| Titel: | Ueber die Fortschritte der chemischen Technologie der Gespinnstfasern im Winter 1892/93. | 
| Autor: | Otto N. Witt , Christoph Schmidt | 
| Fundstelle: | Band 288, Jahrgang 1893, S. 299 | 
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                        Ueber die Fortschritte der chemischen Technologie
                           								der Gespinnstfasern im Winter 1892/93.
                        Von Otto N. Witt und
                           									Christoph Schmidt.
                        (Schluss des Berichtes S. 284 d. Bd.)
                        Ueber die Fortschritte der chemischen Technologie der
                           								Gespinnstfasern im Winter 1892/93.
                        
                     
                        
                           Das Färben halbwollener Gewebe nach neueren Systemen in einem Bade liefert, wie nicht
                              									anders zu erwarten, wenig appretur- und lagerechte Waare; Wolle und Baumwolle sind
                              									in ihrer Natur eben zu verschieden, als dass sie unter ganz gleichen Bedingungen die
                              									Farbstoffe richtig fixiren könnten. Höheren Anforderungen zu genügen, wird die
                              									baumwollene Kette in für die weiteren Operationen genügender Echtheit vorgefärbt,
                              									derselben rohe Wolle eingeschlagen und letztere sodann im Stück gefärbt. Man erzielt so
                              									reinere und glänzendere Färbung der Wolle. Das Färben der Kette in Cops wird jetzt
                              									mit grosser Bequemlichkeit, Ersparniss und Vollkommenheit durchgeführt, namentlich
                              									für die echteren Farben, die mehrere Färbeoperationen fordern. Besonders bewährt hat
                              									sich das System Young-Crippin, bei welchem die
                              									einzelnen Cops die Flotte abwechselnd von innen nach aussen und von aussen nach
                              									innen durchsaugen. (G. Winkler, Färberzeitung, October
                              									1892.)
                           Ausführliches über die Copfärberei lese man von C. O.
                                 										Weber (D. p. J. 1893 287 111, 136 und 163).
                           Einige Farbstoffe der Congogruppe sollen im oben beregten Einbadverfahren (nach D. Wollengewerbe, September 1892) auf Halbwolle
                              									gleichmässige Färbungen liefern ohne ein „Grinsen“, Hervorleuchten der
                              									Baumwolle, zu zeigen. Man nimmt z.B. die Waare bei 70° in ein Bad von 2 bis 4 Proc.
                              									Diaminscharlach und 30 Proc. Glaubersalz, treibt bis nahe zum Siedepunkt und lässt
                              									dann unter fortwährendem Umhaspeln auf 35 bis 40° abkühlen.
                           Man vergleiche ferner A. Lindemann über die
                              									Halbwollfärberei in einem Bade. (Färberzeitung, Januar
                              									1893 S. 97.)
                           Es ist nicht ganz leicht, aus Wolle und Seide gemischte Gewebe gleichmässig
                              									anzufärben, wenn auch, wie bekannt, im Allgemeinen beide Faserstoffe
                              									Aufnahmefähigkeit für dieselben Farben besitzen und solche unter ähnlichen Umständen
                              									fixiren. Die eine Farbe wird leichter von der Seide, eine andere leichter von der
                              									Wolle aufgenommen, wenige gehen aus demselben Bade mit gleicher Leichtigkeit auf
                              									beide Fasern. Gewöhnlich kommt man zum Ziel durch zwei auf einander folgende
                              									Operationen im selben Bade, erst wird durch rasches Kochen die Wolle angefärbt, dann
                              									lässt man abkühlen und taucht von Neuem in das lauwarme Bad ein, um die Seide zu
                              
                              									färben. Verführe man umgekehrt, so könnte leicht die Seide an die siedende Flotte
                              									wieder Farbe abgeben.
                           Bezweckt man nun gerade ein verschiedenes Anfärben der beiden Fasermaterialien, so
                              									kann man dies in einem, oder auch in zwei Bädern erreichen. Säurefuchsin mit
                              									Glaubersalz und Schwefelsäure geht auf Wolle roth, auf Seide rosa. In einem mit
                              									Säurefuchsin, Indigcarmin, Säuregelb, Methylviolett und Malachitgrün angesetzten
                              									Bade wird die Wolle braun, die Seide blau. Geht man erst in ein kochendes Bad mit
                              									Naphtolgelb S, dann in ein lauwarmes mit einem Seidenblau, so wird die Wolle
                              									gelbgrün, die Seide blaugrün.
                           Ueber die verschiedene Aufnahmefähigkeit, das verschiedene Lösungsvermögen der Wolle
                              									und Seide für verschiedene Farben machen Guillaumet und
                                 										Persoz, denen wir diese Untersuchung verdanken, Mittheilungen, welchen wir
                              									einige Beispiele noch entnehmen wollen.
                           Gleichmässig auf beide Fasern gehen auf: Viktoriablau, Alkaliblau, Safranin,
                              									Rhodamin, Chinolingelb.
                           Stärker auf Seide gehen: Fuchsin, Methylenblau, Malachitgrün, Nigrosin.
                           Stärker auf Wolle: Eosin, Rocellin, Säuregrün, Naphtolschwarz.
                           Im siedenden Bad färben nur die Wolle: Indigcarmin, Säurefuchsin, Naphtolgelb,
                              									Tartrazin. (L'ind. Textile, 1892.)
                           Vor Kurzem (Januar 1893) ist auch eine Publication von L.
                                 										Cassella und Co. über den gleichen Gegenstanderschienen, über das „Färben von gemischten Stoffen aus Wolle und
                                    										Seide“. Es werden da ebenfalls drei Reihen Farbstoffe aufgeführt,
                              									solche, die beide Fasern gleichmässig anfärben, solche, die stärker auf Wolle gehen,
                              									und solche, die Seide in kaltem Bade mehr anfärben als Wolle. Eine Anzahl von schön
                              
                              									ausgeführten einfarbigen und „Changeant“-Mustern mit genauer Angabe der
                              									Herstellung ist angefügt.
                           In den hier beschriebenen Verfahren beginnt die Technik eine Beobachtung zu
                              									verwerthen, welche unseres Wissens zuerst von P.
                                 										Ehrlich bei der Tingirung thierischer Gewebe für die mikroskopische
                              									Untersuchung derselben gemacht worden ist. Ehrlich
                              									stellte fest, dass aus Mischungen verschiedener Farbstoffe einzelne derselben von
                              									den verschiedenen Gewebselementen herausgesucht werden, und benutzte diesen Vorgang
                              									zur Unterscheidung eben dieser Gewebselemente.
                           Uebrigens mag hier darauf hingewiesen werden, dass das Vermögen der verschiedenen
                              									Fasern, Farbstoffe aufzunehmen, durch geeignete Vorbehandlung vielfach modificirt
                              									werden kann; so wird dasselbe z.B. bei der Wolle erhöht durch eine leichte
                              									Chlorirung, die Wolle färbt sich dann fast so leicht wie Seide; andererseits wird
                              									Seide durch eine Behandlung mit Tannin in ihrem Färbevermögen erheblich
                              									beeinträchtigt. Im Zeugdruck wird von solchen Erfahrungen schon seit längerer Zeit
                              									ein nicht unerheblicher Nutzen gezogen.
                           Behandelt man Halbseide unter Zusatz von 10 Proc. Seife und 15 Proc. Glaubersalz
                              									kochend mit Diaminreinblau (Cassella), so wird nur die
                              									Baumwollfaser angefärbt, die Seide bleibt rein weiss, und durch Färben letzterer in
                              									einem zweiten Bade mit sauren Farbstoffen, wie Orange, Ponceaux, Säuregrün u.a.,
                              									lassen sich besondere Effecte erzielen. Mit Hilfe von Alkaliblau bekommt man das
                              									Gewebe gleichmässig blau.
                           Auch Halbwolle wird mit Diaminreinblau und Alkaliblau gleichmässig und lebhaft blau
                              									gefärbt. (Leipziger Monatsschrift, 1892 Nr. 8.)
                           Eine neue Methode, mehrfarbig im Stück zu färben, besteht nach D. R. P. Nr. 63884
                              									(Dr. Lange in Crefeld) darin, einen Theil der Garne vor
                              									dem Verweben mit reservirenden Mitteln zu behandeln. Seide und Baumwolle werden z.B.
                              									mit alkalischen Substanzen, wie Natron, Thonerdenatron, essigsaurem Kalk,
                              									imprägnirt, mit nicht imprägnirten Fasern verwebt, das Gewebe anilinschwarz
                              									ausgefärbt: die imprägnirte Faser bleibt ungefärbt.
                           Man kann sowohl gefärbte als ungefärbte Garne imprägniren und so mannigfache
                              									Wirkungen erzielen.
                           Wir haben hier eine neue Anwendung der unseres Wissens zuerst von Prudhomme im Zeugdruck benutzten alkalischen Reserven
                              									unter Anilinschwarz.
                           Die schon so grosse Zahl der direct und leicht zu verwendenden Farbstoffe ist in
                              									stetigem raschen Wachsen begriffen, dennoch wird die Herstellung der umständlicher
                              									zu verwendenden Ingrainfarben eifrigst gepflegt. Das auf der Faser diazotirte
                              									Primulin mit alkylirtem Naphtylamin zu einem waschechten Bordeaux zu entwickeln,
                              									liessen sich die Elberfelder Farbwerke patentiren. Die
                              									Farbe ist nicht ganz säureecht und somit für manche Zwecke nicht zu verwenden. (Leipziger Färberzeitung, 1893 S. 2.)
                           Die mangelhafte Lichtechtheit der Primulinfarben ist bekannt.
                           Zu erwähnen sind ferner die neuen directen Baumwollfarbstoffe Diazurin G und B (derselben
                              									Farbwerke), welche auf der Faser diazotirt mit den gleichzeitig gelieferten
                              									Entwicklern Blaugrau, Rothblau, Grünlich- und Röthlichschwarzblau geben. Die
                              									Färbungen sollen säureecht, reib-, wasch- und walkecht sein.
                           Weiter ist zu nennen das direct färbende Sambesiblau der Berliner Actiengesellschaft, das, auf der Faser diazotirt und mit
                              									Amidonaphtoläther combinirt, lebhafte Indigonuancen liefert. (Näheres Nr. 9 der Leipziger Färberzeitung, 1893.)
                           Eine neue von Cassella und Co. zum Patent angemeldete
                              									Diaminschwarzmarke B H gibt, auf der Baumwolle diazotirt und mit Diamin entwickelt,
                              									ein schönes Schwarz, das sich leicht ätzen lässt.
                           Im directen Azofarbendruck wird das Bordeaux aus α-Naphtylamin und β-Naphtol sehr stark fabrizirt,
                              									ebenso das Marron, das man durch Nuanciren des Naphtylamins mit Benzidin erhält. Das
                              									Blau aus Dianisidin und β-Oxynaphtoesäure soll nicht
                              									genügend lichtecht sich erweisen und auch zu theuer sein.
                           Als Schwarz wird das Directnaphtolschwarz der Société de
                                 										Thann et de Mulhouse verwendet. Als wesentlicher Fortschritt gilt das
                              									Purpurroth aus p-Nitranilin und β-Naphtol. (Oesterreich's Wollen- und Leinenindustrie, 1893 Bd.
                              
                              									1.)
                           Das bisher in der directen Erzeugung von Azofarben auf der Faser fehlende Blauroth
                              									liefert nach D. R. P. Nr. 64510 der Höchster Farbwerke
                              									das Orthonitroparaphenetidin.
                           Eine interessante Neuerung in der Erzeugung von Azofarben auf der Faser, deren
                              									technische Brauchbarkeit sich indessen noch zu erweisen haben wird, ist von E. C. Kayser in der Färberzeitung, März 1893 S. 165, mitgetheilt worden. Bisher verwendet man
                              									in dieser Art Färberei eine gewisse Anzahl Entwickler auf wenige complexe
                              									Diazoverbindungen, wie Polychromin und auf der Faser diazotirte Substantive
                              									Farbstoffe. Nach E. C. Kayser ist nun eine
                              									Tanninzinnbeize im Stande, die zahlreichen weniger complexen Diazokörper auf der
                              									Faser derart festzuhalten, dass dieselben mit den üblichen Phenolen und Aminen zu
                              									Farbstoffen entwickelt werden können.
                           Als blaue basische Baumwollfarben finden wegen hervorragender Licht- und
                              									Waschechtheit der damit erzeugten Färbungen verschiedene Indazinmarken von L. Cassella und Co. immer weitergehende Verwendung. Die
                              									von derselben Firma neuerdings an den Markt gebrachten Metaphenylenblaue sollen die
                              									älteren Indazine noch in jeder Beziehung übertreffen. Metaphenylenblau 2 B ist nach
                              										v. Perger das Einwirkungsproduct von
                              									Nitrosodimethylanilin auf Diorthotolylmetaphenylendiamin.
                           Die Färbungen mit Metaphenylenblau, wie auch die mit Indoïnblau stehen in Licht- und
                              									Waschechtheit dem Küpenblau ungefähr gleich, trotzdem soll nach einer Bemerkung der
                              										Leipziger Färberzeitung, 1892 S. 3, das Landvolk
                              									das Indigoblau immer wieder vorziehen.
                           Auf Mittheilungen von A. Hiller (Färberzeitung, December 1892 S. 82) über den vergleichsweisen Werth von
                              									Küpenblau mit Indoïn- und Metaphenylenblau sei hier noch verwiesen.
                           Die neueren Indigosynthesen haben zu einem praktischen Resultat noch nicht geführt.
                              									Grünfärbende Indigocarmine erhält nach einer kürzlich erfolgten Patentanmeldung die
                              										Badische Anilin- und Sodafabrik aus
                              									alkylirtenPhenylglycinen mit rauchender Schwefelsäure; über ihre Verwendbarkeit
                              									verlautet noch nichts. Indigocarmin selbst gehört bekanntlich zu den unechtesten
                              									Farbstoffen, die wir besitzen. Ausgeschlossen ist aber keineswegs, dass das weite
                              									Gebiet seiner Homologen, das uns die Heumann-Heymann'sche Methode eröffnet, nicht auch werthvollere Glieder
                              									enthalte.
                           Neben den Versuchen, den Indigo synthetisch herzustellen oder ihn zu ersetzen, laufen
                              									diejenigen zur Verbilligung dieses uns dem Auslande steuerpflichtig machenden
                              									Farbstoffes durch Zusätze, wie Indophenol (gemischte Küpe), endlich Versuche, durch
                              									Färben eines geeigneten Untergrundes vor dem Eingehen in die Küpe.
                           Nach H. Baumgärtner (Färberzeitung, October 1892) eignet sich Azofuchsin sehr gut als
                              									Untergrund für Küpenblau, besonders für tiefes Blau, welches eine etwas schwärzliche
                              									Aufsicht zeigen soll. Solche Färbung stehe an Echtheit dem reinen Küpenblau nicht
                              									nach und stelle sich auf das Pfund reine Wolle um 10 bis 15 Pfg. billiger als
                              									dieses.
                           Aus der übergrossen Zahl neuer Farbstoffe seien hier noch einige erwähnt.
                           Sulfonazurin G der Elberfelder Farbwerke soll im
                              									Gegensatz zu früheren Sulfonazurinmarken schon in helleren Schattirungen bei ebenso
                              									guter Wasch- und Walkechtheit eine dem Küpenblau ähnliche Lichtechtheit besitzen.
                              									Die Farbe wird von Chromsalzen nicht verändert und kann mit auf Chrombeize ziehenden
                              									Farbstoffen combinirt werden. Zum Färben werden Holzgefässe angerathen. (Färberzeitung, December 1892 S. 87.)
                           Von K. Oehler wird ein Echtgrau in den Handel gebracht,
                              									das mit Nigrisin und Methylenblau in Concurrenz tritt.
                           Ein licht- und walkechtes Gelb auf gechromter Wolle liefert das Flavazol der Berliner Actiengesellschaft. Man kann es direct in
                              									einem Bade unter Zusatz von Fluorchrom färben.
                           Mit 6 Proc. Alaun, 1 bis 1½ Proc. Zinnsalz und 1 Proc. Oxalsäure erhält man
                              									lebhaftere hochgelbe Farben, als mit Chromsud. (Färberzeitung, October 1892 S. 21.)
                           Das Eminroth der Berliner Actiengesellschaft liefert auf
                              									gechromter Wolle scharlach- bis tiefrothe Nuancen, welche säure- und schwefelecht
                              									und genügend licht- und walkecht sind. (Färberzeitung,
                              									November 1892 S. 56.)
                           Ein schönes Blauroth, walk-, säure- und schwefelecht, ist das Säurerosamin der Höchster Farbwerke. Es wird mit 10 Proc. phosphorsaurem
                              									Natron ausgefärbt. (Ebenda S. 55 und 68.)
                           Diamingrün B von Cassella und Co. ist der erste grüne
                              									directe Baumwollfarbstoff. Wie alle verwandten Substantiven Farbstoffe ist derselbe
                              									auch als walkechter Wollfarbstoff zu verwenden. (Färberzeitung, November 1892 S. 39.)
                           Theoretisch interessant ist die Aufklärung, welche die Gruppe der rhodaminartigen
                              									Farbstoffe durch eine Veröffentlichung von A. Bernthsen
                              									erfahren hat. (Chemiker-Zeitung, 1892 Nr. 104.)
                           Danach besitzt das gewöhnliche Rhodamin nicht, wie bisher angenommen, eine
                              									laktonartige Bindung, sondern eine freie Carboxylgruppe. Bei der Bildung des
                              									Farbstoffs aus alkylirtem Amidophenol und Phtalsäure spielt die zweite
                              									Carboxylgruppe der letzteren keine wesentliche Rolle; ganz ähnliche Farbstoffe
                              									liefert die Benzoësäure mit Metaamidophenolen, und das in unserem vorigen Bericht erwähnte Pyronin,
                              									dessen Bau damals noch unbekannt war, ist nichts anderes als ein Formorhodamin, in
                              									gleicher Weise von der Ameisensäure sich ableitend.
                           In unserem vorigen Referat (1892 286 164) müssen wir noch
                              									berichtigen, dass die Chromotropsäure 1. 8. Dioxynaphtalin 3. 6. Disulfosäure
                              									ist.
                           Als eine werthvolle Ergänzung zu den bekannten Schultz'schen Tabellen der künstlichen organischen Farbstoffe ist ein Werk von
                              									Dr. Adolf Lehne im Erscheinen begriffen: Tabellarische Uebersicht über die künstlichen organischen
                                 										Farbstoffe und ihre Anwendung in Färberei und Zeugdruck, welches jeden
                              									aufgeführten Farbstoff in seiner Anwendung durch Ausfärbungen und Druckproben
                              									veranschaulicht.
                           Schliesslich noch einiges über die Theorie des Färbens.
                           Leo Vignon, der sich schon längere Zeit um die Theorie
                              									des Färbeprocesses bemüht, stellt im Bull, de la Soc. Ind.
                                 										de Mulhouse, November 1892 S. 563, in umfänglicher Auseinandersetzung seine
                              									bisherigen Resultate zusammen. Sehr interessant ist das von ihm beobachtete
                              									Auftreten von Wärme beim Färben von Baumwolle in geringerem, in höherem Maasse beim
                              									Färben von Wolle und Seide.
                           Unbekannt mit der Erklärung des Färbeprocesses als Lösungsvorgang (vgl. unseren
                              									vorigen Bericht 1892 286 109), glaubt Verfasser dieses
                              									Freiwerden von Wärme beim Färben auf Entstehung einer chemischen Verbindung von
                              									Faser und Farbstoff zurückführen zu dürfen. Indessen ist der Uebergang des
                              									Farbstoffs aus der wässerigen in „starre“ Lösung Grund genug zum Freiwerden
                              									von Wärme. Am einfachsten und durchsichtigsten ist der Vorgang beim Färben der
                              									Baumwolle ohne Beize mit Substantiven Farbstoffen; dass die ausgesprochen active
                              									chemische Individualität der thierischen Fasern (der ihnen mit mancherlei Gründen
                              									zugeschriebene Amidosäurencharakter) die äussere Erscheinung des Vorganges
                              									complicirt, wurde von uns an angeführter Stelle bereits hervorgehoben. Hierzu kommt
                              									noch das Ergebniss der werthvollen Untersuchungen von Knecht, welcher nach dem Färben der Wolle Ammoniak im Bade auffand,
                              									ferner, dass in theilweiser Zerstörung der Faser Lanuginsäure sich abspalten und als
                              									Beize fungiren kann.
                           Weiteres wesentliches Material zur Beurtheilung des Färbeprocesses enthält die Vignon'sche Abhandlung nicht, ihr Inhalt ist im
                              									Uebrigen kurz folgender:
                           Weil die für die Mehrzahl unserer bekannten Farbstoffe empfänglichen thierischen
                              									Fasern saure und basische Eigenschaften haben, die Farbstoffe selbst basische und
                              									saure Gruppen durchweg enthalten; weil Zinnsäure Safranin absorbirt, ihr schwach
                              									saures Polymeres, die Metazinnsäure, dieses nicht thut; weil die Cellulose beim
                              									Uebergang in Oxycellulose saure Eigenschaften bekommt und basische Farbstoffe
                              									festhält; weil die von Vignon und Cassella patentirte, mit Ammoniak behandelte Baumwolle
                              									sich mit sauren Farbstoffen anfärbt – nimmt Leo Vignon
                              									an, wie vor ihm viele, dass das Färben lediglich ein chemischer Vorgang nach Art der
                              									Salzbildung sei, und gibt zu, dass er das Färben der Baumwolle mit Congofarben nicht
                              									erklären könne, dass dieser Fall einer besonderen experimentellen Prüfung bedürfe;
                              									wir halten, wie wiederholt hervorgehoben, gerade diesen Specialfall und Analoga
                              									desselben für besonders einfach und durchsichtig und betrachten ihn durch die
                              									Lösungstheorie als völlig klargestellt.
                           Wir wollen den Anhängern der alten sogen. chemischen Färbetheorie in ihrem Sinne
                              									zu Hilfe kommen durch Hinweis auf die Chlorhydrate gewisser schwacher Basen, die an
                              									reines Wasser ihre ganze Salzsäure abgeben und sich in salzsäurehaltigem Wasser
                              									wieder bilden; solche, die in der Substantiv gefärbten Baumwolle eine
                              										„salzartige“ Verbindung vergeblich suchen, möchten wir damit trösten,
                              									dass es auch andere als „salzartige“ leicht zerlegbare Verbindungen gibt,
                              									z.B. Verbindungen von Pikramid mit Kohlenwasserstoffen u. dgl., ferner Doppelsalze –
                              									wir aber können nicht davon abgehen, dass eine chemische Verbindung von Faser und
                              									Farbstoff nach bestimmten festen Gewichtsverhältnissen weder nachgewiesen, noch
                              									wahrscheinlich ist. Wir betonen nochmals, dass auch die Lösung ein chemischer
                              									Vorgang ist, dass zwischen dem Phänomen der Lösung des Zuckers oder des Fuchsins in
                              									Wasser und der Bildung bestimmter gut charakterisirter Hydrate der Schwefelsäure bis
                              									zur Salzbildung eine ununterbrochene Kette von Uebergängen vorhanden ist.
                           Die in beständiger Befruchtung durch die Wissenschaft so erfreulich rastlos
                              									fortschreitende Technik hat nicht Zeit, theoretische Spielereien, Wortklaubereien
                              									und dogmatische Neigungen auch nur zu beachten, sie wird aber jeden Lichtstrahl, der
                              									sichtend, klärend in ihr Schaffen fällt, dankbar nutzen.