| Titel: | Beitrag zur Technologie des Chlorkalkes; von Dr. Ferdinand Hurter in Widnes, Lancashire, England. | 
| Autor: | Ferdinand Hurter | 
| Fundstelle: | Band 223, Jahrgang 1877, S. 417 | 
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                        Beitrag zur Technologie des Chlorkalkes; von Dr.
                           Ferdinand Hurter in
                           Widnes, Lancashire, England.
                        Hurten, zur Technologie des Chlorkalkes.
                        
                     
                        
                           Die Bereitung des Chlorkalkes zerfällt in zwei große Operationen: Die Darstellung des
                              Chlorgases und die Absorption desselben durch das Kalkhydrat. Mit der letztern
                              Operation will die folgende Abhandlung sich hauptsächlich beschäftigen. Wir werden
                              dabei beachten können: I) Den Verlauf der Absorption des Chlorgases, als von der
                              Zeit, der Concentration des Chlorgases und der Dicke und Ausdehnung der Kalkschichte
                              abhängig, und II) die störenden Einflüsse der dem Chlore beigemengten Gase,
                              Kohlensäure, Salzsäure, Wasserdampf, und den Einfluß der bei der Absorption sich
                              entbindenden Wärme. Ehe wir zum Gegenstand selbst übergehen, möchte ich noch
                              zufügen, daß sämmtliche Versuche zur Beantwortung gewisser Fragen, welche mit Deacon's Proceß in innigem Zusammenhange stehen, gemacht
                              worden sind, und das Folgende hauptsächlich auf die Bereitung von Chlorkalk mit
                              durch Luft verdünntem Chlor sich bezieht.
                           
                        
                           I) Der Verlauf der Absorption des
                                 Chlorgases durch Kalkhydrat.
                           Jeder, der sich über den Deacon'schen Proceß zur Darstellung von Chlorgas informirt
                              hat, weiß, daß zur Absorption von so erzeugtem Gase Kammern verwendet werden, welche
                              dem Gase eine sehr große absorbirende Oberfläche von Kalk darbieten, und daß der
                              Kalk auf diese Oberfläche in nur sehr geringer Dicke aufgestreut wird. Bei der
                              ältern Methode der Darstellung des Chlorkalkes wird, nachdem der Kalk schon nahezu
                              30 Proc. Chlor enthält, derselbe aufgelockert, wie man sagt: gekehrt. Diese Arbeit
                              würde bei der ungeheuren Ausdehnung der Schichte und ihrer geringen Dicke bei
                              Deacon's Kammern sehr theuer zu stehen kommen, und es fragte sich also: Wie kann man
                              diese Arbeit ganz vermeiden? Natürlich lautet die Antwort: Dadurch daß man die
                              Kalkschichte so dünn wählt, daß in nicht allzu langer Zeit die ganze Schichte
                              durchdrungen wird.
                           Um nun das Maximum dieser Schichthöhe zu bestimmen, mußte man entweder kostspielige
                              Versuche an Apparaten von größerm Maßstabe machen, oder aber man konnte im Kleinen
                              (durch Laboratoriumsversuche) die Gesetze der Absorption studiren und daraus die
                              Dimensionen der Apparate für den Großbetrieb bestimmen. Man that beides.
                           Jeder, der es versucht hat, von Laboratoriumsresultaten auf die Dimensionen von Apparaten für
                              den Fabrikbetrieb zu schließen, wird wissen, wie sehr man sich bei solchen, sogar
                              mit großer Vorsicht gezogenen Schlüssen täuschen kann. Daß es aber unter Umständen
                              gelingt, recht annähernd die Größe von Apparaten aus kleinern Versuchen zu bestimmen
                              mag folgende Arbeit andeuten.
                           
                              a) Einfluß derOberflächeOberfächeund Schichthöhe des Kalkes. Um zunächst zu erfahren,
                                 welchen Einfluß die Dicke einer Kalkschichte auf die Schnelligkeit der
                                 Absorption von Chlorgas ausüben kann, wurde ein großer, etwa 20l fassender Glascylinder mit Chlorgas
                                 gefüllt und in demselben zwei Glasschalen, deren Durchmesser sich zu einander
                                 verhielten wie 7,5 : 4,9 so aufgehängt, daß sie ganz nahe am Boden des Cylinders
                                 schwebten. Ueber dem Cylinder war eine Wage aufgestellt derart, daß man
                                 abwechselnd bald die eine, bald die andere Schale, ohne diese aus dem Chlorgas
                                 zu entfernen, wägen konnte. Hierzu konnte natürlich wegen der schädlichen
                                 Einwirkung des Chlorgases keine feine Wage gewählt werden. Nachdem man erst
                                 einige Vorversuche gemacht hatte, um über die allernöthigsten Verhältnisse
                                 Aufschluß zu erhalten, wurde zu den eigentlichen Versuchen geschritten, deren
                                 Resultate nachstehend mitgetheilt sind.
                              In dem eben beschriebenen Apparat wurden die beiden Schalen a und b, jede mit 20g Kalkhydrat (so wie es in der Fabrik
                                 verwendet wird) chargirt, der Einwirkung des Chlorgases ausgesetzt. Jede 5
                                 Minuten wurde eine dieser Schalen an die Wage gehängt und die Gewichtzunnahme
                                 bestimmt. Dies war natürlich nicht sehr genau möglich, einestheils, weil das
                                 Gewicht namentlich anfangs sehr rasch sich änderte, und anderseits, weil der
                                 Wagebalken, wie erwähnt, große Genauigkeit nicht zuließ. Der Versuch dauerte 60
                                 Minuten. Nach beendigter Absorption wurde die Totalzunahme und die absorbirte
                                 Quantität Chlor noch bestimmt.
                              Genau dieselben Maßregeln wurden auch bei allen weitern Versuchen getroffen. Die
                                 Schalen a und b waren
                                 immer dieselben, und sie wurden immer mit 20g Kalkhydrat chargirt. Schale a hatte 7cm,44 Durchmesser, Schale b 4cm,88.
                                 Die Oberflächen verhielten sich wie 2,32 : 1 und natürlich die Schichthöhe
                                 umgekehrt, nämlich wie 1 : 2,32.
                              Die Tabelle I gibt die Resultate dieses Versuches in übersichtlicher Form.
                              
                              Tabelle I. Absorption von
                                    Chlorgas.
                              
                                 
                                    Schale a.
                                    Schale b.
                                    
                                 
                                    Zeit.
                                    Total-gewicht.
                                    Gewichts-zunahme.
                                    Differenz.
                                    Total-gewicht.
                                    Gewichts-zunahme.
                                    Differenz.
                                    
                                 
                                    Min.
                                    
                                       g
                                       
                                    
                                       g
                                       
                                    
                                       g
                                       
                                    
                                       g
                                       
                                    
                                       g
                                       
                                    
                                       g
                                       
                                    
                                 
                                      0
                                    43,6
                                    –
                                    –
                                    48,5
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                      5
                                    46,2
                                    2,6
                                    2,6
                                    –
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    10
                                    –
                                    –
                                    –
                                    50,3
                                    1,8
                                    1,8
                                    
                                 
                                    15
                                    48,8
                                    5,2
                                    2,6
                                    –
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    20
                                    –
                                    –
                                    –
                                    51,0
                                    2,5
                                    0,7
                                    
                                 
                                    25
                                    50,2
                                    6,6
                                    1,4
                                    –
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    30
                                    –
                                    –
                                    –
                                    51,6
                                    3,1
                                    0,6
                                    
                                 
                                    35
                                    51,2
                                    7,6
                                    1,0
                                    –
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    40
                                    –
                                    –
                                    –
                                    52,0
                                    3,5
                                    0,4
                                    
                                 
                                    45
                                    52,0
                                    8,4
                                    0,8
                                    –
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    50
                                    –
                                    –
                                    –
                                    52,3
                                    3,8
                                    0,3
                                    
                                 
                                    55
                                    52,6
                                    9,0
                                    0,6
                                    –
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    60
                                    52,9
                                    9,3
                                    0,3
                                    52,6
                                    4,1
                                    0,3
                                    
                                 
                              Der Versuch zeigt, 1) daß das Chlorgas mit rasch abnehmender Geschwindigkeit
                                 absorbirt wird, 2) daß die in gleichen Zeiten absorbirten Quantitäten Chlor sich
                                 zu einander verhalten wie die Oberflächen der betreffenden Schalen. Es ist
                                 nämlich 9,3 : 4,1 = 2,37 : 1, also fast genau dasselbe Verhältniß wie bei den
                                 Oberflächen. Daraus schließen wir, daß die Schichthöhe des Kalkes auf die
                                 Absorption keinen Einfluß habe, sondern daß das Chlorgas in gleichen Zeiten
                                 einfach bis zur selben Tiefe eindringe. Ich könnte noch weitere ähnliche
                                 Versuche hier anführen, die Sache ist aber so selbstverständlich (nachdem sie
                                 bewiesen), daß ich es unterlasse, den Beweis durch weitere Versuche noch zu
                                 unterstützen.
                              Von der Totalabsorption des Chlorgases wollen wir aber später eine wichtige
                                 Anwendung machen, und weil in diesem Versuche das Chlorgas nicht vollständig
                                 concentrirtes war, so führe ich noch die Resultate zweier weiteren Versuche an,
                                 um die in der Stunde stattfindende Totalabsorption von Chlorgas im
                                 concentrirtesten Zustande zu bestimmen. Dabei wenden wir aber nicht die Schalen
                                 a und b an, sondern
                                 zwei Schalen vom Durchmesser 7cm,88
                                 bezieh. 7cm,32, die Schalen a und c. Um zu wissen,
                                 ob das Befeuchten des Kalkhydrates auf die Totalabsorption einen wichtigen
                                 Einfluß habe, setzen wir der Schale a noch 6 Proc.
                                 Wasser zu. Die folgende Tabelle II gibt die Resultate dieser beiden
                                 Versuche.
                              
                              Tabelle II. Absorption von
                                    Chlorgas.
                              
                                 
                                    Schale a mit
                                       6 Proc. Wasser.
                                    Schale b ohne
                                       Wasser.
                                    
                                 
                                    Zeit.
                                    Total-gewicht.
                                    Gewichts-zunahme.
                                    Differenz.
                                    Total-gewicht.
                                    Gewichts-zunahme.
                                    Differenz.
                                    
                                 
                                    Min.
                                    
                                       g
                                       
                                    
                                       g
                                       
                                    
                                       g
                                       
                                    
                                       g
                                       
                                    
                                       g
                                       
                                    
                                       g
                                       
                                    
                                 
                                      0
                                    45,1
                                    –
                                    –
                                    50,9
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                      5
                                    48,6
                                    3,5
                                    3,5
                                    –
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    10
                                    –
                                    –
                                    –
                                    55,7
                                    4,8
                                    4,8
                                    
                                 
                                    15
                                    51,2
                                    6,1
                                    2,6
                                    –
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    20
                                    –
                                    –
                                    –
                                    57,7
                                    6,8
                                    2,0
                                    
                                 
                                    25
                                    52,5
                                    7,4
                                    1,3
                                    –
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    30
                                    –
                                    –
                                    –
                                    58,7
                                    7,8
                                    1,0
                                    
                                 
                                    35
                                    53,6
                                    8,5
                                    1,1
                                    –
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    40
                                    –
                                    –
                                    –
                                    59,6
                                    8,7
                                    0,9
                                    
                                 
                                    45
                                    54,1
                                    9,0
                                    0,5
                                    –
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    50
                                    –
                                    –
                                    –
                                    60,3
                                    9,4
                                    0,7
                                    
                                 
                                    55
                                    54,6
                                    9,5
                                    0,5
                                    –
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    60
                                    –
                                    –
                                    –
                                    60,6
                                    9,7
                                    0,3
                                    
                                 
                              Ein Blick auf diese Tabelle zeigt, daß kleine Schwankungen in der Feuchtigkeit
                                 des Kalkhydrates wohl auf die Absorptionsgeschwindigkeit von nur untergeordnetem
                                 Einfluß sind. Wie wir später sehen werden, macht sich dieser Einfluß namentlich
                                 in den spätern Perioden geltend, anfangs gar nicht.
                              Das zu diesem Versuch verwendete Chlorgas war frisch bereitet und so concentrirt
                                 wie möglich. Der Glascylinder, der es enthielt, war während des Versuches
                                 geschlossen. Sein Deckel von Blei hatte nur zwei kleine Durchbohrungen, durch
                                 welche die Platindrähte geführt wurden, an denen die Schalen hingen. Da auch die
                                 Totalabsorption in den beiden Schalen, wenn man deren Oberflächen
                                 berücksichtigt, ziemlich dieselben sind, so werden wir diesen Versuch als den
                                 mit reinem Chlorgase ausgeführten betrachten, wenn auch Spuren von Luft nicht
                                 ganz vermeidlich waren.
                              
                           
                              b) Theorie des Verlaufs der
                                    Absorption. Außer der absoluten Absorption sollen aber diese Versuche
                                 namentlich auch über die Abhängigkeit der Absorptionsgeschwindigkeit von der
                                 Zeit uns belehren; grade dieser Punkt ist in den Rechnungen über
                                 Chlorkalkkammern von der größten Bedeutung, da von dieser Function der Zeit die
                                 Productionsfähigkeit des Apparates abhängt.
                              Um uns viel Mühe zu ersparen, könnten wir einfach es versuchen, eine Reihe zu
                                 finden, welche die Resultate der Versuche repräsentirt. Man könnte also, mit Q die zur Zeit t
                                 absorbirte Quantität Chlor bezeichnend, folgendermaßen die Abhängigkeit beider
                                 Größen ausdrücken:
                              Q = α + βt + γt² + . . . .
                              
                              und dann die nöthigen Constanten berechnen. Allein das
                                 Verfahren gibt uns dann auch nicht den mindesten Aufschluß über die Bedeutung
                                 dieser Constanten, und man könnte eine so gefundene Formel nicht allen Umständen
                                 anpassen, also auch nicht zur Rechnung gebrauchen. Wir müssen uns deshalb von
                                 dem bei der Absorption vorgehenden Processe Rechenschaft ablegen.
                              Folgendes ist nun meiner Ansicht nach der Vorgang: Der Kalk als sehr feines und
                                 poröses lockeres Pulver, dessen specifisches Gewicht (Luft mit eingerechnet) nur
                                 0,5 beträgt, kann vom Chlor nur langsam durchdrungen werden, weil die
                                 eingeschlossene Luft nicht stürmisch entweichen kann. Es bildet sich ein
                                 langsamer Strom (durch das Verschwinden der Chlormolecüle im Innern), welcher um
                                 so langsamer wird, je tiefer das Chlor einzudringen hat.
                              Es handelt sich also zunächst darum, die Gesetze kennen zu lernen, welche das
                                 Durchströmen eines Gases durch den Kalk, oder eine ihm ähnliche Masse,
                                 reguliren. Zu diesem Zweck unternahm ich eine Reihe von Versuchen, nicht mit
                                 Kalk, aber mit sehr feinem Sand. Ich füllte eine Glasröhre, deren eines Ende
                                 durch ein sehr feines Drahtnetz verschlossen war, nach und nach mit Sand an und
                                 zog einen Luftstrom mittels eines Aspirators hindurch. Ich bestimmte die in der
                                 Zeiteinheit durchgehende Quantität Luft, ebenso den Druck, welchen diese
                                 Geschwindigkeit bedingte. Die Luft wurde, weil die dabei angewendeten Drücke nur
                                 sehr kleine waren, einfach der aus dem Aspirator ausgeflossenen Quantität Wasser
                                 gleichgesetzt. Der zugehörige Druck wurde an einem mit Aether gefüllten
                                 ManometerDerselbe soll später beschrieben werden. abgelesen. In folgender Tabelle III gibt L
                                 die Schichthöhe in engl. Zollen, T die Zeit in
                                 Secunden, Q die Quantität.
                              Tabelle III. Versuche über das
                                    Durchströmen von Luft durch Sandschichten.
                              
                                 
                                    
                                       L
                                       
                                    
                                       T
                                       
                                    
                                       Q
                                       
                                    
                                       P
                                       
                                    
                                       V
                                       
                                    P/V
                                    P/(VL)
                                    
                                 
                                    Schicht-höhe.
                                    Zeit.Secunden.
                                    Ausgefl.Wasser.
                                    Druck.Aether.
                                    RelativeGeschw.
                                    
                                    
                                    
                                 
                                    1
                                    190
                                    51000
                                    2,055
                                    268
                                    0,0078
                                    0,0078
                                    
                                 
                                    1
                                      60
                                      3900
                                    0,450
                                      65
                                    0,0070
                                    0,0070
                                    
                                 
                                    2
                                      87
                                      4150
                                    0,750
                                        47,7
                                    0,0157
                                    0,0078
                                    
                                 
                                    3
                                      90
                                      3900
                                    1,055
                                        43,3
                                    0,0243
                                    0,0081
                                    
                                 
                                    4
                                      90
                                      5500
                                    2,010
                                        60,1
                                    0,0326
                                    0,0081
                                    
                                 
                                    4
                                      70
                                      4050
                                    1,910
                                        57,8
                                    0,0330
                                    0,0082
                                    
                                 
                                    5
                                      60
                                      3500
                                    2,320
                                        58,2
                                    0,0400
                                    0,0080
                                    
                                 
                              
                              Luft in englischen Granen (15,4 = 1cc),
                                 P den beobachteten Druck in Zollen Aethersäule,
                                 V die relative Geschwindigkeit, P/V das Verhältniß des
                                 Druckes zur Geschwindigkeit und P/(VL) das Verhältniß des Druckes zum Product aus der
                                 Geschwindigkeit in die Schichthöhe des Sandes.
                              Man sieht, daß das Verhältniß P/(VL) eine Constante ist, oder mit andern Worten: Wenn
                                 ein Gas durch eine solche Masse wie feinen Sand etc. durchströmt, so ist die
                                 Geschwindigkeit direct proportional dem Drucke und umgekehrt proportional der
                                 Schichthöhe. Das Gesetz weicht wesentlich ab von dem allgemeinen Gesetz für die
                                 Bewegung der Gase, und von den von Girard
                                 Memoires de l'Académie de l'Institut de
                                          France, t. v. aufgestellten Regeln für capillare Röhren.
                              Kehren wir nun zu unserer eigentlichen Aufgabe zurück, die Absorption als
                                 Function der Zeit auszudrücken. Nach den neueren Theorien über den gasförmigen
                                 Zustand muß die momentane Absorption nothwendig proportional sein der Quantität
                                 Chlor, welche in der Volumeinheit enthalten ist, oder, wie man sich auch
                                 ausdrücken kann, proportional der Spannung oder Tension des Chlorgases. In Folge
                                 der Absorption nimmt diese Tension im Innern der absorbirenden Kalkschichte
                                 allmälig ab. Hiedurch wird ein theilweises Vacuum erzeugt. Nennt man P den Partialdruck oder die Spannung des Chlorgases
                                 außerhalb des Kalkes, und Px den in der um die Größe x von der Oberfläche entfernten Schichte Kalk
                                 stattfindenden Partialdruck desselben Gases, so ist die Druckdifferenz P – Px die Ursache eines langsamen Stromes,
                                 welcher der Schichte in der kleinen Zeit dt die
                                 kleine Menge dQ frischen Chlores zuführt. Das
                                 Verhältniß dQ/dt stellt
                                 uns die Geschwindigkeit des Stromes vor. Wir setzen dieselbe obiger Erfahrung
                                 gemäß direct proportional der Druckdifferenz P
                                 – Px
                                 und umgekehrt proportional der Schichthöhe x,
                                 also
                              dQ/dt
                                 = α (P –
                                 P
                                 x)/x,       (1)
                              wo α eine von den
                                 obwaltenden Umständen abhängige Constante bedeutet.
                              Bei der Fabrikation des Chlorkalkes hat man oft Gelegenheit, zu beobachten, daß
                                 das Chlorgas nicht sehr tief eindringt, sondern ganz allmälig die Schichte in
                                 Chlorkalk umwandelt – derart, daß man oben fertigen Chlorkalk hat,
                                 während unten noch fast frischer Kalk sich befindet.
                              
                              Es ist also bei der Absorption nur eine dünne Schichte thätig. Im obern Theile
                                 der Schichte, da wo fertiger Chlorkalk sich befindet, ist die
                                 Absorptionsfähigkeit schon ganz erloschen; bis zum untersten Theil gelangt kein
                                 Chlor.
                              Denkt man sich eine dünne Schichte von Kalk, welche im Ganzen die Quantität q von Chlorgas absorbiren könnte, aber nur die
                                 Quantität qx
                                 enthält, so kann deren Absorptionsfähigkeit gemessen werden durch den Bruch
                              (q – qx)/q,      
                                 (2)
                              multiplicirt mit einer Constanten γ, welche abhängt vom Verhältniß des ganzen Volums der Schichte
                                 zu dem Volum, welches der Kalk wirklich einnimmt. Der obige Bruch entspricht der
                                 Procentmenge von Chlor, welche überhaupt noch absorbirt werden kann, und von
                                 dieser muß offenbar das Absorptionsvermögen abhängen und ihr proportional sein.
                                 Eine sehr ausführliche Besprechung dieser Sache würde hier zu weit führen und
                                 gehört in eine folgende Abhandlung. Die ganze an der Absorption Theil nehmende
                                 Schichte besteht nun aus unendlich vielen dünnen Lagen von Kalk, in welchen alle
                                 möglichen Grade der Sättigung vorkommen, vom vollgrädigen Chlorkalk bis zum
                                 reinen Kalkhydrat. Das durchschnittliche Absorptionsvermögen dieser Schicht
                                 beträgt aber, wenn man obige Bezeichnung fest hält, ungefähr 0,5 γ.Genau läßt sich dies ohne ganz bestimmte Einsicht in die Constitution des
                                       Chlorkalkes nicht angeben.
                                 
                              Bezeichneten wir nun dieses Absorptionsvermögen irgend einer Schichte mit γ (q – q
                                 x)/q, so ist
                                 dasjenige des frischen Kalkes, für welchen eben q
                                 x = 0 ist, einfach γ und damit ist dieser Constanten eine ganz bestimmte Bedeutung
                                 gegeben.
                              Es folgt nun aus dieser Betrachtung, daß die Absorptionsfähigkeit der ganzen
                                 absorbirenden Schichte, wenn sie mit schon fertigem Chlorkalk bedeckt ist, nur
                                 ungefähr halb so groß ist als diejenige des frischen Kalkes. Beim Beginn der
                                 Operation wird also die momentane Absorption sehr rasch verlaufen, bis eine
                                 Schichte fertigen Chlorkalkes vorhanden ist; dann fällt das Absorptionsvermögen
                                 auf ungefähr die Hälfte und bleibt constant, bis das Chlor die letzte
                                 Kalkschichte trifft, von welchem Zeitpunkt an das Absorptionsvermögen langsam
                                 abnimmt und endlich, wenn sämmtlicher Kalk mit Chlor so weit als möglich
                                 gesättigt ist, gänzlich verschwindet.
                              Man kann also im Verlauf der Absorption drei Perioden unterscheiden:
                              
                              Die erste Periode, während welcher die Absorptionsfähigkeit von γ auf ungefähr 0,5 γ reducirt, die zweite, während welcher sie constant bleibt,
                                 und eine dritte, während welcher sie allmälig verschwindet Da die mittlere
                                 Periode ungleich die längste ist, so lassen wir die beiden andern, welche uns
                                 nur zu complicirten Verhältnissen führen würden, außer Acht und wenden uns zur
                                 genauen Betrachtung dieser für praktische Zwecke wichtigsten mittlern
                                 Periode.
                              Nach schon vorausgesagtem ist die momentane Geschwindigkeit des Chlorstromes dQ/dt = α (P – P
                                 x)/x, und wir
                                 haben ebenfalls angenommen, daß das Chlorgas nicht weiter als auf eine gewisse
                                 Tiefe auf einmal eindringt. Es gibt also immer eine Schichte (wenigstens während
                                 der betrachteten Periode), in welcher der Partialdruck P
                                 x = 0 ist, weshalb wir statt der
                                 Differenz P – P
                                 x ganz einfach P setzen. Die Schichthöhe x rechnen wir
                                 von der Oberfläche an bis zu dem Punkte, wo der Strom anfängt, durch Absorption
                                 sich zu vermindern, also bis zum obersten Punkte der absorbirenden Schichte. Hat
                                 nun eine gewisse Schichte Kalk schon die Quantität Q
                                 x Chlorgas absorbirt, nachdem die Zeit
                                 t verflossen, und enthält die absorbirende
                                 Schichte selbst die Quantität Chlor Q₀, so
                                 ist die Schichthöhe proportional der Differenz Q
                                 x – Q₀. Die letztere Quantität Q₀
                                 ist nun aber auch genau gleich der während der von uns besprochenen ersten
                                 Periode absorbirten Quantität Chlorgas; denn die erste Periode schließt, sobald
                                 diese Schichte sich constituirt hat. Wir können also jetzt schreiben:
                              dQ/dt
                                 = c₀ P/(Q – Q₀)       (3)
                              Diese Gleichung muß integrirt werden 1) in Bezug auf Zeit, zwischen den Grenzen
                                 t₀ und t, wo
                                 t₀ die zum Beschluß der ersten Periode
                                 nöthige Zeit vorstellt; 2) in Bezug auf die Quantität Q zwischen den Grenzen Q₀ und Q. Man erhält natürlich, wenn c = 2 c₀ gesetzt wird:
                              (Q – Q₀)2 = cP (t – t₀),       (4)
                              oder auch
                              
                                 
                                 Textabbildung Bd. 223, S. 424
                                 
                              Hierin bedeutet nun c eine vom
                                 Apparat und sonstigen Umständen abhängige Größe.
                              Die hier vorgetragene Theorie ist in manchen Punkten etwas unklar geblieben, was
                                 ich nicht vermeiden konnte, wenn ich mich nicht allzu weit von meinem
                                 eigentlichen Zwecke entfernen wollte. Sie gibt uns aber die Mittel, die
                                 gefundene Formel sofort verschiedenen Umständen anzupassen, weshalb ich sie
                                 – als kurz und zur Rechnung gut geeignet – der empyrischen Regel und
                                 dem Gesetze vorzog, welches auch die erste und letzte Periode mit einschließt,
                                 aber wegen darin vorkommender Exponentialgrößen zur Rechnung nicht geeignet
                                 ist.
                              Es ist natürlich leicht, die Formel unsern verschiedenen Schalen a und b anzupassen,
                                 weil, wie wir wissen, die in einer gewissen Zeit absorbirte Quantität Chlor
                                 einfach der Oberfläche proportional ist. Man setze nun:
                              
                                 
                                 Textabbildung Bd. 223, S. 425
                                 
                              so bedeuten jetzt A die
                                 Oberfläche der Kalkschichte, Q₀ die von der
                                 Flächeneinheit während der ersten Periode absorbirte Menge Chlor.
                              Schreitet man nun zum Vergleich der Resultate der Theorie mit den durch die
                                 bisher angeführten Versuche erhaltenen Zahlen und berechnet aus drei Versuchen
                                 die Constanten Q₀, c und t₀. Für die mit Schale a erhaltene erste Versuchsreihe nahm ich die nach
                                 25, 35 und 45 Minuten erhaltenen Zahlen; ich wählte diese, damit ich weder in
                                 die erste, noch in die letzte Periode der Absorption greife und doch weit von
                                 einander abstehende Versuche hatte. Hat man diese Constanten gefunden, was so
                                 leicht ist, daß ich es hier nur andeuten will, so läßt sich dann für jede
                                 bestimmte Zeit das bis dahin absorbirte Chlor berechnen, und zwar sowohl für
                                 Schale a als auch für Schale b.
                              Nennt man die in drei Versuchen erhaltenen Zahlen beziehungsweise Q₁, Q₂,
                                 Q₃ und t₁, t₂, t₃, so ergibt sich aus drei Gleichungen von der Form
                                 
                              
                                 
                                 Textabbildung Bd. 223, S. 425
                                 
                              Führt man diese Rechnungen mit den Werthen Q₃
                                 = 9,0, Q₂ = 7,6, Q₁ = 5,2 und t₃ = 55, t₂ = 35, t₁ = 15 aus, so erhält man folgende Formel für Schale a:
                              
                                 
                                 Textabbildung Bd. 223, S. 425
                                 
                              Für Schale b ergibt sich
                                 einfach der kleinern Oberfläche entsprechend:
                              
                                 
                                 Textabbildung Bd. 223, S. 425
                                 
                              Um dieselben Constanten auch noch für die andern zwei Versuche zu benutzen, nahm
                                 ich an, wie die Umstände es verlangten, daß das Chlorgas beim zweiten Versuch
                                 sehr viel concentrirter war als beim ersten. Die Gase waren nicht analysirt worden, somit
                                 konnte ich nur aus dem Verlaufe der Reaction selbst auf deren Zusammensetzung
                                 schließen. Ich wußte blos, daß das beim zweiten Versuche benutzte Chlorgas ganz
                                 frisch bereitet war und mit Sorgfalt vor Diffusion bewahrt wurde. Nun haben wir
                                 schon früher gesagt, daß nach den neuesten Ansichten über die Constitution der
                                 Gase die Absorption dem Partialdruck des Chlores proportional sein muß, und zwar
                                 namentlich während der ersten Minuten. Es absorbirte Schale a im ersten Versuch 2g,6, im zweiten 3g,5 Chlor während der ersten 5 Minuten.
                                 Das Verhältniß beider Zahlen ist 0,743. War also die Absorption während dieser
                                 Zeit der Tension proportional, so mußte der Partialdruck des Chlores im ersten
                                 Versuch = 0,743 gesetzt werden, wenn er im letzten Versuch = 1 war.
                              Nun wissen wir, daß die Constante c der Tension
                                 proportional ist. Um also aus der für den ersten Versuch gefundenen Constanten
                                 diejenige für den zweiten zu berechnen, braucht man jene nur durch 0,743 zu
                                 dividiren. Man erhält so 0,86 als die im zweiten Versuch zu verwendende
                                 Constante. – Die Constante Q₀ bleibt
                                 sich gleich für beide Versuche; denn man kann die Tiefe der absorbirenden
                                 Schichte nicht als veränderlich betrachten. Dagegen wird bei concentrirterm Gas
                                 weniger Zeit zu ihrer Bildung erforderlich sein und zwar um so weniger, je
                                 concentrirter das Gas ist. Multiplicirt man den für den ersten Versuch
                                 gefundenen Werth der Constanten t₀ mit 0,743,
                                 so wird sich der für dieselbe Größe im zweiten Versuch geltende Werth ergeben.
                                 Auf diese Weise findet man für Schale a im zweiten
                                 Versuch:
                              
                                 
                                 Textabbildung Bd. 223, S. 426
                                 
                              Die Schale c hatte 7cm,32 Durchmesser, während Schale a 7cm,44
                                 maß. Multiplicirt man obige Formel mit dem Verhältniß der beiden Flächen, so
                                 erhält man die für Schale c giltige Formel:
                              
                                 
                                 Textabbildung Bd. 223, S. 426
                                 
                              Mit diesen Formeln sind die unter der mit
                                 „Berechnet“ überschriebenen Rubrik folgender Tabelle IV
                                 erhalten worden.
                              Bedenkt man die geringe Genauigkeit der Versuche und die approximative Natur der
                                 Theorie, so hat man Ursache über die Uebereinstimmung der Zahlen sich zu
                                 wundern. Die Endresultate des zweiten Versuches weichen am meisten von der
                                 Theorie ab. Bei Schale a muß man nicht vergessen,
                                 daß 6 Proc. Wasser zugesetzt werden. Wir werden später sehen, wie langsam die
                                 Absorption von Kohlensäure vor sich geht, und wie das dabei ausgeschiedene
                                 Wasser wohl die Ursache davon ist; wir schieben deshalb die große Abweichung der
                                 Endresultate auf das Wasser.
                              
                              Tabelle IV. Vergleich der
                                    Versuchsresultate mit der Theorie.
                              
                                 
                                    1. Versuch
                                    2. Versuch
                                    
                                 
                                    Zeit.Min.
                                    Schale a.
                                    Schale b.
                                    Schale a.
                                    Schale c.
                                    
                                 
                                    
                                    Gefunden.
                                    Berechnet.
                                    Gefunden.
                                    Berechnet.
                                    Gefunden.
                                    Berechnet.
                                    Gefunden.
                                    Berechnet.
                                    
                                 
                                      5
                                      2,6
                                    ?
                                    –
                                    –
                                    3,5
                                    ?
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    10
                                    –
                                    –
                                    1,8
                                    ?
                                    –
                                    –
                                    4,8
                                    4,75
                                    
                                 
                                    15
                                    * 5,2
                                    5,19
                                    –
                                    –
                                    6,1
                                    6,07
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    20
                                    –
                                    –
                                    2,5
                                    2,60
                                    –
                                    –
                                    6,8
                                    6,64
                                    
                                 
                                    25
                                      6,6
                                    6,65
                                    –
                                    –
                                    7,4
                                    7,48
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    30
                                    –
                                    –
                                    3,1
                                    3,08
                                    –
                                    –
                                    7,8
                                    7,77
                                    
                                 
                                    35
                                    * 7,6
                                    7,60
                                    –
                                    –
                                    8,5
                                    8,49
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    40
                                    –
                                    –
                                    3,5
                                    3,44
                                    –
                                    –
                                    8,7
                                    8,65
                                    
                                 
                                    45
                                      8,4
                                    8,34
                                    –
                                    –
                                    9,0
                                    9,32
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    50
                                    –
                                    –
                                    3,8
                                    3,74
                                    –
                                    –
                                    9,4
                                    9,40
                                    
                                 
                                    55
                                    * 9,0
                                    9,00
                                    –
                                    –
                                    9,5
                                    10,0
                                    –
                                    –
                                    
                                 
                                    60
                                      9,3
                                    9,29
                                    4,1
                                    4,00
                                    –
                                    –
                                    9,7
                                    10,05
                                    
                                 
                              * Diese Zahlen dienten zur Berechnung der
                                 Constanten.
                              Bei Schale c war der Kalk
                                 schon so weit gesättigt, daß die letzte Wägung wohl schon in die von uns
                                 besprochene dritte Periode fällt.
                              Wie dem auch sei, die Zahlen, welche auch mit noch andern Versuchen recht gut
                                 stimmten, waren mir anscheinlich gut genug, um dieselben zur Berechnung einer
                                 Chlorkalkkammer für eine wöchentliche Production von 25t Chlorkalk zu verwenden. Und nach
                                 sechsjähriger Erfahrung kann ich sagen, daß hier die Praxis mit der Theorie
                                 gestimmt hat. In andern Fällen ist es mir bei ähnlichen Berechnungen nicht
                                 ebenso gegangen. Ich lasse also hier die Art, wie diese Versuche zur Berechnung
                                 verwendet werden, folgen.
                              
                                 
                                    (Fortsetzung folgt.)