse CC – angetrieben würde.
                              Der eine Endpunkt t' dieses Hebels ist mittels der
                              Zugstange z und des um den festen Punkt 0 schwingenden
                              Hebels tx mit dem Punkte x der Coulisse cc verbunden, erhält also
                              dieselbe Bewegung, wie wenn er von einem Excenter in T
                              bewegt würde, dessen Lage auf der Linie OX durch die
                              Beziehung bestimmt wird:
                           OX : OT =
                              ox : ot.
                           Der Hebel t'q' repräsentirt also wieder wie oben eine
                              Coulisse, welche von zwei Excentern mit dem Mittelpunkte in D und in T bewegt wird, und somit hat
                              schließlich der Punkt q' dieses Hebels nach dem früher
                              aufgestellten Grundsatze dieselbe Bewegung, als ob er von einem Excenter Q angetrieben würde, dessen Lage auf der Graden TD sich durch die Gleichung bestimmt:
                           q'd : q't' = QD : QT.
                           Es empfängt also auch die Coulisse cc, welche mit q' durch die Stange s
                              verbunden ist, die Bewegung des ideellen Excenters Q,
                              außerdem aber durch directe Verbindung im Punkte x
                              diejenige des wirklich vorhandenen Excenters X und es
                              kann nun wieder durch Verstellung des Gleitbackens der Schieberschubstange l in der Coulisse cc
                              derselbe Effect erzielt werden, wie durch Verschiebung des
                              Excenter-Mittelpunktes auf der Graden D₀Dv. Hierdurch können nun für den Vorwärtsgang der Maschine die beliebigen
                              Expansionsgrade erzielt werden.
                           Im selben Momente aber, in welchem der Vertheilungsschieber durch das Herabsenken
                              seiner Schubstange L in der Coulisse CC reversirt wird, empfängt der Punkt d des Hebels t'q' nicht mehr
                              die Bewegung des Excenters D sondern diejenige des
                              Rückwärts-Excenters D', und die oben
                              aufgestellten Beziehungen führen nun ganz analog auf das ideelle Excenter Q', durch welches die Expansions-Coulisse cc im Punkte q bewegt wird.
                              Dann aber entspricht der Verstellung des Gleitbackens in der Coulisse cc eine Verschiebung des Excenter-Mittelpunktes
                              auf der Graden D'₀ D'v und somit sind ohne weiteres
                              dieselben Expansionsgrade, welche vorher für den Vorwärtsgang statthatten, nun auch
                              für die Reversirung giltig.
                           Es ist damit das Problem der Umkehrung des Ganges bei Expansions-Steuerungen
                              in vollkommener Weise gelöst und dabei für die Expansion nur ein einziges Excenter X
                              erforderlich, welches selbst noch, weil diametral der Kurbel gegenüber liegend, durch eine
                              passende Hebelverbindung mit dem Kreuzkopfe ersetzt werden kann. Die Genauigkeit des
                              Diagrammes X (Seite 262) wird allerdings bei
                              diesen zahlreichen Annäherungen und Vernachlässigungen mehr und mehr illusorisch
                              werden; immerhin aber behält es seinen Werth, um die vorläufigen Dimensionen eines
                              Modelles zu bestimmen, an welchem dann, wie es gewöhnlich bei Coulissen –
                              Steuerungen geschieht, die genaue Dimensionirung auszumitteln ist.
                           Daß sich aber auf diese Weise thatsächlich eine rationelle Dampfvertheilung erzielen
                              läßt und die – einer bestimmten Stellung des Gleitbackens in der Coulisse cc entsprechende – Expansion durch die
                              Reversirung der Coulisse CC nur äußerst wenig
                              beeinträchtigt wird, konnte an dem von Lucien Guinotte
                              ausgestellten Modelle seiner Steuerung evident nachgewiesen werden.
                           Die praktische Ausführung des Systemes war an zwei der schönsten
                              Ausstellungsmaschinen ersichtlich, nämlich an einer schweren
                              Personenzugs-Locomotive, welche in den Werkstätten der Anonymen Gesellschaft von Marcinelle und Couillet (Belgien) für die Eisenbahngesellschaft Grand Central Belge ausgeführt wurde, und an einer
                              Fördermaschine von Quillacq und Comp. in Anzin (Departement Nord, Frankreich.)
                           Obwohl die Anwendung einer derart complicirten Locomotiv-Steuerung im voraus
                              wenig Anklang finden kann, so ist doch das constructive Geschick nicht zu verkennen,
                              mit welchem die schwierige Aufgabe des Constructeurs hier gelöst worden ist,
                              besonders nachdem diese Maschine die einzige von 42 Ausstellungs-Locomotiven
                              war, welche einen neuartigen Steuerungsmechanismus aufzuweisen hatte. Derselbe
                              unterscheidet sich auch ganz wesentlich von der früher bei Locomotiven versuchten
                              Polonceau-Steuerung, mit der man vielleicht
                              versucht sein könnte, da sie auch zwei Coulissen und zwei Steuerhebel besitzt, die
                              Guinotte'sche Steuerung zu vergleichen. Denn bei der
                              Steuerung von Polonceau, welche allerdings in der
                              Construction etwas einfacher ausfällt, ist die Manipulation für den Führer
                              entschieden schwieriger, da er stets beide Hebel bei der Umkehrung des Ganges
                              verstellen muß, während bei der Steuerung von Guinotte,
                              wie schon oben bemerkt wurde, durch die Verstellung der Coulisse des
                              Vertheilungsschiebers allein schon die Expansion für den umgekehrten Gang
                              eingestellt wird. Ferner läßt die Steuerung der ausgestellten Locomotive alle
                              Füllungen von 11 bis 78 Procent durch den Expansionsschieber erreichen, die
                              Steuerung von Polonceau aber gibt bekanntlich nur
                              Füllungen bis höchstens 30 Proc. des Kolbenhubes und kann höhere Füllungsgrade nur mittels
                              des Vertheilungsschiebers erzielen.
                           Die Guinotte'sche Steuerung hat demnach vor dieser
                              Steuerung sowie vor allen anderen bis jetzt bekannten
                              Doppelschieber-Steuerungen in ihrer Anwendung bei Locomotiven ihre
                              entschiedenen Vortheile, und auch über deren Bewährung in der Praxis sprechen sich
                              die Berichte der belgischen Eisenbahn, bei welcher schon circa 30 Maschinen dieses Systemes in Verwendung stehen, aufs günstigste
                              aus.
                           Wenn trotzdem bei Locomotiven, welchen die äußerste Einfachheit aller Bewegungstheile
                              strictes Gesetz ist, dieser Steuerung keine ausgedehnte Anwendung versprochen werden
                              kann, so ist dies dagegen umsomehr bei den Fördermaschinen der Fall, für welche sie
                              zunächst der Erfinder bestimmt hat, und wofür sie auch in der That vorzüglich
                              geeignet erscheint. Die von Quillacq und Comp. ausgestellte Fördermaschine (selbstverständlich
                              zweicylindrig – mit 540 Millim. Durchmesser und 1000 Millim. Hub) war in
                              dieser Beziehung sowie überhaupt in ihrer ganzen Ausführung ein wahres Meisterstück
                              und mag noch in Kürze hier besprochen werden.
                           Die Figuren 3
                              und 4 stellen
                              den Steuerungsmechanismus dieser Maschine dar, welcher in der Hauptsache mit der im
                              Holzschnitt XII (Seite 263) skizzirten
                              Disposition vollkommen identisch ist, nur daß hier Allan'sche Coulissen angewendet sind und der Zwischenhebel x'ot nicht direct mit dem Punkte x der Expansions-Coulisse cc, sondern
                              durch die Zugstange xx' mit demselben verbunden wird.
                              Die Art, wie mittels des Hebels h die
                              Expansions-Steuerung auf beliebige Füllungsgrade gestellt werden kann, und
                              wie mittels des Hebels H bei constant bleibender Füllung
                              Vor- und Rückwärtsgang der Maschine eingeleitet wird, bedarf nach dem
                              vorausgegangenen keiner weiteren Erläuterung.
                           Es ist aber bekanntlich ein wesentlicher Punkt bei allen Fördermaschinen, daß mit dem
                              Steigen des beladenen Förderkorbes der zu überwindende Widerstand in Folge des
                              überhängenden Seilgewichtes successive abnimmt – eine Thatsache, welcher
                              gewöhnlich dadurch Rechnung getragen wird, daß man den Hebelsarm der Last variabel
                              macht und zwar bei Rundseilen durch conische Seiltrommeln, bei Bandseilen durch das
                              Uebereinanderlegen des Seiles selbst. Eine rationelle Ausnützung der Maschine
                              verlangt aber, daß die von der Maschine abgegebene Leistung direct nach der Größe
                              des Widerstandes regulirt werde, und dies geschieht hier durch die Anordnung eines
                              eigenen, von der Maschinenwelle angetriebenen Schaltwerkes, welches den Hebel h während des Ganges selbstthätig verstellt derart,
                              daß sich der Maschinist nur mit der Manipulation der Maschine an den Endpunkten der
                              Bewegung des Förderkorbes zu beschäftigen hat.
                           Für diese Maschine, sowie für die oben besprochene Locomotive waren auf der
                              Ausstellung orthogonale Schieberdiagramme zu sehen, eigentliche Indicatordiagramme
                              aber leider nicht erhältlich. Es kann somit die Wirkungsweise der Guinotte'schen Steuerung nur nach dem, aus dem
                              geometrischen Zusammenhange abgeleiteten Schieberdiagramme beurtheilt werden; aus
                              demselben ergibt sich aber besonders für alle höheren Füllungsgrade ein ungemein
                              schleichender Dampfabschluß. Die Ursache dieses Uebelstandes liegt in der
                              Grundbedingung, welche Guinotte für sein ganzes System
                              aufgestellt hat, und welche oben auf Seite 262 entwickelt worden ist. In Folge
                              derselben erhält man für alle höheren Füllungsgrade sehr kleine relative
                              Schieberbewegungen und selbstverständlich daher geringe Oeffnung und langsamen
                              Dampfabschluß.
                           Mit einer gut ausgeführten Meyer-Steuerung kann
                              sich daher die Guinotte'sche Coulissen-Steuerung
                              in Bezug auf Vollkommenheit der Dampfvertheilung
                              keinesfalls messen, trotzdem aber lassen die vielfachen Vorzüge der letzteren,
                              welche im Laufe der Besprechung hervorgehoben wurden, sie jedenfalls bemerkenswerth
                              und einer ausgedehnten Anwendung fähig erscheinen.
                           
                        
                           
                              (Fortsetzung folgt.)
                              
                           
                        
                     
                  
               Tafeln
