| Titel: | Amerikanische Eilzuglocomotive. | 
| Autor: | W–n. | 
| Fundstelle: | Band 237, Jahrgang 1880, S. 429 | 
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                        Amerikanische Eilzuglocomotive.
                        Mit einer Abbildung auf Tafel 34.
                        Amerikanische Eilzuglocomotive.
                        
                     
                        
                           Vor Kurzem ist aus der groſsartigsten Locomotivwerkstätte der Welt, den Baldwin Locomotive Works in
                              										Philadelphia, die 5000ste Locomotive hervorgegangen und
                              									fesselt schon durch diese enorme Ziffer die Aufmerksamkeit der patriotisch
                              									begeisterten Amerikaner, noch mehr aber durch die Thatsache, daſs sie einen neuen
                              									Ausgangspunkt in der amerikanischen Locomotivconstruction bezeichnen soll.
                           Sie ist thatsächlich die erste amerikanische Eilzuglocomotive zu kennen, die erste
                              									Maschine, welche durch die Heizfläche ihres Kessels und die übrigen
                              									Constructionsverhältnisse wirklich im Stande ist, die von unseren europäischen
                              									Eilzugmaschinen schon lange erzielten Leistungen zu bewältigen, und wird ganz
                              									unzweifelhaft einen umgestaltenden Einfluſs auf das amerikanische Eisenbahnwesen
                              									ausüben. Denn so sehr es der landläufigen Ansicht widerspricht, ist es doch in
                              									Eisenbahnkreisen längst bekannt, daſs die bisherigen Fahrgeschwindigkeiten der
                              									Amerikaner bedeutend hinter den unserigen zurückstehen, wie denn eine allerdings mit
                              									Vorsicht aufzunehmende Statistik herausgerechnet haben will, daſs die stündliche
                              									Durchschnittsgeschwindigkeit der englischen Eilzüge 74km beträgt, der deutschen 64, der französischen 60 und der amerikanischen
                              									nur 59. Diese Erscheinung muſs, bei dem vorzüglichen Oberbau aller groſsen östlichen
                              									Bahnen Amerikas, lediglich in der Construction der Personenzuglocomotive beruhen,
                              										für welche bisher
                              									nur ein seit 20 Jahren fast unverändert bestehender Type herrschte, die berühmte „Baldwin four-driver Locomotive“, mit 4 gekuppelten Rädern von
                              										1520mm (5 Fuſs engl.) und einem vierrädrigen
                              									Truck, welche den Amerikanern bisher als Inbegriff aller Vollkommenheit galt und
                              									dieses Lob auch in vieler Beziehung verdient. Doch konnten diese Maschinen mit ihren
                              									verhältniſsmäſsig kleinen Triebrädern und den geringen Kesselheizflächen von knapp
                              										100qm weder in Bezug auf Ruhe des Ganges, noch
                              									mit Rücksicht auf die Dampferzeugung jene Geschwindigkeiten und Leistungen erzielen,
                              									welche unsere Eilzugmaschinen mit Rädern bis zu 2m,400 Durchmesser und Kesseln bis zu 150qm
                              									Heizfläche im regelmäſsigen Verkehr verrichten müssen.
                           Zunächst für den immer steigenden Verkehr zwischen New-York und Philadelphia machte
                              
                              									sich das Bedürfniſs einer rascheren Verbindung geltend – eine Strecke von 145km, welche bis jetzt nicht unter 2 Stunden 5
                              									Minuten zurückgelegt werden konnte. Obwohl diese Ziffer die höchste von
                              									amerikanischen Bahnen erzielte Durchschnittsgeschwindigkeit ergibt – 69km in der Stunde, etwa gleich der des bei uns
                              									berühmten Köln-Berliner Jagdzuges –, steht sie doch weit hinter den gröſsten
                              									Leistungen englischer Eilzüge zurück (Great Western
                              										86km, Great
                                 										Northern 80km stündliche
                              									Durchschnittsgeschwindigkeit), noch weiter aber hinter der amerikanischen
                              									Lieblingsidee, in 1 Stunde von New-York nach Philadelphia zu kommen, deren
                              									Verwirklichung eine mittlere Fahrgeschwindigkeit von 145km erfordern würde.
                           Der erste Schritt zur Erreichung dieses Zieles ist mit der Baldwin'schen Maschine Nr. 5000 geschehen, und obwohl auch diese bis jetzt
                              									nicht über 86km Durchschnittsgeschwindigkeit
                              									gelangen konnte, hat sie doch thatsächliche Geschwindigkeiten bis zu 100km erreicht und läſst, bei den günstigen
                              									Steigungs- und Richtungsverhältnissen der Strecke New-York-Philadelphia und bei der
                              									gröſseren Bewegungsfreiheit amerikanischer Bahngesellschaften gegenüber der
                              									Staatsverwaltung, noch höhere Resultate in naher Zukunft erwarten.
                           Auf die Construction der neuen, in Fig. 2 Taf.
                              									34 veranschaulichten Eilzugmaschine übergehend, läſst sich selbstverständlich nicht
                              									erwarten, daſs die Amerikaner dabei auf die bekannten und bewährten Modelle
                              									europäischer Eilzugmaschinen zurückgriffen, vielmehr bemühten sie sich, ihre alte
                              
                              									Personenzugmaschine thunlichst zu adaptiren. So ist auch hier die charakteristische
                              									Anordnung des vierräderigen Truck, der Cylinder (457 auf 610mm), Geradführungen und Steuerung beibehalten; nur
                              									das hintere Kuppelrad wurde durch eine dritte Laufachse ersetzt, der
                              									Treibraddurchmesser von 5 bis äuſserst 5½ Fuſs engl. auf 6½ Fuſs (1980mm) erhöht und der Kessel (mit 1320mm Durchmesser und 198 Rohren von 3725mm Länge) auf 125qm Heizfläche und 5qm Rostfläche
                              									gebracht. Diese enorme Rostfläche, welche schon bei einer in Paris 1878 ausgestellten
                              									amerikanischen Lastzugmaschine angestaunt wurde (dieselbe hatte nahezu 6qm Rost zur Verfeuerung der staubförmigen
                              									Anthracitabfälle), nöthigt zu einer ganz neuen Construction der Feuerbüchse mit
                              									dachförmigem Abschluſs und fast quadratischer Grundfläche, welche über Frame und
                              									Hinterrad weit hinausragt und auf ihrem Rücken den Führerstand trägt, während der
                              									Heizer getrennt vom Führer auf der Tender-Platform steht. In Folge dieser Anordnung
                              									sowie der bei amerikanischen Locomotiven gebräuchlichen ausgedehnten Anwendung des
                              									Guſseisens – sogar zu den Radsternen der groſsen Treibräder – erhält die Maschine
                              									das auſsergewöhnlich groſse Gewicht von 38t,3
                              									gegenüber einem Adhäsionsgewicht von höchstens 13t
                              									auf den Treibrädern. Um dieses Miſsverhältniſs einigermaſsen auszugleichen, sind
                              									Federbalanciers mit verschiebbaren Drehpunkten angebracht, welche, durch einen
                              									eigenen Dampfcylinder bewegt, im Augenblick des Anfahrens eine Mehrbelastung der
                              									Treibachse um etwa 4t ermöglichen.
                           Der zugehörige 6rädrige Tender faſst 17cbm Wasser
                              									und wiegt 31t,5, so daſs das Gesammtgewicht von
                              									Maschine mit Tender nahezu 70t beträgt, während
                              									die normal angehängte Last – vier bis fünf 3rädrige Wagen zu 19t – wenig mehr als das Eigengewicht des Motors
                              									ausmacht.
                           Bei einer im Journal of the Franklin Institute, 1880 Bd.
                              									110 S. 6 ausführlich beschriebenen Probefahrt mit 146t Gesammtzuggewicht von Philadelphia nach New-York (98 Minuten Fahrzeit)
                              									und 165t bei der Rückfahrt (100 Minuten Fahrzeit)
                              									verbrauchte die Maschine beziehungsweise 15 und 16cbm,3, gleich beiläufig 0l,7 Wasser für
                              									je 1 Tonnen-Kilometer Gesammtlast, oder bei der für die Hinfahrt mit maximal 400e anzunehmenden effectiven Leistung nicht weniger
                              									als 22l Wasser für die Stunde und Pferdekraft, ein
                              									Resultat, welches hinter dem Mittelwerth gut construirter und erhaltener
                              									europäischer Locomotiven – etwa 15l Wasser für
                              										1e effectiv – weit zurücksteht und jedenfalls
                              									nicht zu Gunsten der enormen Rostfläche spricht.
                           Doch wenn wir berücksichtigen, daſs die vorliegende Locomotive wirklich ein neuer
                              									Ausgangspunkt und die erste ihrer Gattung ist, wenn wir bedenken, daſs es der
                              									Amerikaner unwürdig gewesen wäre, bei unserem Continent, dem alten, etwa gar in der
                              									Construction der Eilzugmaschinen in die Lehre zu gehen, so dürfen wir von der
                              									Fortbildung der „amerikanischen Eilzugmaschinen“ sicher noch schöne Resultate
                              									erwarten.
                           
                              
                                 W–n.
                                 
                              
                           
                        
                     
                  
               Tafeln
