| Titel: | Das Pictet'sche Gastrennungsverfahren. | 
| Autor: | Rudolf Mewes | 
| Fundstelle: | Band 316, Jahrgang 1901, S. 639 | 
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                        Das Pictet'sche
                           								Gastrennungsverfahren.
                        Von Rudolf Mewes, Ingenieur und
                           								Physiker.
                        Das Pictet'sche Gastrennungsverfahren.
                        
                     
                        
                           Zwei Dinge sind's, welche das All bilden und beherrschen in ewig wechselnden
                              									Formen und Gestaltungen, „Kraft und Stoff“, wie Büchner sagte, oder „Kraft und Masse“, wie wir neuerdings sagen.
                              									Mit der Begründung und Beherrschung der „Kraft“ haben es vorwiegend Physik
                              
                              									und Maschinentechnik, die wichtigsten Hebel der Grossindustrie, zu thun, während die
                              									Wandlung des Stoffes bezw. der Masse in die dem Grossgewerbe oder Grossbetriebe
                              									erwünschten Gestaltungen durch Chemie und Technologie erfolgt. Beide grossen Gebiete
                              									des technischen Fortschritts, obwohl eng miteinander verwachsen und aufeinander
                              									angewiesen – denn ohne Kraft kein Stoff und ohne Stoff keine Kraft –, haben doch
                              									ihre eigenen Bahnen eingeschlagen und zwei gewaltige, aber voneinander fast ganz
                              									getrennte Industriezweige, die Maschinentechnik und die Technologie geschaffen,
                              
                              									deren erstere die Naturkräfte in den Dienst des Menschen zwingt, deren zweite die
                              									Massen des Alls beherrscht und die Elemente oder Stoffe durch Trennung und Vereinen
                              									nach Wunsch in andere Formen und Körper wesentlich verschiedener Art überführt.
                           Doch die gähnende Kluft zwischen beiden Gebieten wurde überbrückt, als es zum
                              									erstenmal gelang, durch Aufwendung mechanischer Arbeit mit Hilfe des elektrischen
                              
                              
                              									Stromes chemische Verbindungen in ihre Bestandteile zu zerlegen und so durch
                              									Kraftverbrauch eine Stoffverwandlung zu bewirken. In diesem Versuch lag der Keim zu
                              									einem hochwichtigen Zweige der chemischen Forschung, der Elektrochemie, und der
                              									darauf sich gründenden elektrochemischen Industrie, wie Elektrometallurgie,
                              									Galvanoplastik u.s.w.
                           Das Feldgeschrei lautet nicht mehr, wie seit der ersten Arbeit Robert Mayer's, Kraftbeherrschung durch Stoffumwandlung
                              									oder, wie Mayer selbst sagt, Krafterzeugung durch
                              									Aufopferung der chemischen Differenz von C und O, sondern Stoffbeherrschung durch
                              									Kraftverbrauch, d.h. Ueberführung des Stoffes aus einem gegebenen Zustande in einen
                              									anderen, so dass der umgewandelte Stoff, sei es eine entstandene Verbindung oder
                              
                              									seien es die Bestandteile einer solchen, in den Dienst der Industrie und der
                              									Lebensbedürfnisse gestellt werden kann. Hierdurch sind wichtige Industriezweige,
                              									ihrem innersten Wesen nach elektrochemischer Art, entstanden, nämlich ausser den
                              									bereits oben genannten die Karbidindustrie und die dadurch ermöglichte
                              									Acetylenbeleuchtung, Industrien, welche an Tragweite den rein chemischen Industrien
                              									kaum nachstehen.
                           Im letzten Jahrzehnt hat sich jedoch eine physikalische Stofftrennungs- und
                              									Stoffverwandlungsmethode, bei welcher ebenfalls mechanische Arbeit verbraucht wird,
                              									mehr und mehr eingebürgert und in ihren ersten Entwickelungsstadien die Ueberführung
                              									selbst der permanenten Gase in den flüssigen bezw. festen Aggregatzustand
                              									ermöglicht, wir meinen das Linde'sche Luft- und
                              									Gasverflüssigungsverfahren bezw. das mit geringeren Spannungen arbeitende Kühl- und
                              									Verflüssigungsverfahren von Mix.
                           Beide Verflüssigungsverfahren würden jedoch für den Grossbetrieb, insbesondere aber
                              									für das chemische Grossgewerbe, nicht von Bedeutung geworden sein, wenn nicht
                              									neuerdings von Prof. Raoul Pictet, der bekanntlich vor
                              									mehr denn 20 Jahren zugleich mit Cailletet durch
                              									Kompression und starke Temperaturerniedrigung zuerst Sauerstoff und Wasserstoff in
                              									den flüssigen Aggregatzustand übergeführt hat, die zuletzt genannte Methode zu einem
                              									Abscheidungsverfahren des Sauerstoffes aus atmosphärischer Luft in höchst einfacher
                              									und für den Grossbetrieb geeigneter Weise verwertet bezw. umgearbeitet hätte.
                              									Hierdurch wurde die von der chemischen Industrie längst vergeblich angestrebte
                              									Lösung der fabrikmässigen Gewinnung reinen Sauerstoffs aus der atmosphärischen Luft
                              									zu einem sehr billigen Preise mit einem Schlage in einem früher nicht für möglich
                              									gehaltenen Umfange gelöst.
                           Allerdings haben sowohl Linde als auch Mix schon vor Pictet die
                              									von ihnen erfundenen Verflüssigungsverfahren zur Gastrennung zu benutzen versucht;
                              									allein diese Verfahrenkonnten keine höhere Bedeutung für die Grossindustrie
                              									erlangen, weil infolge der unrationellen Leitung des ganzen Gastrennungsverfahrens
                              									der Erzeugungspreis des Sauerstoffes ein viel zu hoher wurde. Das erste technisch
                              									und industriell wichtige Ergebnis der genannten Verflüssigungsverfahren, eine
                              									Stofftrennung und zwar einer solchen physikalischer Art, war somit wohl als möglich
                              									nachgewiesen und auch in kleinem Massstabe durchgeführt worden, indem der Sauerstoff
                              									und der Stickstoff der atmosphärischen Luft voneinander getrennt und gesondert für
                              									gewerbliche Zwecke verwertet werden konnten. Doch dieses prinzipiell hochwichtige
                              									Ergebnis der Stoffumgestaltung durch unmittelbaren Kraftaufwand hat noch eine
                              									verwundbare Stelle, an der die darauf sich aufbauende Industrie bisher krankte und
                              									verbluten würde: die Kosten des Vorganges sind zu hoch, als dass die gebildeten
                              									flüssigen, voneinander getrennten Gase, Sauerstoff und Stickstoff, dieselben tragen
                              									und so den Keim für eine entwickelungsfähige Grossindustrie abgeben könnten.
                           Diesem schwerwiegenden Mangel hat, wie schon oben bemerkt wurde, Prof. Pictet in der denkbar einfachsten Weise unter
                              									Beibehaltung des bekannten Linde'schen oder richtiger
                              									des ähnlichen, nur mit niedrigeren Spannungen arbeitenden Mix'schen Verflüssigungsverfahrens dadurch abgeholfen, dass er den
                              									Arbeitsgang so leitet, dass er die erhaltenen flüssigen Bestandteile der Luft zwecks
                              									Trennung der Bestandteile in Gasform in Verdampfern verdampfen lässt und
                              									gleichzeitig die dadurch gebundene Wärme wieder zum Verflüssigen neuer, unter
                              									gewissem Druck gehaltener Pressluft benutzt. Pictet
                              									führt mit einem Wort einen vollständigen Kreisprozess durch, bei welchem, rein
                              									theoretisch genommen, Arbeit weder verbraucht noch gewonnen wird, sondern nur die
                              									unvermeidlichen Strahlungsverluste u.s.w., sowie die Arbeit, welche zum mechanischen
                              									Trennen der ausserordentlich schwach miteinander in Mischung gehaltenen Moleküle des
                              									Sauerstoffes und Stickstoffes der Luft erforderlich ist, geleistet werden
                              									müssen.
                           Die Möglichkeit des Gastrennungsverfahrens beruht darauf, dass der Stickstoff
                              									merklich flüchtiger als der Sauerstoff ist; denn der Sauerstoff wird bereits bei
                              									einer Temperatur von ungefähr –183° flüssig, während dies bei Stickstoff unter
                              									gleichem Druck erst bei –195° stattfindet. Nun lehrt die mechanische Wärmetheorie,
                              									dass bei diesen niedrigen Temperaturen ein Temperaturunterschied des Siedepunktes
                              									von 12° einem Unterschied von 40° bei den Temperaturen von 60 bis 100° gleichwertig
                              									ist. Hierauf begründet Pictet nach seinem in der Société des Ingenieurs Civils de France in Paris
                              									gehaltenen Vortrage das von ihm ersonnene Gastrennungsverfahren etwa
                              									folgendermassen: Zur Einleitung des Verfahrens dient eine gewisse, auf irgend welche
                              									Weise erhaltene Menge flüssiger Luft. Die von Beimengungen, wie Wasserdampf und
                              
                              									Kohlensäure, vollständig befreite atmosphärische Luft – diese Annahme wird nur
                              									gemacht, um den Vorgang in einfachster Form erklären zu können – wird in einem
                              									langen Schlangenrohr isothermisch komprimiert, welches das die flüssige Luft
                              									enthaltende Reservoir von allen Seiten umgibt. Von diesem Vorkühler strömt die
                              
                              
                              									komprimierte Luft in ein zweites Kühlrohr, den Verflüssiger, der vollständig in die
                              									im Gefässe enthaltene Menge flüssiger Luft eintaucht und an seinem unteren Ende als
                              									Knierohr umgebogen ist, so dass sein Inhalt in das Gefäss mit flüssiger Luft
                              									ausfliessen kann.
                           Bei einem theoretisch vollkommenen Prozesse gestaltet sich der Arbeitsvorgang
                              									folgendermassen: „Die atmosphärische Luft tritt mit gewöhnlicher Temperatur ein,
                                 										kühlt sich, allmählich bis zur Temperatur –194,5° ab – der Siedetemperatur der
                                 										flüssigen Luft – und dringt mit dieser Temperatur in das Innere des in den
                                 										flüssigen Luftvorrat gesenkten Kühlrohres. Dann wird ein nur wenig stärkerer
                                 										Druck als der der atmosphärischen Luft genügen, um die Verflüssigung dieser Luft
                                 										im Inneren des Kühlrohres zu bewirken. Die latente Verflüssigungswärme der Luft, welche
                                 										etwa 82 Wärmeeinheiten beträgt, wird durch die Wände des Verflüssigers hindurch
                                 										an die flüssige Luft in dem Verflüssiger abgegeben und verdampft eine gleiche
                                 										Menge der letzteren. Die erzeugten Dämpfe strömen durch den Vorkühler und kühlen
                                 										die frisch zuströmende Luft vor, während die im Verflüssiger erhaltene flüssige
                                 										Luft von selbst in den Flüssigkeitsbehälter fliesst. Da demnach in jedem
                                 
                                 										Augenblick die verdampfte flüssige Luft durch eine gleiche neu erzeugte Menge
                                 										flüssiger Luft ersetzt wird, so kann man theoretisch die ganze atmosphärische
                                 										Luft im wechselseitigen Austausch verflüssigen und stetig wieder verdampfen,
                                 										ohne viel äussere Arbeit aufwenden zu müssen.
                           Bei der technischen Ausführung dieses Verfahrens treten jedoch, wie
                              									selbstverständlich ist, Verluste ein, welche den Wirkungsgrad verkleinern. Diese
                              									Verluste rühren hauptsächlich von dem in der Luft enthaltenen Wasserdampf und von
                              									einem geringen Gehalt an Kohlensäure her, da diese Bestandteile vor der Durchführung
                              									des Verfahrens (durch Absorptions- bezw. Filtriermittel) entfernt werden müssen.
                              									Hierdurch wird natürlich ein der Verflüssigungswärme beider entsprechender Verlust
                              									bedingt. Ferner wird ein Verlust durch Wärmeaufnahme von aussen veranlasst, da die
                              									Wärmeeinstrahlung bei so niedrigen Temperaturen wie hier nicht ganz vermieden werden
                              									kann. Die ausgeführten Versuche haben ergeben, dass die zu verflüssigende Luft nur
                              									mit einem Druck von 2 bis 3 at in den Vorkühler gedrückt zu werden braucht.
                           Nach Pictet's Angabe erhält man durch Aufwendung von 650
                              									PS täglich 175000 cbm Stickstoff von 95 % Reinheit und 87000 cbm Sauerstoff von 50 %
                              									Reinheit bezw. 17000 cbm industriellen Sauerstoff zu 50 % und 35000 cbm Sauerstoff
                              									zu 90 %, wozu noch 280 kg Kohlensäure kommen.
                           Eine grosse Anlage wird jetzt in der Fabrik Galloway's
                              									in Manchester gebaut, um das Verfahren praktisch in grossem Massstabe zu erproben.
                              									Dort sollen täglich35000 kg atmosphärische Luft verflüssigt und destilliert
                              									werden, wodurch 5000 cbm Sauerstoff erhalten werden können. Dass die
                              									Verwendungsfähigkeit des reinen Sauerstoffes in der Technik und Industrie, sowie in
                              									sanitärer Hinsicht eine ausserordentlich vielseitige und mannigfaltige ist, braucht
                              									wohl nicht noch besonders betont zu werden.
                           Zum Schlusse sei nur noch eine kurze allgemeine Bemerkung gestattet. In Industrie und
                              									Wissenschaft zeigt sich allüberall Kraftbeherrschung durch Stoffumwandlung bezw.
                              									Stoffumwandlung durch Kraftverbrauch in stetem Wechselspiel. In allen den in Frage
                              									kommenden Gebieten haben wir es mit Kraft- und Stoffvorgängen, d.h. mit den
                              									Erscheinungen der Materie zu thun; der Gegenstand dieser Zweige menschlichen Wissens
                              									und Könnens ist also der Inbegriff aller wirkenden Materie oder, wie man treffend im
                              									Deutschen sagt, die Wirklichkeit. Die für die vorliegenden Vorgänge massgebenden
                              									Grundgesetze müssen daher auf jeden Fall mit dem Wesen der Materie im Einklänge
                              									stehen, d.h. sie müssen entsprechend dem kausalen, raumzeitlichen Charakter der
                              									Materie nicht nur die Unzerstörbarkeit der wirksamen Kräfte aussprechen, sondern als
                              									Bewegungsgesetze der Materie auch raumzeitlicher Natur sein und ferner die
                              									Unzerstörbarkeit der materiellen Träger, der Stoffteilchen, rücksichtlich des
                              									Gewichts und der Gestalt zur Voraussetzung haben. Dass diese beiden wichtigsten
                              									Grundgesetze alles Naturgeschehens, Unzerstörbarkeit der Kraft und Unzerstörbarkeit
                              									des Stoffes, von dem Pictet'schen Gastrennungsverfahren
                              									nicht verletzt werden, wie in missverstandener Weise behauptet wurde, sondern gerade
                              									auf diesen Säulen einer wahren und gediegenen Naturwissenschaft sich stützen,
                              									verdient besonders hervorgehoben zu werden und sichert dem Verfahren, zumal die
                              									Stoffe in einem für die chemische Grossindustrie geeigneten Zustande erhalten
                              									werden, die Bedeutung als Ausgangspunkt einer zukunftsreichen industriellen
                              									Entwickelung.