| Titel: | Der mechanische Flug einst und jetzt (Leonardo da Vinci und Karl Buttenstedt). | 
| Autor: | Rudolf Mewes | 
| Fundstelle: | Band 316, Jahrgang 1901, S. 46 | 
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                        Der mechanische Flug einst und jetzt (Leonardo da
                              								Vinci und Karl Buttenstedt).
                        Von Rudolf Mewes, Ingenieur und
                           								Physiker.
                        (Schluss von S. 29 d. Bd.)
                        Der mechanische Flug einst und jetzt (Leonardo da Vinci und Karl
                           								Buttenstedt).
                        
                     
                        
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 316, S. 46
                              Fig. 5.
                              
                           Um ein Bild von dem verbesserten, aus einzelnen Lamellen bestehenden Hengler'schen Fallschirm zu geben, sind die
                              									beistehenden schematischen Skizzen beigefügt. Wie aus denselben zu ersehen ist,
                              									greifen die einzelnen Lamellen in Ruhestellung ein wenig übereinander über und sind
                              									stets an ihren Vorderkanten starr und fest konstruiert, so dass die elastischen
                              									Hinterkanten derselben bbb... auf den festen
                              
                              									Vorderkanten aaa... entweder aufliegen oder infolge des
                              									Winddruckes etwas oberhalb der letzteren stehen. In Fig.
                                 										5 sind beide Lagen der Lamellen angedeutet. Es bilden sich beim Fallen des
                              									ganzen Apparates zwischen je zwei Kanten a und b aufsteigende Luftströme, welche durch die Pfeile
                              									angedeutet sind. Unmittelbar unter der so konstruierten Tragfläche ist die Gondel
                              									für den Insassen so fest als nur irgend möglich befestigt. Die zweite Figur stellt
                              									einen kegelförmigen Hengler'schen Fallschirm mit
                              									Lamellen an den beiden Seiten dar (Fig. 6).
                           In Bezug auf das zweite Mittel nun, durch das man dem Fallschirm eine horizontale
                              									Geschwindigkeit erteilen und somit der Wirkung der Schwere entgegenarbeiten kann,
                              									nämlich in Bezug auf die Benutzung maschineller Kraft zum Vorwärtstreiben des
                              									Apparates, will ich nur bemerken, dass die Benutzung derselben nur dann einen Zweck
                              									oder Sinn hat, wenn man mit deren Hilfe den durch den Fall erlittenen Höhenverlust
                              									wieder ausgleichen will, d.h. wenn man mit deren Hilfe und der Wirkung der schiefen
                              									Ebene des Schirmes eine solche Horizontalgeschwindigkeit schaffen will, dass der
                              									ganze Apparat durch zweckmässige Einstellung seiner Gesamtfläche gegen den Wind wie
                              
                              									ein Drachen auf schiefer Ebene wieder in die Höhe steigen soll. Eine maschinelle
                              									Triebkraft kann also bei dem Fallschirm vorläufig nur den Zweck haben, ein Segeln in
                              									der Luft eine Zeit lang zu ermöglichen. Daher muss die Stärke einer solchen
                              									Triebkraft stets so bemessen sein, dass sie im stande ist, im Verein mit der von der
                              									vertikal wirkenden Schwere abgezweigten Horizontalkraft ein Aufsteigen des ganzen
                              									Apparates in schiefer Ebene zu erzwingen. Die dazu erforderliche Kraft ist nicht
                              									sehr gross; eine Berechnung soll erst nach Besprechung der Untersuchungen von Leonardo da Vinci und Buttenstedt gegeben werden. Dass bei Benutzung eines Steuers ein Kreisen
                              									oder Segeln nach beliebiger Richtung mit dem soeben beschriebenen Fallschirm möglich
                              									wird, brauche ich wohl nicht besonders hervorzuheben; vermochte doch schon Hengler seinen immerhin noch sehr primitiven und
                              
                              
                              									einfach gebauten Fallschirm durch blosses Verlegen des Schwerpunktes, wenn auch nur
                              									in beschränktem Masse,zu lenken, bezw. auf der Bahn sich entgegenstellende
                              
                              									Hindernisse, wie Bäume und Häuser, zu umsegeln.
                           Zum Schluss dieses Abschnittes möchte ich noch einige Bemerkungen über die Gesetze
                              									des Segelfluges bringen, da dadurch die Beurteilung der Arbeiten Leonardo's wesentlich erleichtert werden dürfte. Wenn
                              
                              									auch die Anschauungen hierüber unter den neueren Flugtechnikern noch nicht geklärt
                              									und zum Teil sehr verschieden sind, so kann man gleichwohl besonders zwei einander
                              									gegenüberstehende Richtungen unterscheiden, nämlich die ältere, von Mouillard vertretene, welche ich für richtig halte, und
                              									die neuere, von Lord Raleigh u.a. gegebene Erklärung
                              									des Schwebefluges.
                           Gegen die letztere Ansicht, nach welcher der Segelflug durch das abwechselnde
                              									Eintauchen des Vogels in zwei aneinander grenzende, aber verschieden gerichtete
                              									Luftströmungen bedingt wird, ist ein prinzipieller Einspruch nicht zu erheben, wohl
                              									aber lässt sich dagegen einwenden, dass der wahre Sachverhalt nicht so sein wird, da
                              									in den Höhen, wo die segelnden Vögel zu fliegen pflegen, wohl selten zwei
                              									verschieden gerichtete Luftströmungen anzutreffen sind, der Segelflug aber an
                              
                              									windigen Tagen häufig beobachtet wird. Ausserdem halte ich die Annahme einer neuen
                              									Erklärung des Segelfluges nicht für erforderlich, weil die ältere dazu ausreicht und
                              									der hauptsächlichste gegen dieselbe erhobene Einwand nicht stichhaltig ist, dass ein
                              									in derselben Luftströmung segelnder Vogel zu dieser in relativer Ruhe sich befinden
                              
                              									müsse. Die Anhänger der neueren Segelflugtheorie greifen die althergebrachte
                              									Erklärung dieser Flugart gerade aus diesem Gesichtspunkte scharf an und glauben
                              									daraus den Schluss ziehen zu müssen, dass der Vogel durch blosse Wendungsmanöver
                              									sich die Kraft des Windes nicht nutzbar machen könne.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 316, S. 46
                              Fig. 6.
                              
                           Nach der gewöhnlichen Auffassung vom Segelfluge, welcher auch Dr. Müllenhoff in seinen wertvollen Untersuchungen über den
                              									Flug der Vögel gefolgt ist, lässt sich der Vogel von einem hochgelegenen Punkte aus
                              									zunächst vom Winde treiben und gewinnt dadurch eine gewisse, durch seine Schwere und
                              
                              									den Winddruck bedingte Geschwindigkeit, indem er dabei um ein Gewisses sinkt. Die
                              									aufgespeicherte lebendige Kraft benutzt er dann, indem er eine halbe Schwenkung
                              									gegen den Wind ausführt, um gegen den Wind anzusteigen. Hierbei wird die Kraft zum
                              									grössten Teil aufgezehrt. Indem der Vogel sich aber wieder mit dem Winde wendet,
                              									fasst dieser ihn von neuem und dasselbe Spiel wiederholt sich gleich dem Kuckucksruf
                              										„mit Grazie ad infinitum“, so dass der Vogel sich gleichsam und dem Scheine nach durch
                              									den Wind in die Höhe blasen lässt. Um eine solche Auffassung des Segelfluges als
                              									irrig nachzuweisen, versetzen sich die Gegner im Geiste in einen Ballon, um welchen
                              									in möglichster Nähe ein Vogel seine Kreise ziehen soll, und behaupten dann, dass dem
                              
                              									Vogel ebenso wie dem Luftschiffer die Luft zu ruhen scheine, da beiden Luftwanderern
                              									der Anblick der Erde durch tiefer liegende Wolken oder durch die Dunkelheit entzogen
                              									sein soll, und ihnen damit die Mittel zur Feststellung ihrer Fortbewegung durch die
                              									Luft und mit derselben genommen seien. Indessen muss die Berechtigung für einen
                              									solchen Schluss, nach welchem dasjenige, was in einem bestimmten Falle für den
                              									Ballon oder dessen Führer Gültigkeit hat, ebenfalls für den kreisenden Vogel gilt,
                              									jedesmal erst nachgewiesen werden. Diese Schlussfolgerung ist ja eben nur dann
                              									logisch richtig, wenn die bezüglichen Lagen des Vogels und Ballons rücksichtlich der
                              									Windströmung als identisch nachgewiesen sind. Aber die Führung dieses
                              
                              									Identitätsbeweises ist, soweit ich es beurteilen kann, überhaupt nicht möglich, weil
                              									ein kreisender Vogel und ein freischwebender Luftballon in Bezug auf die
                              									Luftströmung, in der sie sich befinden, wirklich nicht in wesentlich gleicher Lage,
                              									sondern im Gegenteil zwei in dieser Hinsicht thatsächlich ganz verschiedene Dinge
                              									sind. Ein Ballon nämlich, der in derselben Horizontalebene mit dem Winde Schritt
                              									hält, besitzt dem Winde gegenüber keine Eigenbewegung; dieselbe erlangt er erst,
                              									wenn der Luftschiffer Ballast auswirft oder das Ventil öffnet. Denn in den beiden
                              									letzten Fällen steigt oder sinkt der Ballon gemäss dem Kräfteparallelogramm infolge
                              									der gemeinsamen Wirkung zweier Kräfte; in dem einen wird er nämlich in der Richtung
                              									der Resultante des Winddruckes und der Steigkraft zu noch höheren Regionen
                              									auffahren, in dem anderen aber in der Richtung der Resultante des Winddruckes und
                              									der Fallkraft zur Mutter Erde zurückkehren. Ueberlässt man leichte Federn in den
                              									soeben besprochenen Fällen von der Gondel aus dem Spiel des Windes, so eilen
                              									dieselben in horizontaler Richtung regelmässig dem sinkenden oder steigenden Ballon
                              									etwas voraus, machen also die Eigenbewegung des Ballons gegenüber der Windströmung
                              									dem Auge sichtbar. Sobald aber der Ballon im Gleichgewicht mit der Luft ist, und
                              									somit die Schwerkraft durch statischen Druck aufgehoben ist, muss er thatsächlich in
                              
                              									Bezug auf die ihn umgebende Luft in Ruhe sein; denn in diesem Falle übt nur noch der
                              									Winddruck auf ihn eine Wirkung aus und zwingt ihn, der Luftströmung mit gleicher
                              									Geschwindigkeit zu folgen. Die Beobachtung hat dies bestätigt, denn beispielsweise
                              									werden Wollflocken oder leichte Federn, welche der Luftschiffer frei in der flachen
                              									Hand hält, vom Winde dann nicht fortgeblasen, sondern verharren darauf in Ruhe.
                           Ganz anders aber liegen die Verhältnisse beim kreisenden Vogel. Zunächst wird niemand
                              									bestreiten, dass der Vogel schwerer als die ihn umgebende Luft ist; er ist also
                              									stets dem Gesetze der Schwere unterworfen. Ausserdem wirkt jedoch auf denselben, da
                              									ihm ja eine räumliche Ausdehnung nicht abgesprochen werden kann, demgemäss auch noch
                              									der Druck der Luftströmung ein, in welcher er gerade schwebt. Der Vogel muss also
                              									stets dem Einfluss zweier Kräfte, nämlich der eigenen Schwere und der Kraft des
                              									Windes folgen, wenn man von seiner Muskelthätigkeit vorläufig noch ganz absieht;
                              									diese beiden Kräfte sind demnach die selbstthätig
                              
                              
                              									wirksamen Faktoren, welche seine Flug- oder Fallbahn hervorbringen. Während der
                              									freischwebende Ballon sich stets in derselben Horizontalen bewegt, bleibt, streng
                              									genommen, der segelnde Vogel keinen Augenblick in derselben, weil er, einem
                              									lebendigen Pendel vergleichbar, in einem beständig abwechselnden Fallen und Steigen
                              									begriffen ist. Die Bewegungsweise eines im Winde segelnden Vogels lässt sich daher
                              									weder mit derjenigen eines Segelschiffes noch mit der eines äquilibrierten Ballons
                              									vergleichen, weil diese Vehikel stets in derselben Horizontalen bleiben, der Vogel
                              									aber nicht; wohl aber – mutatis mutandis – mit derjenigen eines abwechselnd
                              									sinkenden und steigenden Ballons. Der oben erwähnte, von Seiten der Gegner gegen die
                              									gewöhnliche Erklärung des Segelfluges erhobene Einwand ist also nicht haltbar und
                              									nicht zutreffend.
                           Aber wie kann denn, dürfte hier ein kritischer Leser mit vollem Fug und Recht
                              
                              									fragen, beim Vogel ein Steigen eintreten, da auf denselben doch nur die vertikal
                              									nach unten ziehende Schwerkraft und der Horizontaldruck des Windes einwirken sollen?
                              									Die Antwort hierauf findet man bei Leonardo da Vinci
                              									und Karl Buttenstedt. Einem solchen Einwände gegenüber
                              									ist nach diesen Flugtechnikern auf die feststehende Thatsache hinzuweisen, dass der
                              									Vogel die Fähigkeit besitzt, seine Flügel nach Belieben gegen den Wind zu neigen und
                              									dadurch unter Beihilfe seines Schwanzes, dessen er sich mit Geschick und Kraft als
                              									Steuer bedient, die Bewegung in der Horizontal- und Vertikalebene nach gewünschter
                              									Richtung hin zu lenken und unter Beihilfe des Windes zu bewirken. Die geringe
                              									Eigenarbeit des Vogels, die Form und Beschaffenheit der Flügel und sein Gewicht
                              
                              									nebst der Hilfskraft des Windes sind demnach die einzigen und auch wirklich
                              									ausreichenden Ursachen der sichtbar werdenden Flugbewegung. Die eigentliche Lösung
                              									des Flugrätsels liegt jedoch weniger in diesen Faktoren allein, sondern vielmehr
                              									darin, dass gerade auf Grund ihrer gemeinsamen Bethätigung auch für den Flug der
                              									Vögel die Pendelgesetze ebenso allgemein gelten, wie dies für die Bewegungsweise der
                              									Säugetiere durch die bekannten Göttinger Professoren Gebrüder Weber nachgewiesen ist. Die Kunst jeder Bewegungsweise
                              									besteht eben in der höchsten Ausnutzung der einmal aufgewandten Kraft, in der Weise,
                              									wie dies bei dem schwingenden Pendel geschieht. Der Adler, der pfeilschnell
                              									herunterstürzt und ebenso rasch durch einfaches Drehen seiner Flügel die verlorene
                              									Höhe wieder gewinnt, ohne dass er hierbei auch nur einen Flügelschlag macht, hat
                              									gleichsam eine ungeheure Pendelschwingung durchmessen, und die durch den
                              									anfänglichen Fall erlangte Arbeitskraft beim Wenden und Aufsteigen wieder
                              									aufgebraucht, ohne auch nur einen geringen Bruchteil seiner Muskelkraft bei dieser
                              									gewaltigen Arbeitsleistung aufgewendet zu haben. Wie ein aus der Höhe auf den harten
                              									Estrich herabgefallener Gummiball vermöge seiner Elastizität beinahe bis zur
                              									ursprünglichen Höhe wieder emporspringt, ebenso steigt auch der im Sturzfluge
                              									herunterschiessende Adler vermöge seiner in eine geeignete Stellung gedrehten,
                              									höchst elastischen Flügel wieder zur ersten Fallhöhe auf. Nicht allein die schräge
                              									Einstellung der Flügel, sondern nach Leonardo und Buttenstedt auch deren ausserordentliche Elastizität
                              
                              									machen durch ihre gleichzeitige Wirksamkeit es erst dem Segler möglich, den
                              									Pendelgesetzen gemäss ohne erhebliche eigene Kraftanstrengung sich wieder in die
                              									Höhe emporzuschwingen. Die Elastizität der Flügel ist gerade aus diesem Grunde eine
                              									notwendige Vorbedingung für den Segel- oder Pendelflug. Während für die Bewegungsweise der Säugetiere
                              									nach den ausgezeichneten Untersuchungen Weber's das
                              
                              									gewöhnliche Pendel mit festem Stütz- oder Aufhängungspunkte – denn beide Formen
                              									kommen vor – typisch ist, kommen also bei dem Flug der Vögel die Pendelgesetze nur
                              									durch die Vermittelung der Form und Elastizität der Flügel und des den festen
                              									Aufhängungspunkt ersetzenden Luftwiderstandes zur Geltung. Die Natur ist demnach
                              									auch, indem sie das Flugproblem verwirklicht, ihrem alten Gesetze, dem Gesetze von
                              									der Erhaltung der Kraft, unverbrüchlich treu geblieben; sie ruft durch die anmutig
                              									schönen auf- und niederschwebenden Bewegungen der Vögel ebenso unwillkürlich wie
                              									durch den ewig gleichen Kreislauf der Gestirne in dem sinnigen und denkenden
                              									Menschen die Erinnerung an die gehaltvollen Worte unseres Schiller wach:
                           
                              „Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr
                              
                           
                              Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere –
                              
                           
                              Die entgötterte Natur.“
                              
                           
                        
                           II. Leonardo da Vinci und Karl Buttenstedt.
                           Wie aus den Ausführungen im ersten Abschnitt ersichtlich ist, ist das wesentlichste
                              									Moment, durch das der natürliche und demgemäss auch der künstliche Flug bedingt
                              									wird, die Elastizität der Flugorgane (Flügel und Schwanz), da durch diese
                              									Eigenschaft ein selbstthätiges Einstellen der einzelnen Schwungfedern in schiefe
                              									Ebenen und damit ein Fortschieben des Flugkörpers von einer Luftschicht auf die
                              									andere nach den Gesetzen der schiefen Ebene, des Kräfteparallelogramms und des
                              									Pendels erfolgt. Das grosse Verdienst, dies mit vollem Bewusstsein erkannt zu
                              									haben, gebührt zwei zeitlich weit auseinanderstehenden Flugtechnikern, nämlich dem
                              									Universalgenie der italienischen Renaissance, Leonardo da
                                 										Vinci, und dem rührigen modernen Aviatiker Karl
                                 										Buttenstedt, der, was Schärfe der Beobachtung anbetrifft, seinem berühmten
                              									Vorgänger nicht nachsteht.
                           Die Skizzen, welche diese beiden Flugtechniker zur Erklärung des Fluges der Vögel auf
                              									Grund ihrer Beobachtungen entworfen haben, gleichen sich in den Hauptpunkten,
                              									obwohl, wie ich sicher weiss, Buttenstedt von den
                              									Arbeiten Leonardo's bisher keine Kenntnis gehabt hat
                              									und erst von mir auf dieselben aufmerksam gemacht worden ist. Die Schreibweise Leonardo's unterscheidet sich vorteilhaft dadurch von
                              									derjenigen Buttenstedt's, dass Leonardo als vollkommen durchgebildeter und erfahrener Ingenieur in
                              
                              									knapper und technisch klarer und verständlicher Sprache das Flugproblem sozusagen
                              									spielend löst, während Buttenstedt, der als Laie mit
                              									den Hauptsätzen der Mechanik nur wenig vertraut ist, sich für die Darstellung der
                              
                              									von ihm gefundenen Ergebnisse, die, wie gesagt, mit denjenigen Leonardo's zusammenfallen, wohl eine eigene, für den
                              									Ingenieur schwer verständliche Sprache gebildet hat.
                           Nach Erläuterung der Gesetze des Gleichgewichts an der schiefen Ebene und der unter
                              									schiefem. Winkel an demselben Punkte angreifenden Kräfte u.s.w., weist Leonardo gleich an erster Stelle beim Uebergang auf den
                              									Flug der Vögel darauf hin, dass die Federn mit der Entfernung von ihrem
                              									Anheftungspunkte immer biegsamer oder elastischer werden. Die Spitzen der
                              									Schwungfedern liegen daher stets höher als die Anheftungspunkte, bezw. die
                              									Flügelknochen stehen beim Niederschlagen des Flügels niedriger als jeder andere Teil
                              									desselben, während umgekehrt beim Aufschlagen des Flügels die Knochen höher als die
                              									übrigen Flügelteile stehen. Die Bewegung erfolgt also immer in der Richtung des
                              									schwersten Teiles, der gleichsam der Wegweiser der Bewegung ist.
                           Im Anschluss an die Frage, in welchem Teile unterhalb der Breitseite des Vogels der
                              									Flügel auf die Luft stärker als in irgend einem Längsteile drückt, wird bemerkt,
                              									dass bei jedem unbiegsamen (starren) Körper verschiedener Dicke und Gewicht an allen
                              									Unterstützungspunkten, welche vom Schwerpunkt gleichweit entfernt sind, sich gleiche
                              									Gewichte ergeben, wenn der Schwerpunkt in dem Körpermittelpunkt liegt; dass jedoch
                              									bei einem biegsamen Körper verschiedener Dicke und Gewichts, selbst wenn der
                              									Schwerpunkt und Körpermittelpunkt zusammenfallen, dies nicht der Fall ist, da der
                              									Stützpunkt, welcher in der Nähe des Schwerpunktes oder eine Strecke davon entfernt
                              									liegt, nicht mehr mit Gewicht belastet ist, als derjenige, welcher über den
                              
                              									leichtesten Teilen sich befindet. Der in einem Flugapparat stehende Mensch muss
                              									oberhalb des Gürtels frei beweglich bleiben, damit er, gleich wie er es in einer
                              									Gondel thut, sich ins Gleichgewicht bringen kann, bezw. damit sein Schwerpunkt und
                              									derjenige des Apparates sich ausbalanzieren oder ändern lassen kann, je nachdem es
                              									entsprechend der Aenderung des Widerstandszentrums erforderlich wird.
                           Wenn ein Vogel mit einer Kraft 4 in der Richtung seiner geöffneten Flügel sinkt und
                              									der ihn unten mit einer Kraft 2 treffende Wind ihn in wagerechter Richtung
                              									fortzuschieben sucht, so wird die Fallbahn des Vogels durch die Mittellinie bezw.
                              									Diagonale oder Resultante zwischen der geraden Windrichtung und der geneigten
                              									Flugbahn des Vogels erfolgen (Fig. 7). Sei die
                              									Flugbahn eines solchen Vogels die Linie adc und die
                              									Windrichtung ba, so kann der Vogel, wenn er mit einer
                              									Kraft 4 (ad) sinkt und der Wind ba eine Kraft 2 besitzt, weder mit dem Winde nach f, noch durch seine geneigte Flugbahn nach d
                              									gelangen, sondern muss durch die Diagonale oder Resultante ae fallen, wie man auch thatsächlich beobachten kann. Wenn ein solches
                              									Sinken des Vogels mit einer Kraft 4 erfolgt und der treibende Wind eine Kraft 8 hat,
                              									so stellt die Diagonale in nebenstehender Fig. 8 die
                              									thatsächliche Flugbahn dar. Ich bemerke, dass in beiden Fällen die Diagonale nach
                              									dem Parallelogramm der Kräfte gezeichnet ist, und somit Leonardo da Vinci dies Gesetz bereits wohl bekannt gewesen ist. Wenn der
                              									Vogel mit den Flügeln schlagendrechts oder links ablenken will, so wird er mit
                              									dem Flügel auf der Seite, nach welcher er abbiegen will, tiefer schlagen; der Vogel
                              									wird infolgedessen die Bewegung durch den Gierschlag, bezw. Einziehen oder Verkürzen
                              									des am stärksten bewegten Flügels abdrehen.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 316, S. 48
                              Fig. 7.
                              
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 316, S. 48
                              Fig. 8.
                              
                           Wenn der Vogel durch das Schlagen seiner Flügel auffliegen will, so hebt er die
                              									Schultern und schlägt die Flügelspitzen nach innen zusammen, so dass er die Luft,
                              									welche sich zwischen die Flügelspitzen und die Brust des Vogels lagert, verdichtet
                              									und sich durch deren Gegenspannung in die Höhe hebt. Der Weih und die übrigen Vögel,
                              									welche wenig mit den Flügeln schlagen, pflegen den Wind zu suchen und, wenn der Wind
                              									in der Höhe herrscht, in grosser Höhe zu schweben, und, wenn er niedrig weht, auch
                              									niedrig zu fliegen. Wenn kein Wind weht, so schlägt der Weih im Fluge mehrmals mit
                              									den Flügeln, so dass er sich in die Höhe hebt und Fallkraftspannung oder besser
                              									Gefälle gewinnt, durch dessen Aufwendung er eine weite Strecke ohne Flügelschlag
                              									zurückzulegen vermag; wenn er wieder gesunken oder abgefallen ist, führt er dasselbe
                              									Manöver von neuem aus und so weiter in steter Aufeinanderfolge. Dies Sinken ohne
                              									Flügelschlag dient ihm als Mittel, sich in der Luft nach der Anstrengung des
                              									obengenannten Flügelschlages auszuruhen. Alle Vögel, welche durch Rütteln fliegen,
                              
                              									steigen durch Schlagen ihrer Flügel und ruhen sich, wenn sie sinken, aus, da sie bei
                              									ihrem Niederschweben nicht mit den Flügeln schlagen.
                           Der absteigende Zweig der Flugbahn der Vögel erfolgt, wenn er gegen den Wind
                              									gerichtet ist, unter dem Winde, während der aufsteigende Zweig der Flugbahn über dem
                              									Winde ausgeführt wird.. Fliegt der Vogel dagegen mit dem Winde, so erfolgt der
                              									absteigende Zweig der Flugbahn über dem Winde, der aufsteigende dagegen unter dem
                              									Winde, was jedoch von vielen Seiten bestritten wird.
                           Wenn der Vogel gegen den Wind ansteigend fliegt, dann steigt er viel höher, als er es
                              									durch seine natürliche lebendige Kraft (Spannungsenergie) thun würde, da er sich die
                              									Wirkung des Windes unter Beihilfe seines Schwanzes zu nutze macht. Wenn er dagegen
                              									auf den höchsten Punkt des aufsteigenden Zweiges der Flugbahn gelangt ist, so wird
                              									seine lebendige Kraft aufgezehrt sein, so dass allein die Windwirkung übrig bleibt,
                              									welche, da der Wind gegen die Brust drückt, den Vogel abtreiben würde, sofern dieser
                              
                              									nicht durch Einziehen des rechten oder linken Flügels zur Rechten oder Linken im
                              									Halbkreise absinken würde.
                           Die vorstehenden Ausführungen, welche Leonardo durch die
                              									beigegebenen Skizzen fliegender Vögel treffend verdeutlicht hat, enthalten das
                              									Beste, was je zur Erklärung des Fluges der Vögel geschrieben ist. Dieselben Skizzen,
                              									wenn auch in besserer Ausführung, da die Anschütz'schen
                              
                              									Momentphotographien benutzt werden konnten, und dieselben Erklärungen, wenn auch mit
                              									etwas anderen und ausführlicheren Worten, findet man in dem höchst interessanten
                              									Buch Bas Flugprinzip von Karl
                                 										Buttenstedt. Mit Erlaubnis des Verfassers habe ich die hier in Betracht
                              									kommenden Buttenstedt'schen Skizzen denjenigen Leonardo's gegenübergestellt (vgl. Figurentafeln S. 49
                              									u. 50), da so die Uebereinstimmung der Ergebnisse der beiden Flugtechniker am
                              									deutlichsten erkannt werden kann. Näher auf die Buttenstedt'sche Arbeit hier einzugehen, verbietet der verfügbare
                           
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 316, S. 49
                              Skizzen fliegender Vögel nach Leonardo da Vinci.Skizzen fliegender Vögel
                                 										nach Karl Buttenstedt.
                              
                           
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 316, S. 50
                              Skizzen fliegender Vögel nach Karl Buttenstedt.
                              
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 316, S. 50
                              Skizzen fliegender Vögel nach Leonardo da Vinci.
                              
                           
                           Raum; ich lasse daher nur die von Buttenstedt aufgefundenen Schlussergebnisse aus seinem Buche auf S. 160
                              									bis 169 folgen, so weit dieselben hier in Trage kommen.
                           „Infolge meiner Beobachtungen, kleinen Nachforschungen und Versuche spreche ich
                              									folgende Behauptungen aus:
                           Die bisher unangefochtene Hypothese, dass die Flügelschläge (als der Keil Borelli's, die Flügelschläge Durckheim's, Marey's in senkrechter, oder Pettigrew's in schräger Richtung) die Hauptimpulse des
                              									Vogelfluges seien, ist hinfällig, sondern die eigentliche Flugkraft ist bereits ohne
                              									Flügelschlag vorhanden, und die Flügelschläge erhöhen nur die vorhandene
                              									Flugkraft.
                           Die Flügelschläge wirken nur auf die Fortbewegung, nicht auf den Hub der Längsachse
                              									des Vogels. Wenn auch der Vogelleib durch den Flügelschlag thatsächlich vertikal,
                              									bei horizontaler Lage, gehoben wird, so sinkt er doch bei Ausholung zum zweiten
                              									Flügelschlage wieder um die Höhe des vorigen Schlaghubes.
                           Der Wechsel der Luftsäule unter regungslosen Flugflächen (bei Leonardo das Gleiten in schiefer Ebene) ist ein grösseres Fallhemmnis als
                              									Flügelarbeit ohne den Wechsel der Luftsäule.
                           Die Spannkraft der Flügel ist gleich der Schwerkraft des Vogels. Ein Teil dieser
                              									Spannkraft in der Flügelspitze hat eine horizontale Spannungsenergie. Diese entsteht
                              										nur durch die schräge Fläche jener
                              									Schwungfederfahnen.
                           Die Segelkraft der schrägen Fläche überträgt sich genau in Horizontalspannkraft und
                              									hat beim schwebenden Vogel den Grössenwert des horizontalen Luftdrucks gegen den
                              									Querschnitt des Vogelleibes, so dass ein bewegliches Gleichgewicht, ein
                              									Kräfteausgleich, zwischen dem horizontalen Druck der Spannkraft und dem durch die
                              									erzeugte Schwebebewegung hervorgerufenen Gegendruck der Luft hergestellt ist.
                           Um die Reihenfolge der thätigen Kräfte anzuführen, sei bemerkt:
                           Die Stammkraft all dieser Flugkräfte ist die Muskelkraft. Lässt sich der Vogel mit
                              									ausgebreiteten Flügeln in die Luft fallen, so entsteht durch passive Muskelkraft die
                              									auf den Flügeln ruhende Schwerkraft. Durch die fallende Schwere wird unter den
                              									Flugflächen der Vertikalluftdruck erzeugt. Dieser Luftdruck hat die elastische
                              									Spannkraft der Flugflächen zur Folge. Unter den Schwungfedern erzeugt dieser
                              									Luftdruck aber schräge, also Segelflächen (lavierende Segelflächen). Diese
                              									Segelfläche übt auf den Federschaft eine horizontale Druckkraft aus. Dieser Druck
                              									hat die horizontale Spannung des Federschaftes zurFolge, und diese Spannung
                              									zieht den Vogelleib horizontal an sich heran.
                           Wenn daher die Vertikalspannkraft das direkte Kind des Vertikalluftdrucks ist, so ist
                              									die Horizontalspannkraft erst das Kindeskind desselben; die Schöpferin Natur musste
                              									zwischen Vertikalluftdruck und Horizontalspannkraft erst ein verbindendes
                              									Zwischenglied, die schräge Fläche, schaffen, um die
                              									Beziehung der Horizontalspannkraft zur Vertikaldruckkraft zu erzielen.
                           Jeder Vogel hat ohne Flügelbewegung von dem Augenblicke an eine Flugkraft, wo die
                              									Körperlast des Vogels die Flügelflächen in elastische Spannungen versetzt hat; in
                              									dieser Spannkraft ist bereits die Segelkraft der schrägen Fläche mit einbegriffen.
                              									Der Flügelschlag verstärkt die schon in Wirksamkeit befindliche Flugkraft und ist es
                              									hierbei ganz gleichgültig, ob der Flügelschlag senkrecht zur horizontalen Längsachse
                              									oder schräg zu derselben geführt wird.
                           Schweben ist die in selbstthätige, ununterbrochene Flugbewegung übergehende
                              									Entspannung der elastischen Horizontalenergie in den Flugflächen des Vogels, deren Spannkraft durch die beim Sinken in Wirksamkeit
                                 
                                 										tretende Schwerkraft des Vogelgewichts erzeugt und unterhalten wird. Die
                                 										Schwerkraft wird gezwungen, in schräg abwärts gerichtete Gleitbewegung sich
                                 										umzusetzen.
                           Die Schwerkraftspannung im Verein mit der Flugthätigkeit der Schwanzfläche sind beide
                              
                              									allein schon im stande, Vögel nicht nur in gleicher Höhe schwebend zu erhalten,
                              									sondern auch zu bedeutenden Höhen zu erheben.
                           Die ausgebreitete Schwanzfläche schwebender Vögel dient in erster Linie der
                              									Fortbewegung, in zweiter Linie der Steuerung des Vogels.
                           Alle Flügel- und Schwanzfedern schwebender Vögel, welche den Schaft mehr nach dem
                              									Kopfende des Vogels in ihren Fahnen zu sitzen haben, dienen der Fortbewegung des
                              									Vogels. Die Fortbewegung des Vogels entspringt in den Flügelspitzen und überträgt
                              									sich durch die Flugflächen auf den Körper.
                           Das Wesen des Vogelfluges wird kurz dadurch gekennzeichnet, dass es hier heisst: Hub durch Flug, dass Hub nur durch Fortbewegung (bei
                              									den grösseren Vögeln) geschieht, denn alle Schwebevögel steigen nur durch diagonales
                              									Aufwärtsschieben ihrer Längsachse, nicht durch senkrechte Hebung senkrecht
                              
                              									gerichteter Längsachse.“
                           Sachlich habe ich den vorstehenden Erläuterungen und Ansichten Leonardo's und Buttenstedt's nichts mehr hinzuzufügen und verweise zum besseren Verständnis
                              									auf die im ersten Abschnitt dargelegten theoretischen Erklärungen.