| Titel: | Ueber das Verhalten der salpetrigen zur schwefligen Säure. | 
| Fundstelle: | Band 266, Jahrgang 1887, S. 524 | 
| Download: | XML | 
                     
                        Ueber das Verhalten der salpetrigen zur
                           								schwefligen Säure.
                        (Schluſs des Berichtes S. 467 d. Bd.)
                        Ueber das Verhalten der salpetrigen zur schwefligen
                           								Säure.
                        
                     
                        
                           Zur Zeit ist man wohl allgemein der Ansicht, daſs der Bleikammerprozeſs auf einer Oxydation der schwefligen Säure zu Schwefelsäure
                              									beruht, während salpetrige Säure zu Stickoxyd reducirt wird, welch letzteres unter
                              									dem Einfluſs des Sauerstoffes wieder in salpetrige Säure übergeht. Dieser Prozeſs
                              									kann also durch die beiden Gleichungen
                           1) N2O3 + SO2 = 2 NO + SO3 und 2) 2 NO + O = N2O3
                           formulirt werden. Betrachtet man aber, nach dem früher
                              									Mitgetheilten, das Verhalten der schwefligen zur salpetrigen Säure nicht mehr als
                              									eine Reduction, sondern als Condensation, so bemerkt man, daſs Gleichung 1) unter Einführung von 4
                              									Mol. Wasser identisch ist mit der summarischen Gleichung:
                           2 N(OH)3 + H2SO3 = 2 NO + H2SO4 + 3 H2O,
                           durch welche die Bildung des Stickoxydes beim Behandeln von
                              									schwefliger Säure mit einem Ueberschusse von salpetriger Säure erklärt wurde.
                           Danach würde sich der Bleikammerprozeſs in 3 Phasen zerlegen: In der ersten tritt
                              									salpetrige mit schwefliger Säure bei Gegenwart von Wasser zu
                              									Dihydroxylaminsulfonsäure, (HO)2NSO3H, zusammen, welche sich in der zweiten mit
                              									salpetriger Säure zu Stickoxyd und Schwefelsäure umsetzt; in der dritten Phase geht
                              									das gebildete Stickoxyd unter dem Einflüsse von Sauerstoff und Wasser wieder in
                              									salpetrige Säure über.
                           Diesen Phasen entsprechen die 3 Gleichungen:
                           1) (HO)3N + H.SO2.OH = (HO)2 :
                              										N.SO2.OH + H2O
                           2) (HO2)NSO2OH + (OH)3N = 2 NO
                              									+ HO.SO2.OH + 2 H2O
                           3) 2NO + O + 3H2O = 2(HO)3N.
                           Man kann natürlich gerade so gut annnehmen, daſs nicht die orthosalpetrige Säure,
                              									sondern das Hydrat OH.N : O sich mit der schwefligen Säure condensirt. Als
                              									intermediäres Condensationsproduct entstände dann nicht Dihydroxylaminsulfonsäure,
                              									sondern Nitrososulfonsäure O : N.SO3H. Raschig hat jedoch die Gleichungen 1) und 2)
                              									beibehalten, weil sie mit einer Eigentümlichkeit des Bleikammerprozesses in
                              									auffallendem Einklang stehen. Summirt man nämlich Gleichung 1) und 2), so erhält
                              									man:
                           2(HO)3N + H.SO2.OH = 2 NO + HO.SO2.OH + 3H2O.
                           
                           Nach dieser Gleichung werden also zur Bildung von 1 Mol. Schwefelsäure 3 Mol. Wasser
                              									verbraucht. Nun ist aber bekannt, daſs ein richtiger Bleikammerbetrieb nur dann
                              									möglich ist, wenn die sich niederschlagende Säure eine gewisse Verdünnung besitzt;
                              									sie soll ein spec. Gew. von 1,55 haben, was 64 Proc. H2SO4 entspricht. Sobald weniger Dampf in
                              									die Kammern gelangt als diese Verdünnung erfordert, so bilden sich die sogen.
                              									Bleikammerkrystalle, deren Auftreten immer eine Störung des Prozesses bedeutet. Eine
                              									Säure mit 64 Proc. H2SO4 entspricht aber fest genau der Formel H2SO4 + 3H2O, welche 64,47 Proc. verlangt. Die Praxis steht also mit der durch die
                              									Gleichungen 1) und 2) ausgedrückten Theorie in vollem Einklang.
                           Die neue, eine Condensation zwischen salpetriger und schwefliger Saure annehmende
                              									Anschauungsweise besitzt entschiedene Vorzüge vor der alten, welche sich den Vorgang
                              									als Reduction vorstellt.
                           Zunächst konnte gar nicht erklärt werden, warum die Umsetzung
                           N2O3 + SO2 = 2NO + SO3
                           in Wirklichkeit gar nicht existirt; denn schweflige Säure
                              									wirkt auf nitrose Gase bei Abwesenheit von Wasser gar nicht ein. Es war nicht
                              									einzusehen, warum eine Reaction nur bei Gegenwart von relativ viel Wasser
                              									stattfindet. Unter Zugrundelegung der Condensation ist aber an der Hand der oben
                              									angeführten Gleichungen zu ersehen, daſs der Wasserstoff einen integrirenden
                              									Bestandtheil der nach diesen Gleichungen entstehenden Körper bildet, und daſs bei
                              									Abwesenheit desselben gar keine Condensation stattfinden kann.
                           Auch über die Natur der Salpetersäureverluste, welche dem Bleikammerprozeſs
                              									eigenthümlich sind, bekommt man mit Hilfe dieser Condensationstheorie Klarheit.
                              									Während theoretisch ein gewisses Quantum von salpetriger Säure eine unbegrenzte
                              									Menge von schwefliger Säure in Schwefelsäure umwandeln sollte, hat sich in der
                              									Praxis des Kammerbetriebes das Verhältniſs ungefähr so gestaltet, daſs durch eine
                              									bestimmte Menge von in die Kammern eingeführter Salpetersäure, welche hinreichen
                              									würde, um entsprechend der Gleichung
                           2HNO3 + 3SO2 + 2H2O = 3H2SO4 + 2NO
                           einen Gewichtstheil Schwefelsäure
                              									zu erzeugen, in Wirklichkeit 50 G.-Th. gebildet werden. Da nun die in den Kammern
                              									wirkende Stickstoffverbindung nicht die Salpetersäure, sondern die daraus durch
                              									Reduction entstehende salpetrige Säure ist, von welcher 2 Mol. zur Umwandlung eines
                              									Moleküles schwefliger Säure in Schwefelsäure verbraucht werden, so kommt man zu dem
                              									Schlüsse, daſs 2 Mol. salpetriger Säure die Oxydation von 150 Mol. schwefliger Säure
                              									vermitteln, daſs also eines für 75 Mol. ausreicht. Von je 75 Mol. salpetriger Säure
                              									kehrt also eines nicht in nutzbarer Form in den Kammerprozeſs zurück; in welcher
                              									Form dieses eine Molekül verloren geht, ist nicht bekannt. Man nimmt zwar allgemein
                              									an, daſs es eine Reduction zu Stickstoffoxydul erfahren habe, doch ist dies nicht
                              									bewiesen. Lunge (G. Lunge und P. Naef 1884 252 169) ist der Ansicht, daſs bei
                              									stark roth gehenden Kammern wenigstens die Hälfte des Salpetersäureverlustes durch
                              									unvollkommene Absorption im Gay-Lussacthurme verursacht werde, während er geneigt
                              									ist, den Rest auf mechanische Fortführung durch die Kammersäure zu schieben. Ein
                              									Gehalt dieser Säure von 0,1 Proc. N2O3 würde schon den vierten Theil des Salpetersäure
                              									Verlustes erklären. Indessen scheint die Kammersäure eine solche Menge salpetriger
                              									Säure niemals zu enthalten, wenigstens wurden in Kammersäuren verschiedenen
                              									Ursprungs nie über 0,03 Proc. N2O3 gefunden. Ferner gibt auch Lunge zu, daſs der Gay-Lussacthurm bei helleren Kammern besser fungire.
                              									Die Schwefelsäure aus solchen Kammern enthält nur sehr wenig salpetrige Säure und
                              									doch sind die Salpeterverluste bei hellem Kammergange nicht geringer; im Gegen theil
                              									findet man, daſs die Stickstoffverluste zunehmen, wenn man versucht, an
                              									Salpetersäure zu sparen und dadurch eine helle Kammer zu erzielen. Es dürfte sonach
                              									nicht zu bezweifeln sein, daſs die Salpeterverluste nicht mechanischer, sondern
                              									wenigstens gröſstentheils chemischer Natur sind und ihren Grund in der Ueberführung
                              									der salpetrigen Säure in andere für den Kammerprozeſs nicht mehr nutzbare
                              									Stickstoffverbindungen haben.
                           Die Annahme der Bildung der Dihydroxylaminsulfonsäure als Zwischenproduct ermöglicht
                              									es auch, vorauszusehen, was für Stickstoffverbindungen auſser Stickoxyd noch im
                              									Bleikammerprozeſs entstehen können. Es kann vorkommen, daſs ein Molekül der
                              									Dihydroxylaminsulfonsäure im Moment des Zerfalles nicht das zur Bildung von
                              									Stickoxyd nöthige Molekül salpetrige Säure vorfindet; dann tritt Spaltung in
                              									Stickoxydul und Schwefelsäure ein, und Stickstoffverlust ist unvermeidlich, weil das
                              									Stickstoffoxydul durch den Luftsauerstoff nicht oxydirt wird. Um diese Möglichkeit
                              									thunlichst auszuschlieſsen, ist stets für die Anwesenheit einer relativ groſsen
                              									Menge von salpetriger Säure in der Kammer zu sorgen und thatsächlich gehen die
                              									Erfahrungen der Schwefelsäurefabrikanten dahin, daſs unter solchen Umständen die
                              									Stickstoffverluste am geringsten sind. Ferner ist es nicht ausgeschlossen, daſs ein
                              									Molekül Dihydroxylaminsulfonsäuse statt mit salpetriger mit schwefliger Säure
                              									zusammentritt, so daſs Dihydroxylamindisulfonsäure und daraus Hydroxylamin entsteht;
                              									ja es können sogar Nitrilosulfonsäure und die anderen Sulfoderivate des Ammoniaks
                              									entstehen und der ganze Reactionsverlauf ein solcher werden, wie er für die
                              									Einwirkung von salpetriger Säure auf überschüssige
                              									schweflige Säure bei Kühlung mit Eis angegeben wurde. Natürlich wird dies nur für
                              									einen sehr kleinen Theil der reagirenden Moleküle gelten, in Folge der ungünstigen,
                              									in der Bleikammer herrschenden Verhältnisse, wie hohe Temperatur und vorhandener
                              									Ueberschuſs von salpetriger Säure. Sämmtliche hierbei entstehenden Verbindungen wie
                              									Hydroxylamin, Ammoniakderivate und Ammoniak sind aber für die Fortführung des Kammerprozesses
                              									werthlos, ja sogar schädlich, indem sie salpetrige Säure absorbiren und mit dieser
                              									zu wiederum werthlosen Producten, wie Stickoxydul oder Stickstoff, zusammentreten
                              									können.
                           War diese Erklärung für die Stickstoffverluste in der Bleikammer richtig, so konnte
                              									das Auftreten von Ammoniak in der Bleikammer vermuthet werden und man konnte sogar
                              									sagen, daſs mit dem sicheren Nachweis auch nur von Spuren von Ammoniak die
                              									Richtigkeit der entwickelten Anschauungen bewiesen war. Dieser Nachweis ist Raschig auch wirklich gelungen. Zwar konnte in
                              									Salpetrigsäure haltiger Kammersäure Ammoniak mit Sicherheit nicht aufgefunden werden
                              									– dies kann übrigens nicht auffallen, insofern ja salpetrige Säure schon bei
                              									gewöhnlicher Temperatur und bei Gegenwart von Wasser zersetzend auf Ammoniak wirkt –
                              									mit aller Bestimmtheit und in nicht unbeträchtlicher Menge wurde Ammoniak in
                              									Kammersäuren bestimmt, welche frei von salpetriger Säure waren. In der einen Probe
                              									wurde der Ammoniakgehalt durchschnittlich zu 0,0028 Proc., in der anderen sogar zu
                              									0,0139 Proc. gefunden. Qualitativ konnte das Ammoniak in diesen Kammersäuren auch
                              									mit Neſsler'schem Reagens bestimmt werden: Die mit
                              									Alkali neutralisirten Proben gaben mit dem erwähnten Reagens einen dicken gelben
                              									Niederschlag. (Nach Berichte der Deutschen chemischen
                                       												Gesellschaft, 1887 Bd. 20 S. 1158 und Liebig's Annalen der Chemie, 1887 Bd. 241 S.
                                 									161.)