| Titel: | Neuheiten in der Explosivstoff-Industrie und Sprengtechnik. | 
| Autor: | Oscar Guttmann | 
| Fundstelle: | Band 267, Jahrgang 1888, S. 474 | 
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                        Neuheiten in der Explosivstoff-Industrie und
                           								Sprengtechnik.
                        (Patentklasse 78. Fortsetzung des Berichtes S. 419
                           								d. Bd.)
                        Neuheiten in der Explosivstoff-Industrie und
                           								Sprengtechnik.
                        
                     
                        
                           Eine geradezu verheerende Explosion von Pikrinsäure hat
                              									am 22. Juni 1887 in der chemischen Fabrik von Roberts Dale
                                 										und Comp. in Cornbrook bei Manchester stattgefunden. Obzwar dabei nur ein
                              									Arbeiter in Ausübung seines Dienstes als Feuerwehrmann verunglückte, so waren doch
                              									die Wirkungen der Explosion einer auf 400k
                              									geschätzten Masse so stark, daſs auf 45m
                              									Entfernung Alles, auf 365m leichte Gebäude nahezu
                              									zerstört, noch auf 6400m Fenster eingeschlagen
                              									wurden, und daſs man die Explosion auf 48km hörte.
                              									Sie konnte nur deshalb so heftig sein, weil Cornbrook in der Ebene liegt und weil
                              									man Pikrinsäure für so ungefährlich hielt, daſs keinerlei Schutzmaſsregeln getroffen
                              									waren, ja die Erzeugung mitten in bewohnten Stadttheilen vor sich ging; in Folge
                              									dieser. Explosion wurde nun allerdings die Pikrinsäure gesetzlich den
                              									Explosivstoffen gleichgestellt.
                           Die Untersuchung (Bericht von Oberst V. D. Majendie) hat
                              									ergeben, daſs entweder bei oder in einem Trockenofen von Pikrinsäure durch das
                              									unvorsichtige Gebahren eines Tabak rauchenden Arbeiters Feuer ausbrach, daſs
                              									daraufhin in diesem Ofen, in welchem zeitweilig auch andere Producte, wie z.B.
                              									salpetersaures Blei, getrocknet wurden, durch Bildung eines Pikrates eine kleinere
                              									Explosion stattfand, welcher bald darauf eine zweite heftigere folgte. Diese
                              									entstand wahrscheinlich dadurch, daſs entweder von der Hitze geschmolzene
                              									Pikrinsäure auf von in der Nähe stehenden Fässern Bleiglätte verstreute Theile
                              									floſs, oder daſs der zu Hilfe geeilte Feuerwehrmann ein solches Faſs von der Nähe
                              									des Ofens wegrollte und davon in die Pikrinsäure mengte; in der Nähe stehende Fässer
                              									Pikrinsäure explodirten durch den so gebildeten Knallsatz, und gleichzeitig damit
                              									eine kleinere Menge, welche sich in einer Krystallisirpfanne befand.
                           Die aus diesem Anlasse stattgehabte Umfrage hat die merkwürdige Thatsache ergeben, daſs in
                              									verschiedenen Fabriken selbst Mengen bis zu 1000k
                              									Pikrinsäure verbrannten, ohne zu explodiren, daſs aber eine selbst rohe Mischung von
                              									Pikrinsäure mit Bleiglätte, salpetersaurem Blei und Strontian, Kalk u. dgl. eine
                              									heftig explodirende Mischung ergibt, welche selbst in kleinen Mengen als Knallsatz
                              									für gewöhnliche Pikrinsäure dient.
                           Neuere Versuche von Berthelot (Comptes rendus, 1887 Bd. 105 S. 1159), welche er aus Anlaſs der Explosion
                              									in Cornbrook durchführte, haben gezeigt, daſs Pikrinsäure, obgleich sie im
                              									Allgemeinen, wenn frei angezündet oder erwärmt, nur verbrennt, dennoch dann
                              									explodirt, wenn sie in ein offenes Gefäſs gebracht wird, welches vorher so erhitzt
                              									wurde, daſs die Menge der eingeführten Pikrinsäure nicht genügt, um die Temperatur
                              									in der Mitte bedeutend herabzudrücken. Versuche im Kleinen in Glasröhren mit
                              									Pikrinsäure, Nitrobenzol, Dinitrobenzol, Mono-, Di- und Trinitronaphtalin haben dies
                              									bestätigt, und es könnte sich sonach wohl ereignen, daſs bei einem Brande die Wände
                              									der Feuerstelle stark erhitzt und örtliche Explosionen hervorgerufen werden, welche
                              									sich der ganzen Masse mittheilen.
                           Neuere Versuche von Berthelot, welche er der
                              									französischen Akademie der Wissenschaften vorlegte, haben übrigens gezeigt, daſs
                              									Pikrinsäure auch in kleinen Mengen explodirt, wenn sie sich inmitten eines
                              									hocherhitzten Raumes befindet. Dies ist für andere Explosivstoffe schon bekannt, und
                              									bestätigt nur, daſs auch Pikrinsäure das allgemeine Verhalten theilt, also gleich
                              									vorsichtig zu behandeln ist.
                           Im Sandsteinbruche von Commentry wurden mit einem besonderen Apparate unter Beihilfe
                              									der Photographie Versuche über die Fortpflanzung von Erderschütterungen angestellt,
                              									aus denen sich ergab (Mittheilungen über Gegenstände des
                                 										Artillerie- und Genie-Wesens, 1887 S. 213, nach Comptes rendus): 1) Die Fortpflanzungsgeschwindigkeiten von
                              									Anfangserschütterungen sind so groſs, daſs die gemessenen Gröſsen dem Auge
                              									unsichtbar sind. 2) Die durch Dynamit (bis zu 12k)
                              									oder durch Pulver erzielten Erschütterungen des Bodens sind schwächer als die auf
                              									gleiche Entfernung durch den Fall eines Rammbäres von 100t aus 5m Höhe
                              									erzeugten, und die Wirkung des letzteren auf 500m
                              									Entfernung erreicht kaum jene eines Stoſses mit der Ferse auf 10m Entfernung. 3) Befinden sich Stoſspunkt und
                              									Quecksilberbad des Apparates auf der Erdoberfläche, so sind die Schwingungen
                              									vervielfacht, wobei mehrere Maxima folgen und die Erschütterung länger andauert.
                              									(Auf 1200m Entfernung war die Dauer des Stoſses
                              									selbst 10 Secunden.) Findet die Erschütterung in den gewöhnlichen Gruben tiefen
                              									statt, so erzeugt ein Schlag allein nur eine und kurze Erschütterung selbst bei
                              									Beobachtung in groſser Ferne; es ist dabei gleich, ob das Quecksilberbad in der
                              									Grube oder über Tag steht. Man kann sonach behaupten, daſs der Weg der
                              									Erderschütterungen von der Nähe der Erdoberfläche beeinfluſst sei.
                           
                           Um zu sehen, inwiefern im Kriegsfalle statt des bei den österreichischen Truppen
                              									eingeführten Kieselguhrdynamites auch die im Handel vorkommenden Dynamite verwendbar
                              									seien, hat Hauptmann Heinrich Ritter von Vessel (Mittheilungen über Gegenstände des Artillerie- und
                                 										Genie-Wesens, 1887 S. 565) das Gelatine-Dynamit Nr.
                                 										I und das Rhexit Nr. I geprüft. Die Ergebnisse
                              									waren folgende:
                           
                              
                                 
                                 
                                    Gelatine-Dynamit Nr. I.
                                    
                                 
                                    Rhexit Nr. I.
                                    
                                 
                              
                                     Specifisches Gewicht
                                 1,60–1,65
                                 1,0–1,1 nach demPressen in Büchsen 1,4
                                 
                              
                                     Verhalten gegen Feuchtigkeit
                                 gut
                                 wasseranziehend
                                 
                              
                                 Zusammensetzung:
                                 
                                 
                                 
                              
                                     Nitroglycerin
                                 64,41
                                 61,4
                                 
                              
                                     Collodiumwolle
                                   2,37
                                 –
                                 
                              
                                     Nitroholzzeug
                                 –
                                   9,1
                                 
                              
                                     Natronsalpeter
                                 24,74
                                 –
                                 
                              
                                     Kalisalpeter
                                 –
                                 16,6
                                 
                              
                                     Holzmehl
                                   7,63
                                 –
                                 
                              
                                     Roher Holzmoder
                                 –
                                 12,9
                                 
                              
                                     Soda
                                   0,47
                                 –
                                 
                              
                                     Farbstoff
                                   0,38
                                 –
                                 
                              
                           
                              
                                 Versuch im Brisanzmesser:
                                 bei Kieselguhr-Dynamit
                                 
                              
                                     Stauchung
                                 des
                                 oberen
                                 Bleicylinders
                                 12,2–13,1mm
                                   9,8–10,1mm
                                 8,5–13
                                 
                              
                                     „
                                 „
                                 unteren
                                 „
                                 17,2–17,4
                                 16,8–17,1
                                 17,5–18,2
                                 
                              
                           Zur Prüfung der Schlagkraft wurden jene geringsten Ladungen von viereckigem
                              									Querschnitte auf Holzbalken und Schmiedeeisenplatten versucht, welche aus früheren
                              									Proben mit Kieselguhr-Dynamit sich ergaben. Dieselben waren für Holzbalken von 25 ×
                              										25cm Querschnitt 0k,405, 30 × 30cm 0k,700, 35 × 35 1k,000, für Schmiedeeisenplatten von 15cm
                              									Breite und 1cm Dicke 0k,110, 15cm × 3cm 0k,350. Beide
                              									Sprengmittel haben nahezu vollkommen gleiche Wirkung gezeigt, wie das
                              									Kieselguhr-Dynamit, und können daher als gleichwerthiger Ersatz im Kriege verwendet
                              									werden.
                           Bei den Befestigungsarbeiten von Lyon wurde zur Gründung von Futtermauern ein von Bonnetoud vorgeschlagenes Verfahren benutzt (Nouvelles annales de la Construction, 1887 S. 104),
                              									welches auf der in kleinerem Maſsstabe schon früher verwendeten Erweiterung des
                              									Bodens durch Dynamit und Eingieſsen von Beton beruht. Der Boden bestand aus einer
                              										2m,20 dicken, sehr feinen, durchlässigen,
                              									lehmigen, mit vielen Pflanzentheilen untermischten Sandschicht, unterhalb welcher
                              									eine fast wagerechte Kiesschicht sich befand. Die Kiesschicht stand mit einem etwa
                              										2m höher gelegenen Wasserbecken in Verbindung,
                              									so daſs die Sandschicht fast zu Schlamm aufgelöst war.
                           Zum Zwecke der Gründung wurden mit einem Hohlbohrer von 43mm äuſserem Durchmesser und 4mm Wandstärke in Entfernungen von 6 zu 6m Löcher bis auf die Kiesschicht getrieben (was 2
                              									bis 3 Minuten für jedes Loch erforderte), hierauf an einem Holzstabe befestigte
                              									Dynamitpatronen hinabgelassen und gezündet; hierdurch wurde ein Brunnen von etwa
                              										1m,1 Weite eröffnet, dessen Wände
                              									zusammengepreſst waren; vom oberen Rande löste sich allerdings ein Kegel ab, welcher in den Brunnen
                              									zurückfiel. In diesen Brunnen wurde nun ein Blechcylinder von 1m,1 Weite eingelassen, mit Hämmern bis auf den
                              									Grund durch das rückgefallene Erdreich getrieben und dieses durch einen Arbeiter
                              									hinausgeworfen. Nach etwa einer halben Stunde hatte das Wasser die Bohrlochswände
                              									wieder aufgeweicht und konnte zurückdringen, worauf es nebst dem übrigen Schlamme
                              									herausgepumpt wurde. Man füllte sonach Beton ein und hob mit dem Fortschreiten der
                              									Betonfüllung den Blechcylinder durch einen Flaschenzug in die Höhe.
                           Die so hergestellten Pfeiler wurden mit Bögen überspannt, indem man dieselben zur
                              									Herstellung der Widerlager abschrägte, eine Lehre aus gestampftem Kies aufführte und
                              									darüber Beton ausgoſs.
                           Es ist ersichtlich, daſs auf diesem Wege die Gründung rasch und billig vor sich geht,
                              									jedoch wird ihre Anwendung stets von örtlichen Umständen abhängen. Ueber 3m Tiefe wird diese Arbeit kaum mehr möglich sein,
                              									man müſste denn besondere Vorsichten ergreifen, weil das Erdreich selbst dem
                              									Eintreiben des Cylinders nicht Stand halten wird; auch wird es schwierig sein, die
                              									Dynamitladung so anzuordnen, daſs der Durchmesser des Brunnens nahe gleichförmig
                              									werde, und nicht zu viel Erdreich nachfalle. Schlieſslich wird die Handhabung und
                              									das Eintreiben eines längeren Cylinders ganz erhebliche Schwierigkeiten und Kosten
                              									bereiten. Für alle Fälle, wo man es mit zähem, zusammendrückbarem Boden zu thun hat,
                              									wird sich diese Gründung vortheilhaft erweisen.
                           Versuche in Ruſsland mit einem neuen Sprengstoffe, genannt „Tsilotwor“ (Krafterzeuger), haben kein
                              									günstiges Ergebniſs geliefert; nach der St. Petersburger
                                 										Zeitung soll es einfach aus Trinitro-Holzfaser bestehen.
                           Oscar Guttmann.