| Titel: | Zur philosophischen Begründung der Technik. | 
| Autor: | P. K. von Engelmeyer | 
| Fundstelle: | Band 315, Jahrgang 1900, S. 422 | 
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                        Zur philosophischen Begründung der Technik.
                        Von Ingenieur P. K. von Engelmeyer, Moskau.
                        (Fortsetzung von S. 373 d. Bd.)
                        Zur philosophischen Begründung der Technik.
                        
                     
                        
                           Der Mensch in der Gesellschaft.
                           Der letzte Aufsatz S. 373 d. Bd. war dem gesellschaftlichen Menschen in der Natur gewidmet. Nun gilt es, die Grenze noch enger
                              zu ziehen. Die Gesellschaft bildet die nächste Umgebung des Individuums. Zwischen Individuum und Gesellschaft besteht eine
                              Wechselwirkung, in der wir die beiden Seiten wieder erkennen: die Einwirkung der Gesellschaft auf das Individuum und diejenige
                              des Individuums auf die Gesellschaft. Uns interessiert mehr die zweite. Sie fängt schon dort an, wo ein Mensch auf einen anderen
                              einwirkt, sei es auf Freund, Schüler, Leser, Kind u. dgl. Die Beherrschung der Masse durch den Demagogen ist nur ein Einzelfall
                              dieser Einwirkung.
                           Vor allem ist es klar, dass das Individuum nur seinen eigenen Trieben folgt. Diese heissen altruistisch oder egoistisch, je
                              nachdem sie der Gesellschaft nützlich oder schädlich sind. Denn auch die altruistischen Triebe, die der Mensch verfolgt, sie
                              sind ebensowohl seine eigenen, wie die egoistischen. Es ist ja nichts als eine Redensart, zu sagen: es habe einer seinen Vorteil
                              dem der Gesellschaft aufgeopfert; denn psychologisch heisst es: der Vorteil der Gesellschaft ist ihm teuerer geworden. Der
                              Mensch ist von Hause aus ζῶον πολιτικόν; d.h. ihm sind auch solche Triebe eigen, die das Wohl der Gesellschaft begründen.
                           Auf dieser Thatsache hat sich der Utilitarismus als ethisches System ausgebildet. Die Begründer dieses Systems, von Epikur bis auf Bentam und J. St. Mill sehen keinen wesentlichen Unterschied zwischen Gut und Nützlich. Was der Gesellschaft nützlich, sei gut. Das Individuum sieht
                              seinen persönlichen Nutzen mit dem der Gesellschaft derart verflochten, dass ihm das Wohl der Gesellschaft als eine Bedingung
                              entgegensteht, um sein eigenes Wohlsein zu begründen. Es ist nicht unsere Aufgabe, in den Utilitarismus weiter einzudringen.
                              Derselbe interessiert uns nur, insofern er die egoistischen Triebe mit den altruistischen in engste Beziehung stellt, und
                              von Gut zu Nützlich eine Brücke schlägt, so dass es den Anschein nimmt, als könnte man aus Gut und Nützlich nur eine Kategorie
                              machen, indem man sagt: der Begriff des Guten ist dem des Nützlichen untergeordnet. Denkt man sich ein menschliches Individuum
                              einsam auf Erden, so existiert für ihn noch kein Gut und Bös, sondern nur Nutzen und Schaden. Er kann sich weder Gutes noch
                              Böses anthun: er kann sich eventuell nur nützen oder schaden. Gut und Bös treten erst in der Gesellschaft ein.
                           Wir überlassen den Philosophen die Entscheidung, inwiefern die Subsumierung des Guten unter das Nützliche richtig und praktisch
                              wäre. Doch merkwürdig scheint uns, wie nah der allgemeine Sprachgebrauch in den meisten Kultursprachen das Gute mit dem Nützlichen
                              zusammenhält. Alles Gute ist christlich dogmatisiert als der Seele nützlich. Umgekehrt bezeichnet die gemeine Habsucht mit
                              Gut das rein nützliche sachliche Eigentum. Und die Wörter: Wohl, Wohlsein, Wohlbefinden fassen das Gute wie dasNützliche derart zusammen, dass man sich versucht fühlt, anstatt unserer Tetrade: Gut, Wahr, Schön, Nützlich, die Triade:
                              Wohl, Wahr, Schön anzunehmen. Wir bleiben indessen bei der Tetrade und gehen weiter. Indem nun das Individuum seinen eigenen
                              Trieben folgt, begründet es sein Wohlsein und baut die Gesellschaft auf. Mag das Individuum noch so sehr der Ueberzeugung
                              hingegeben sein, dass das gesellschaftliche Wohl sein persönliches begünstigt, so wird es doch wohl kaum je dazu kommen, dass
                              im Individuum selber der Kampf aufhört, den zur Zeit die egoistischen Triebe mit den altruistischen stetig führen. Die Freiheit
                              wird wohl immer durch die Einschränkung erreicht werden müssen. Das innere Normativ dieser Einschränkung heisst Gut, das äussere
                              heisst Sitte und Recht.
                           Wir Techniker denken gern mechanistisch. Es sei uns dies vergolten. Ich habe neulich in der Kinderstube ein mechanisches Bild
                              der Gesellschaft gesehen, als die Kinder Seifenblasen machten. Die einzelne Seifenblase ist das Sinnbild des Individuums.
                              Alle Seifenblasen sind einander ähnlich, doch gleicht keine der anderen: Grösse und Farbenspiel sind verschieden. Die eine
                              wächst rascher, die andere langsamer. Ist sie mit schwerem Rauch gefüllt, so ist sie trüb und sinkt zu Boden und platzt, sobald
                              sie ihr triviales Unten erreicht. Wird sie mit Leuchtgas gefüllt, so strebt sie dem Himmel zu, doch kann sie ihn nicht erreichen;
                              auch sie platzt und kommt nimmer wieder. Mit dem Hauche des lebenden Menschen erfüllt, lebt die Blase länger und schwebt im
                              Raume, ihrer Natur und den Strömungen der Umgebung frei gehorchend, und die ihr geeignete kugelrunde Form behauptend.
                           Die frei schwebende Seifenblase versinnlicht für mich den Menschen in der Natur. Das Sinnbild der Gesellschaft sah ich, als
                              das Kind in das Seifenwasser anhaltend blies. Es entstand ein Schaum. Die schöne Kugelform, die der Blase eigen war, so lange
                              sie allein existierte, hatte sich wesentlich verändert: nur an der Oberfläche der Gesellschaft, dort, wo die Blasen die umgebende
                              Natur berührten, sah man noch sphärische Formen; im Inneren aber waren die Blasen zu Polyedern zusammengedrängt. Befreite
                              man eine der Bedrängten, so erhielt sie sofort die ihr „geeignete“ Form; doch war sie nicht mehr so langwährend, wie im Schosse der Gesellschaft. Bedrängt durch die anderen, ist sie aber auch
                              dadurch geschützt.
                           Obwohl der Schaum sichtbar aus einzelnen Blasen besteht, so bildet er doch ein selbständiges Ganzes, das an Zähigkeit und
                              Lebensdauer die einzelnen Blasen weit übertrifft. So ist die egoistisch-sphärische Form der Blase eng verknüpft mit einer
                              kurzen und unsicheren Existenz, wogegen die polyedrische gesellschaftliche Form der Blase eine bessere Existenz sichert. Darum
                              fügt sich jede Schaumblase der gesellschaftlichen Eingrenzung mit mechanischer Notwendigkeit ein. Und dennoch sind sie alle
                              Konkurrenten auf den Raum. Sie behaupten ihren Besitz proportional ihrer inneren Kraft. Bläst das Kind anhaltend in eine Blase hinein, so macht sie sich gross und drückt die anderen nieder,
                              und hebt sich über dieselben empor und erreicht ihre egoistische Form. Fällt dagegen die Kraft derselben (etwa durch Offenhalten
                              des Strohhalmes), so sinkt sie, von den anderen niedergedrückt, und schrumpft zusammen bis zur vollen Vernichtung.
                           Ebenso das Individuum. Nur gegenüber der menschenlosen Natur kann es ungebändigt seinen egoistischen Trieben Folge leisten.
                              In der Gesellschaft sind ihm durch Sitte und Recht Schranken gezogen, die ihn zwar bedrängen, doch aber seine Existenz gesellschaftlich
                              sichern. Es muss nur trachten, seine innere Kraft nicht zu verlieren, um dem Drucke seiner Genossen nicht zu unterliegen.
                              Denn sein Besitztum behauptet es nur mit seiner Kraft, die es verdankt der Geburt, der Bildung, dem Fleisse, dem Talente und
                              dem Glück.
                           Das Schaumbild der Gesellschaft lässt uns indessen in einer Beziehung im Stich: im Schaume sehen wir kein Seitenstück der
                              technologischen Wirkung eines Individuums auf das andere und auf die Gesellschaft, die doch im Menschenleben thatsächlich
                              existiert, indem sie jene Erscheinungen ins Leben ruft, die man nennt: Erziehung und Unterricht, Gesundheits- und Rechtspflege,
                              Verwaltung und Waffenstreit, Gesetzgebung, Politik u.s.w. Der Mensch verrichtet gesellschaftliche Thaten, indem er auf seinesgleichen
                              zielbewusst und zweckmässig einwirkt, und so die äusseren gesellschaftlichen Verhältnisse seinen inneren anpasst. Seinem Wollen
                              stellt sich ein Wissen und ein Können zur Seite.
                           Fassen wir nun das Gesagte kurz zusammen. Des Menschen Thätigkeit hat zwei Richtungen: einmal werden die inneren (subjektiven)
                              Verhältnisse an die äusseren
                              									(objektiven) angepasst, ein anderes Mal ist es umgekehrt. Die Biologie hat nur die erste Hälfte untersucht und dieselbe
                              als Evolutionsprinzip ausgedrückt. Die zweite Hälfte, die objektivierende Thätigkeit, hat für das Menschenleben eine insofern
                              grössere Bedeutung, als sie den Menschen über die Natur und die Tierwelt erhebt. Sie kann nicht mehr rein biologisch ergründet
                              werden: Psychologie und Soziologie, in ihren tiefsten und neuesten Zweigen, müssen herangezogen werden.
                           Die objektivierende Thätigkeit nennen wir kurzum Thätigkeit, dem üblichen Sprachgebrauch uns fügend. Sie bildet den Gegenstand
                              unserer Untersuchung. Um uns in diesem unermesslichen Felde einigermassen zu orientieren, haben wir es in vier Fächer eingeteilt,
                              je nach den Grundtrieben des Menschen, die sein Handeln auf das Gute, das Wahre, das Schöne und das Nützliche hinrichten.
                              Vorläufig nur die typischen Fälle in Betracht ziehend, lassen wir. die Wechselwirkung dieser Grundtriebe aufeinander bei Seite.
                           Wir wissen ferner, dass jede That durch drei Elemente bestimmt ist: durch Wollen, Wissen und Können. Das Wollen bestimmt die
                              That teleologisch, das Wissen – logisch, das Können – sachlich. Das Wollen gibt die Zwecke, Wissen und Können geben die Mittel.
                              Intuitiv entstehen in uns die Vorstellungen der Zwecke und auch der Mittel.
                           In seiner Thätigkeit übt der Mensch Einwirkung aus auf die Natur, oder auf seinesgleichen. Da aber die egoistischen wie die
                              altruistischen Triebe dem Individuum eigen sind, ist für uns dieser Unterschied nicht von Belang.
                           
                        
                           Jede That ein Dreiakt.
                           Jetzt gilt es, in der nach Gut, Wahr, Schön und Nützlich zergliederten Thätigkeit überall das Vorhandensein der drei Elemente
                              – Wollen, Wissen, Können – nachzuweisen.
                           Wir beginnen mit der nützlichen That, als Technik betrachtet, weil der Dreiakt in der Technik bereits eingehend besprochen
                              worden war (vgl. D. p. J. 1899 312 130, 145 ff., 313 17 ff., 65 ff). Man wird mir vielleicht entgegenhalten, dass dort nur von Erfindung die Rede war. Dieser Einwand kann indes
                              nur seitens eines Nichttechnikers geltend gemacht werden, weil der Techniker weiss, dass seine ganze Thätigkeit ihren Ursprung
                              in derschöpferischen Kraft hat, d.h. in der Fähigkeit, vom vorgesteckten Ziele zu dessen Ausführung überzugehen, was ich übrigens
                              schon früher betont habe (D. p. J. 1899 313 81).
                           Es gibt eine Reihe Künste, welche einen allmählichen Uebergang von der Technik zu der schönen Kunst bilden. Die wollen wir
                              uns nun ansehen.
                           Was der Techniker gegenüber der Natur, ist der Arzt gegenüber dem menschlichen Organismus. Dieser Unterschied ist oben betont
                              worden. Der Arzt bildet sich ein spezielles Wissen und Können, wie es sein Objekt erheischt. Was heisst Therapie? Der Arzt
                              untersucht den Kranken, um sich eine Vorstellung von dem zu gewinnen, worauf seine Kurtechnik zu richten wäre. Die Diagnose
                              ist der erste Akt der Therapie, sie gibt dem Arzte intuitiv die Intention, die Verkörperung seines Wollens. Eine richtige
                              Diagnose aufzustellen, ist eine Kunst für sich, die auf einer speziellen Erschauungsgabe beruht. Das Wissen und Können der
                              Therapeuten bedingen den zweiten und den dritten Akt seiner That, oder auch dasjenige, was man seine Methode nennt. Im dritten
                              Akte, in der leiblichen Anwendung der Heilmittel, stehen ihm gewöhnlich Gehilfen zur Seite, welche das Können sich noch besser
                              wie der Arzt selbst angeeignet haben. Vom Chirurgen lässt sich genau dasselbe sagen.
                           Auch in der Thätigkeit des Schneiders, der nicht bloss Handwerker ist, lassen sich die drei Elemente erkennen. Als Beispiel
                              nehmen wir den weltberühmten Pariser Schneider Word, den Em. Zola in seinem Romane „La Curée“ unter dem Namen Worms dargestellt. Er war ein schaffender Schneider. Sobald sich eine Dame an ihn wendete, strengte er sein Schaffungsvermögen
                              an, um eine Intention zu erfassen (erster Akt). Zuweilen vermochte er dies nicht und rief mit Verzweiflung aus: „Heute kann ich nicht, ich fühle sie nicht“. Der zweite Akt wird in einem jeden grösseren Schneidergeschäft durch einen Zuschneider verrichtet. Den dritten besorgen
                              die Näherinnen.
                           Der gemeine Handwerker steigt wohl nicht über das Können hinaus. In jeder Zunft findet man jedoch Menschen, die höher stehen,
                              und nicht bloss fertige Muster routinenmässig nachbilden, denen somit ein gewisses Wissen und ein Wollen zugesprochen werden
                              muss. Die schaffende Thätigkeit solcher Meister ist ein leicht erkennbarer Dreiakt.
                           Zu der Architektur übergehend, bemerken wir vor allem, dass die Architekten in zwei Gruppen zerfallen, von denen die eine
                              sich auf die Bauart, die andere auf die Verzierung (Stil) spezialisiert hat. Die Thätigkeit des Bauarchitekten ist diejenige
                              des Bautechnikers, und als solche ein Dreiakt. Sie braucht uns nicht aufzuhalten. Und die Thätigkeit des Stilarchitekten unterscheidet
                              sich nicht wesentlich von der des bildenden Künstlers, zu der wir nun übergehen.
                           Also die schöne Kunst! Sie ist ein Sammelname für eine lange Reihe von Thätigkeiten, die unser irdisches Dasein verschönern.
                              Die Psychologen und die Aesthetiker haben sich mehrfach mit dem Schaffen des Künstlers beschäftigt. So verschieden ihre Ansichten
                              auch sind, so stimmen sie doch alle darin überein, dass der Künstler eine Intention konzipiert, und derselben einen sachlichen
                              Ausdruck verleiht, indem er Töne, Farben und Formen zweckmässig aneinander reiht. Dies genügt uns vollkommen. Der Dreiakt
                              ist schon da: die Intention ist das intuitive Ergebnis des ersten Aktes; sie schwebt dem Willen vor als ein zu erreichendes
                              Ziel, als ein Zweck, zu dem die Mittel das Fachwissen und das Können darbieten. Diese Thatsache wollen wir gleich im einzelnen
                              verfolgen, mit dem Maler anfangend.
                           Goethe meint: „Je grösser das Talent, je entschiedener bildet sich gleich anfangs das zu reproduzierende Bild. Man sehe Zeichnungen von
                                 Raphael und Michel Angelo, wo auf der Stelle ein strenger Umriss das, was dargestellt werden soll, vom Grunde loslöst und körperlich einfasst. Dagegen
                                 werden spätere, obgleich treffliche Künstler auf einer Art Tasten ertappt: es ist öfters, als wenn sie erst durch leichte,
                                 aber gleichgültige Züge aufs Papier ein Element erschaffen wollen, woraus nachher Kopf und Haar, Gestalt und Gewand und was
                                 sonst noch wie aus dem Ei das Hühnchen sich bilden solle.“
                              									Goethe mag wohl darin recht haben, dass die Grösse des Talents umgekehrt proportional sei mit der Zeitdauer des ersten Aktes; aber sein
                              Beispiel ist für diese Behauptung nicht beweiskräftig, denn er besagt nur das Eine, dass namentlich Raphael und Michel Angelo den Bleistift erst dann ergriffen, wenn der erste Akt zum Abschluss
                              gelangt, wogegen andere etwas früher. Weiter nichts. Dass sich die letzteren eines Missgriffes schuldig machen, geben wir
                              um so williger zu, als dies auch beim technischen Erfinder ein Fehler ist (vgl. D. p. J. 1899
                              										312 145). Aber folgende Aussage Goethe's ist ungemein aufklärend: „So kam Shakespeare der erste Gedanke zu seinem Hamlet, wo sich ihm der Geist des Ganzen als unerwarteter Eindruck vor die Seele stellte, und
                                 er die einzelnen Situationen, Charaktere und Ausgang des Ganzen in erhöhter Stimmung übersah, als reines Geschenk von oben,
                                 worauf er keinen unmittelbaren Einfluss gehabt hatte, obgleich die Möglichkeit, ein solches Apercu zu haben, immer einen Geist
                                 wie den seinigen voraussetzte. Die spätere Ausführung der einzelnen Scenen aber, und der Wechsel in den Personen hatte er
                                 vollkommen in seiner Gewalt, so dass er sie täglich und stündlich machen und daran wochenlang fortarbeiten konnte, wie es
                                 ihm nur beliebte.“ Es ist kaum möglich, den Grenzpfosten zwischen dem ersten und dem zweiten Akte deutlicher aufzustellen, als dies Goethe thut! Der erste Akt hat die Idee des Ganzen ergeben, die wesentlichsten Situationen und Charaktere. Und das ist Sache gewesen
                              der Intuition, der reinen Erschauung. Das Wollen hat nun fungiert, die Intention ist da; jetzt bleibt nur die besonnene Bearbeitung
                              des zweiten Aktes und das gewandte Machen des dritten übrig.
                           Der zweite Akt des schaffenden Künstlers ergibt Cartons, Wachs-, Thon- und Gipsmodelle; beim Drama entsteht das Scenarium.
                              Der dritte Akt besteht in dem, was
                              										Feuerbach
                              									„das Machen auf der Leinewand“ nannte, d. i. die sogen. Technik des Künstlers. Der zweite Akt erheischt beim Künstler das Kennen jener Welt, die er darstellt.
                              Eine Vorkenntnis ist schon im ersten Akte unentbehrlich, um eine ausführbare und wirksame Intention zu erlangen. Im zweiten
                              Akte genügt ein solches Wissen nicht mehr: hier treten in Scene die wirklich existierenden Triebe und Sitten, der Künstler
                              muss mit dem alltäglichen Leben seiner Personen vertraut sein. Nicht selten muss er sich dem fügen, was Naturkunde, Geschichte,
                              Ethnographie und sonstige Wissenschaften als fest ergeben haben. Beherrscht er das nötige Fachwissen noch nicht, so sammelt
                              er sich in seine Studie (wie bezeichnend dieser Name!) die nötigen Gegenstände, oder er begibt sich an Ort und Stelle, wie
                              dies z.B. Em. Zola regelmässig thut.
                           Keinen wesentlichen Unterschied sehen wir in dem Schaffen des musikalischen Komponisten. Was der erste Akt ergibt, davon geben
                              uns Beethoven's Skizzenbücher reichlichen Beleg: Ein grösseres Werk wird in seinen wesentlichsten Zügen angedeutet. Im zweiten Akte tritt
                              die musikalische Wissenschaft auf: Harmonie, Kontrapunkt, Formenlehre, musikalische Aesthetik. Ein Orchesterwerk wird als
                              Ganzes aufs Partiturpapier entworfen, vorläufig nur die hervortretenden Stimmen. Das Ausfüllen der Partitur und die endgültige
                              Feile sind Sache des dritten Aktes.
                           Wenn der Künstler im zweiten Akte kein Denker, im dritten kein Handwerker zu sein vermag, wenn er den Mangel seines Wissens
                              und Könnens durch Intuition ersetzen will, so bringt er ein Dilettantenstück hervor. Wenn er den Mangel an Intuition durch
                              Vielwissen ersetzen will, bringt er höchstens ein Ding zusammen, das vielleicht den Historiker oder sonstigen Denker interessiert.
                              Will er mit seiner Gewandtheit allein auskommen, so gibt er ein Machwerk, ein Modenwerk, wo alles anständig, zierlich und
                              manierlich glatt abläuft, und der Schlaflosigkeit die beste Abhilfe darbietet. Ein Kunstwerk, welches das Gemüt bewegt, dem
                              Verstande Arbeit gibt und den Geschmack befriedigt, entsteht nur da, wo Wollen (Intuition), Wissen und Können selbständig
                              und gemeinschaftlich fungieren.
                           Wenden wir uns zu den ausübenden Künstlern: zu dem Lektor, Schauspieler, Musikvirtuosen, so ist auch in ihrer Thätigkeit der
                              Dreiakt unverkennbar. Schwarz auf weiss liegt ein Gedicht, ein Drama, ein Musikstück. Aberdas ist nur eine hohle Form. Will der Vortragende den blutwarmen Inhalt hineinthun, so muss er sich die Idee des Charakters
                              persönlich erschaffen, was nur auf Grund einer tiefen Menschenkenntnis möglich ist, alsdann muss er sich Tracht, Minnen und
                              Gebärden dementsprechend aneignen, und dies alles endlich geschickt in Erscheinung bringen. Schaffungskraft, Menschenkenntnis
                              und scenische Routine machen erst zusammen den Tragiker. Aber auch der Musikvirtuose, wenn er nur auf Selbständigkeit Anspruch
                              macht, kann nicht mit den Fingern allein auskommen: er muss die Befähigung zu persönlichen Intentionen haben.
                           So viel über die Kunst.
                           In der Wissenschaft lässt sich der Dreiakt ebenso leicht nachweisen. Mach hat unwiderleglich festgestellt und Schanze eingehend erörtert, dass der Werdegang der Entdeckung und der Erfindung derselbe ist. Als ein recht typisches Beispiel nehmen
                              wir die Entdeckung der Gravitation. Bekanntlich hat uns Voltaire die Geschichte dieser Entdeckung hinterlassen. Newton's Vorgänger (Kepler u.a.) hatten die Planetbewegungen mit drei Formeln beschrieben. Newton fand, dass sich die drei Formeln auf eine einzige zurückführen lassen, wenn man eine Anziehung zwischen Sonne und den Planeten
                              annimmt, solch eine Anziehung, die den Massen direkt, den Entfernungen umgekehrt proportional wirkt. Der erste Akt war vollbracht,
                              als sich Newton die Frage stellte: ob man nicht solch eine Anziehungskraft zwischen allen Himmelskörpern annehmen dürfte? So weit war es
                              nur eine Hypothese.
                              										„Hypotheses non fingo“ sagte sich Newton und schritt zum zweiten Akte, d. i. zur ziffermässigen Prüfung seiner Hypothese, indem er sie an die gut ausgemessene Bewegung
                              des Mondes um die Erde anwendete. Die präzise Gradlänge war dazu notwendig. Als nun Newton diejenige Gradlänge annahm, die den Seeleuten seinerzeit für richtig galt, stimmten Hypothese und Rechnung nicht miteinander.
                              Wäre Newton dann gestorben, wer weiss, wann wir das Gravitationsgesetz gehabt hätten! Glücklicherweise wurde bald die Gradlänge vom Franzosen
                              Piquard richtiger ausgemessen, und so konnte Newton den Beweis erbringen. Im dritten Akte gab er dem Gravitationsgesetze die endgültige wörtliche mathematische Fassung. Nicht
                              selten sieht sich der Forscher gezwungen, auf Grund des zweiten Aktes seine ursprüngliche Hypothese wesentlich umzuändern.
                           Es bleibt uns übrig, die gute That als Dreiakt darzulegen. Wir denken an Moses, Christus, Mahomet und Luther und besprechen aus nahe liegenden Gründen Moses allein. Beseelt mit dem bekannten israelitischen Rassenhang, stellte er sich die Aufgabe, sein Volk zu befreien (erster Akt).
                              Alsdann begab er sich auf längere Zeit in die Wüste, um sich einen ausführlichen Plan der That auszuarbeiten
                              									(zweiter Akt). Das nötige Wissen hatte er schon anheim: am Königshof mustergültig gebildet, kannte er sehr gut den
                              Charakter des Unterjochers. Auch die magischen Künste der ägyptischen Priester hatte er sich angeeignet und wusste, welch
                              starken Eindruck sie auf die Zeitgenossen machten. Ferner wusste er ganz gut, was sein habsüchtiges und verknechtetes Volk
                              in einer Idee vereinigen konnte. Er musste seinen Plan ins Detail durchdenken. Von beiden Seiten wird man allerhand Fragen
                              aufwerfen; man muss sich vorbereiten. Alle Hindernisse muss man vorausgesehen haben. In sich fühlte aber Moses eine wichtige Lücke: den Mangel an Eloquenz. An diesem konnte der beste Plan scheitern. Darum verband er sich mit seinem
                              Bruder Aaron, den er behufs grösserer Wirksamkeit das Amt des Gewissensbeherrschers bekleiden liess. So war denn endlich der Plan fertig,
                              und Moses kehrte nach Aegypten zurück, um den dritten Akt, die sachliche Ausführung seiner That, zu vollbringen. Das war, wie überall,
                              ein Machen, bei welchem Gewandtheit, Takt, List, überhaupt das Können in Scene traten.
                           So haben wir den Dreiakt in jeder That nachgewiesen, sei sie gerichtet auf das Gute, das Wahre, das Schöne oder auf das Nützliche.
                           Man wird mir vielleicht entgegenhalten: der Dreiakt gebe nur eine Zergliederung und keine Erklärung der objektivierenden Thätigkeit.
                              Das thut mich gar nicht erschrecken. Die Psychologie ist noch so wenig in den Schöpfungsprozess eingedrungen, dass ihr noch ein z. T. unbegrenztes Forschungsgebiet offen liegt. Welche Faktoren dabei auch
                              ans Licht gefördert sein werden, wir werden schon aus dem Grunde von einer Verwirrung gesichert sein, weil jeder derselben
                              sozusagen eine der drei Grundfärbungen beibehält, der des Wollens, des Wissens oder des Könnens. Den Nutzen einer solchen
                              Gliederung begreifen wir auf Grund der modernen Farbenlehre, welche die chromatische Farbenleiter der Natur bloss aus drei
                              Grundfarben faktisch zusammensetzt (man vergleiche die Farbenphotographie). Alle Farbenempfindungen erweisen sich als Funktion
                              dreier Organe im Auge. Aus den Funktionen dieser drei Organe bauen wir uns die ganze Farbenwelt. In ähnlicher Weise führt
                              die Theorie des Dreiaktes alle Erscheinungen der That (insbesondere der noch immer so dunklen schöpferischen That) auf die
                              Funktion dreier Geisteskräfte zurück und aus deren Funktionen baut sie die Welt der künstlichen Erzeugnisse.
                           Noch eine Erläuterung! Wenn ich sage: Wollen, Wissen und Können treten auf als erster, zweiter und dritter Akt der schöpferischen
                              That, oder der That als solchen, so meine ich damit nicht, als sollten sie getrennt nacheinander fungieren, etwa wie das Belichten,
                              Entwickeln und Fixieren einer photographischen Platte. Ohne Vorwissen erlangt das Wollen nicht die Form eines konkreten Zweckes,
                              und Wissen und Können sind nur da, um dem Zweck die Mittel darzubringen, und alle drei sind miteinanderverknüpft. Streng genommen, kann nur von einem quantitativen Vorherrschen gesprochen werden. Dies quantitative Verhältnis
                              versinnlicht das beistehende Diagramm. Im ersten Akte ist das Wollen vorwiegend. Im zweiten ist es das Wissen; aber das Wollen
                              dauert fort und das Können tritt hinzu.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 315, S. 424
                              
                           Im dritten Akte gewinnt das Können Oberhand; aber es fungiert in Gemeinschaft mit dem Wissen, welches sich bereits dem Wollen
                              angepasst hat. Der Leser wird dringend gebeten, im Diagramm nicht mehr zu suchen, als es gibt, und das ist nur ein Sinnbild
                              des Vorherrschens des Wollens, Wissens und Könnens im ersten, zweiten und dritten Akte der That. Einen Schritt darüber hinaus
                              könnte man sich vielleicht erlauben; nur ist das Diagramm schlechterdings kein magisches Zeichen, welches etwa „goldene Eimer“ geheimnisvoll im Schosse birgt. Dixi!