| Titel: | Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der Gegenwart. | 
| Autor: | M. Richter | 
| Fundstelle: | Band 317, Jahrgang 1902, S. 79 | 
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                        Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der Gegenwart.
                        Von Ingenieur M. Richter, Bingen.
                        (Fortsetzung von S. 59 d. Bd.)
                        Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der Gegenwart.
                        
                     
                        
                           Wenn es sich heute darum handelt, aus der Mengeneinheit des Brennstoffs auf der
                              									Einheit der Heizfläche in der Zeiteinheit möglichst Wärmeeinheiten zu erzeugen und
                              									von diesen möglichst viele praktisch auszunutzen, d.h. aus einer kleinen Anlage eine
                              									grosse Nutzleistung zu erhalten, so ist eine Reihe von Widersprüchen zu beseitigen
                              									oder durch Kompromisse zu versöhnen, wie sich das im vorliegenden Thema häufig
                              									gezeigt hat; die Dampflokomotive besteht nicht ohne diese Widersprüche.
                           Wenn durch die Schilderung derselben und ihre eingehendere Untersuchung öfters eine
                              									Abschweifung vom Thema „Schnellbetrieb“ eingetreten ist, so war diese doch
                              									nur eine scheinbare. Die behandelten Beziehungen stehen in engstem Zusammenhang mit
                              									dem Schnellbetrieb, der etwa mit der Dampflokomotive einzuführen wäre; sie
                              									sprechen mit Gesetzen und Zahlen die Fähigkeiten der letzteren aus ebenso wie
                              									ihre Schwächen; sie zeigen die Aussicht, welche der Dampflokomotive in das Feld des
                              									Schnellbetriebs geöffnet ist, und durch welche wahren
                              									Wolken diese Aussicht verdunkelt ist. Ganz besonderer Wert wurde daher bei der
                              									Beleuchtung dieser Umstände auf die Untersuchung der Grössen gelegt, welche im Bau
                              									der heutigen Schnellzuglokomotive mitzureden pflegen
                              									und für die Brauchbarkeit derselben Ausschlag geben können.
                           Es darf nicht vergessen werden, zwei Aussichten zu erwähnen, welche sich der
                              									Dampflokomotive in ein neues Stadium der hohen Entwickelung geöffnet haben, nämlich:
                              									die Anwendung flüssiger Brennstoffe und die Dampfüberhitzung. Diese beiden
                              									Verfeinerungen, deren die Dampflokomotive ohne weiteres fähig ist, sind
                              									unzweifelhaft im 
                              									stande, sie auf eine bisher ungeahnte Stufe der Entwickelung und
                              									Leistungsfähigkeit zu heben, wo sie (bei nicht verdoppelter Heizmannschaft) mit
                              									Ausdauer und Leichtigkeit gegen 2500 PSi abgeben
                              									wird, um Züge mit der anderthalbfachen Geschwindigkeit von heute bei nur massig
                              									verkleinerter Zuglast zu befördern.
                           Zunächst die „Oelfeuerung“. Neu ist dieselbe nicht; seit längerer Zeit ist sie
                              									in Südrussland, auf der Arlbergbahn, in England (Ostbahn) und stellenweise in den
                              									Vereinigten Staaten (Pennsylvaniabahn besonders) eingebürgert. Verwendet werden die
                              									Rückstände der Petroleumraffinerie (Masut, Naphtha), welche in dünnflüssigem Zustand
                              									in die Feuerbüchse über eine stets vorhandene niedere Kohlenschicht auf Schlacken
                              									geblasen werden. Dazu dienen zwei Dampfejektoren (Bauart Holden ist gewöhnlich), welche auf einer Höhe rechts und links vom
                              									Feuerloch gesetzt sind; eine Dampfschlange besorgt das Verflüssigen des Stoffes vor
                              									dem Eintritt in den Zerstäuber.
                           Diese Art der Feuerung hat einen Nachteil: die hohen Kosten der Gewichtseinheit
                              									dieses Brennstoffs gegenüber anderen, welcher aber gegen die vielen unbestrittenen
                              									Vorteile verschwindet.
                           Der absolute Heizeffekt \frakfamily{w} des Petroleums beträgt
                              									gegen 11300 Kal./kg (gegenüber 8100 der Steinkohle höchstens).
                           Der Wirkungsgrad ηf der
                              									Feuerung ist sehr hoch, so gut wie 1, da die Rauchverbrennung fast vollständig
                              									ist.
                           Der Wirkungsgrad der Heizfläche ηh ist ebenfalls höher als sonst, da die Rohre durch keinen
                              									Russansatz in der Wärmeaufnahme beeinträchtigt werden.
                           Im Zusammenhang damit ist die Verdampfungsziffer \frac{\frakfamily{D}}{\frakfamily{B}}=\frac{\eta_k\,\frakfamily{w}}{\lambda_0} eine ganz erstaunliche,
                              									sie beträgt theoretisch \frac{11300\,\cdot\,1\,\cdot\,0,8}{680}=13 im Mittel (gegen höchstens 9 bei Steinkohle).
                           Der Heizer hat nur noch Armatur zu bedienen, von körperlicher Anstrengung ist gar
                              									keine Rede mehr, was besonders auf Gebirgsstrecken nicht hoch genug zu schätzen ist.
                              									Es wird nicht nur die Mannschaft viel langsamer ermüden und länger und besser ihren
                              									Dienst versehen können, sondern es sind auch höhere Werte von \frac{\frakfamily{B}}{R} erreichbar,
                              
                              									soweit das Blasrohr die erforderliche Luftmenge herzuschaffen im stände ist. Die
                              									Regulierung von \frac{\frakfamily{B}}{R}, d.h. des Oelzutritts, wird sich nur noch nach der
                              									Beobachtung richten, ob Rauch das Kamin verlässt oder nicht, und bis zum Auftreten
                              									von Rauch kann \frac{\frakfamily{B}}{R} unter allen Umständen gesteigert werden.
                           Es ist auf diese Art möglich, gewaltige Mengen von Kalorien zu erzeugen und
                              									nutzbringend auf die Schienen zu übertragen; an Beweisen fehlt es nicht: In England
                              									ist die Pünktlichkeit der ölverfeuernden Ostbahn geradezu sprichwörtlich. Die
                              									Lokomotiven derselben halten Dampf, möge es gehen wie es wolle, ob nun schlechtes
                              									Wetter, Mehrbelastung oder Verspätung störend in die Nutzleistung der Maschine
                              									eingreifen.
                           Die französische Ostbahn hat sich diese Thatsachen zu nutze gemacht und ihre neuesten
                              									Verbundlokomotiven mit einer Hilfsteerfeuerung eingerichtet, welche neben der
                              									Kohlenfeuerung gleichzeitig bei schwierigen Umständen in Thätigkeit kommt.
                           Dann die Dampfüberhitzung. Projekte für Heissdampflokomotiven sind jedenfalls schon
                              									wiederholt aufgetaucht; aber bei der Jugend der Heissdampfmaschine überhaupt ist es
                              									kein Wunder, wenn die Ueberhitzung des Dampfes erst jetzt zu einer praktischen
                              									Anwendung bei der Lokomotive gelangt ist.
                           Das Versuchsobjekt ist eine 2/4 gek. Schnellzuglokomotive, welche im übrigen genau
                              									nach den Normalien der preussischen Staatsbahn gebaut ist. Von Borsig 1900 konstruiert und in Paris ausgestellt, hat
                              									sie mit Recht grosses Aufsehen erregt. Ohne weiter auf die Konstruktion des
                              									Ueberhitzers einzugehen, möge gesagt werden:
                           Ans der Feuerbüchse führp ein 25 cm weites Rohr auf dem Boden des Kessels unmittelbar
                              									in eine konzentrisch um die Rauchkammer gelegte enge Kammer, so dass ein Teil
                              									der Feuergase vom Rost sofort in diese gelangt. Sie enthält 20 Windungen einer
                              									dreigängigen Dampfschlange, welche der Kesseldampf vor dem Eintritt in die Cylinder
                              									durchlaufen muss; er wird dabei vollständig getrocknet und auf etwa 350° C.
                              									überhitzt. Die Heizgase erleiden dabei ein Temperaturgefälle von etwa 800° C. und
                              									entweichen zuletzt mit den Siederohrgasen ins Kamin. Der Ueberhitzer ist seinem
                              									Konstrukteur W. Schmidt in Kassel patentiert.
                           Die erwünschten Vorteile sind:
                           Gewöhnliche Zwillingsmaschine, d.h. einfaches Triebwerk, Wegfall der mit dem
                              									Verbundsystem verknüpften Komplikationen; damit zusammenhängend geringere
                              									Reparaturen und geringere Anschaffungskosten;
                           Rückkehr zu geringeren Kesseldrücken, d.h. geringere Gefahr und längere Lebensdauer
                              
                              									des Kessels, ebenso geringerer Kohlenverbrauch;
                           bedeutend erhöhte Leistungsfähigkeit der Lokomotive ohne Steigerung des
                              									Lokomotivgewichts und der Anstrengung der Mannschaft;
                           kleinere Tender für die gleiche Leistung, somit Verminderung der Totlast.
                           Ein Teil dieser Vorzüge ist so stichhaltig, dass der weiteren Verbreitung und
                              									Ausbildung des Systems nichts im Wege stehen kann, wenn auch bei den vergleichenden
                              									Versuchsfahrten, welche mit der Borsig'schen
                              									Heissdampflokomotive und der v. Borries'schen
                              
                              									Viercylinderverbundlokomotive (Kl. III b 1 der Tabelle S. 350 Bd. 316) seitens der
                              									preussischen Staatsbahn neuerdings angestellt worden sind, die letztere Lokomotive
                              									als etwas leistungsfähiger sich gezeigt hat.
                           ––––––––––
                           Die Berechnungsweise der Betriebstechnik hat mit derjenigen der Maschinentechnik
                              									nichts zu thun. Wurde bei letzterer der Kohlen verbrauch auf die Stundenpferdestärke
                              									oder auf den Stundenquadratmeter bezogen, so ist bei ersterer die Bezugseinheit der
                              									Kilometer, der Achskilometer oder Zugkilometer. Zur Aufstellung von Regeln, die beim
                              									Aufbau der heutigen Lokomotive zu beobachten wären, sind die darauf bezogenen
                              									Verbrauchsziffern nicht zu brauchen; dieselben haben rein finanzielles und
                              									statistisches Interesse und kommen daher nur bei Kosten- und
                              									Rentabilitätsberechnungen in Frage.
                           Sieht man von einer Aufzählung und Untersuchung der zahllosen Einzelheiten ab, durch
                              									welche die moderne Lokomotive erst zu dem mustergültigen Renner und Zugtier wird, zu
                              
                              									dem ihre Kräfte sie stempeln und dem man sich gefahrlos überliefern darf, und
                              									richtet man den Blick nur auf das grosse Ganze, so darf eine Erwähnung der
                           
                        
                           Sicherheitsvorkehrungen
                           nicht ganz unterbleiben, soweit dieselben vorläufig die
                              									Lokomotive selbst betreffen.
                           Es kommt nicht nur darauf an, dass die Maschine die erforderlichen Kräfte besitzt und
                              									überhaupt zu entwickeln fähig ist, sondern auch dass sie dieselben entwickeln darf,
                              									ohne Gefahr anzurichten. Nur wenn dafür gesorgt wird, dass aus der vollen
                              									Kraftentfaltung für die Maschine und ihre Umgebung keine bösen Folgen erwachsen, ist
                              									die Lokomotive erst brauchbar; ohne entsprechende Vorsorge dagegen ist sie, auch
                              									wenn ihre Leistungsfähigkeit bedeutend eingeschränkt wird, immer noch eine Quelle
                              
                              									von Gefahren.
                           Als Sicherheitsbedingung ist zunächst der ruhige Gang der Lokomotive zu erwähnen,
                              									dessen Erfordernisse schon, behandelt worden sind (S. 365 Bd. 316). Ein ruhiger Gang
                              									wirkt als Sicherung auf drei Arten:
                           Zunächst vermindert er ohne weiteres die Gefahr einer Entgleisung; dann schont er den
                              									Oberbau des Bahnkörpers und vergrössert die Lebensdauer desselben, während er
                              									gleichzeitig die Reparaturen und damit verknüpften Unterhaltungskosten vermindert;
                              									endlich bedeutet er eine Schonung für die Maschinenmannschaft, deren Aufmerksamkeit
                              									und Dienstfähigkeit durch schlechte, stossende Gangart der Maschine ungünstig
                              									beeinflusst wird.
                           Diese Ruhe des Ganges hängt zusammen mit der fortschreitenden Geschwindigkeit der
                              									Lokomotive einerseits, 
                              									mit der Tourenzahl der Maschine andererseits. Als Sicherheitsvorkehrungen sind
                              									daher die Vorschriften aufzufassen, welche die obere Grenze der zulässigen
                              									Zuggeschwindigkeit und Tourenzahl festlegen.
                           In unserem oft etwas zu vorsichtigen, gar zu ängstlichen Europa wird mit Rücksicht
                              
                              									auf die Sicherheit des Zuges auch heute noch bei den besten Maschinen, den
                              									vollendetsten Fahrzeugen und dem stärksten Oberbau dem Führer hinsichtlich der
                              									erreichbaren Fahrgeschwindigkeit auf freier Strecke keine freie Hand gelassen,
                              									sondern Dienstvorschriften, Kontrolle, registrierende Geschwindigkeitsmesser auf der
                              									Lokomotive, Streckentaster u.s.w. sorgen dafür, dass die zulässige Grenze nicht
                              
                              									überschritten wird. Hierin kann auch des Guten zuviel gethan werden, so dass z.B.
                              									Deutschland mit seiner seit 25 Jahren unveränderten Grenze von 90 km/Std. hinter
                              									einer Anzahl anderer Länder bedeutend zurückbleibt. England bleibt, obwohl es den
                              									Führern freie Hand lässt, doch hinter Frankreich, wo als obere Grenze 120 km/Std. zulässig
                              									sind (seit 1854!), neuerdings zurück, weil seine Lokomotiven an der Leistungsgrenze
                              									angelangt sind. In Frankreich zeigt sich somit eine genügend bewährte Vereinigung
                              									von Schnellbetrieb und Sicherheit.
                           Als Sicherheitsorgan ist in diesem Sinn somit der Geschwindigkeitsmesser (Tachograph)
                              									zu bezeichnen, welcher auf gewissen Bahnen zur vorschriftsmässigen
                              									Lokomotivausrüstung gehört, wie z.B. auf den Schweizerbahnen, der Pfalzbahn,
                              									Main-Neckarbahn und anderen. Bei richtigem Zustand der Maschine, Fahrzeug, und des
                              									Bahnkörpers, und bei gut geschultem Personal erweisen sich aber solche
                              									Beschränkungen der Kraftentfaltung der Lokomotive ebensohäufig als blosse Hemmschuhe
                              									eines geordneten Betriebes, als Verspätungsquellen, wie sie sich als Sicherungen zu
                              									bethätigen Gelegenheit haben. Wenn auch nicht zu bestreiten ist, dass für jede
                              									Lokomotive ihrer Bauart gemäss eine obere Grenze der zweckmässigen Geschwindigkeit
                              									thatsächlich besteht, so kann andererseits behauptet werden, dass der
                              									Sicherheitsgrad, welcher bei der Festsetzung der praktischen Grenze eingehalten
                              									wird, sehr oft überflüssig ist, dass die erlaubten Werte viel zu niedrig gegriffen
                              									werden, und dass eine mehr oder weniger geringfügige Ueberschreitung der Grenze,
                              									obwohl sie dem Buchstaben zuliebe oft bestraft wird, objektiv geurteilt, vollständig
                              									unbedenklich ist. Es ist überhaupt nicht bekannt, dass jemals ein Zug infolge zu
                              									schnellen Fahrens verunglückt ist; das Doppelte der jetzt üblichen Geschwindigkeiten
                              									würde für die Dampflokomotive erst vielleicht wirkliche Gefahr bedeuten. Lange Zeit
                              									schrieben bekanntlich die T. V. folgende Höchstwerte vor, wobei die zunehmende
                              									Anzahl der Kuppelachsen infolge der Vermehrung der Steifheit des Systems und der
                              									Trägheit ungünstigen Einfluss geltend machte:
                           
                              
                                 Zahl der Kuppelachsen
                                 1 und 2
                                 3
                                 4
                                 
                              
                                 Höchste Tourenzahl in der Minute
                                 260
                                 200
                                 160
                                 
                              
                                 Höchste Kolbengeschwindigkeit m/Sek.
                                 5,4
                                 4,2
                                 3,3
                                 
                              
                           Natürlich kommt man mit diesen Zahlen heute nicht mehr aus; sie waren so wie so nur
                              									bestimmt für Maschinen, bei denen durch ihre Bauart die „störenden
                                 										Bewegungen“ nicht besonders vermindert waren, also mit kurzen Radständen und
                              									überhängenden Massen.
                           Die Lokomotiven sind ohne Unterschied des Betriebszwecks so vervollkommnet worden,
                              									dass auch die Rücksicht auf die Zahl der Kuppelachsen hat verschwinden müssen, und
                              									dass durchwegs eine Erhöhung der Werte, teilweise auch eine Ausgleichung
                              									stattgefunden hat. So ist, um mit den Forderungen des Verkehrs Schritt zu halten,
                              									die Tourenzahl von 300 auch für dreifach gekuppelte Maschinen freigegeben worden;
                              									diese und noch höhere Zahlen, ebenso Kolbengeschwindigkeiten bis zu 7 m/Sek. sind gang
                              									und gäbe. Man kann schon damit zufrieden sein, vergleiche aber, dass die Amerikaner
                              
                              									bereits bis 480 Touren und 9 m Kolbengeschwindigkeit sich verstiegen haben.
                           Das Hauptorgan der Sicherheit aber, soweit sich diese überhaupt durch Apparate
                              									vergrössern lässt, ist
                           die Bremse, und zwar im Schnellbetrieb nur die
                              									moderne durchgehende Bremse. Es handelt sich in diesem nicht darum, die
                              									lebendige Kraft des Zuges überhaupt aufzuzehren, indem man den Reibungs- und
                              									Luftwiderstand, der etwa noch durch eine Steigung vermehrt ist, durch künstlich
                              									hervorgebrachte Reibung mit Hilfe von Bremsklötzen sehr stark vergrössert, sondern
                              									dass die Aufzehrung der lebendigen Kraft plötzlich beginnt und sehr rasch beendet
                              									ist. Es wird dies nur durch eine „durchgehende“ Bremse ermöglicht, welche von
                              									einer einzigen Hand, der Hand des Führers allein bedient wird. Nicht „divide et
                                 										impera!“ heisst es da, sondern die Konzentrierung der Funktionen sämtlicher
                              									Bremsen des ganzen Zuges auf einen einzigen Willen führt zum Ziel. Die Sicherheit
                              									des Zuges liegt ausschliesslich in der Hand des Führers; von der dadurch bedingten
                              									Schnelligkeit der Bremsbedienung, wie sie die im Betrieb wünschenswerte
                              									Zeitersparnis verlangt, von der Ersparnis an Mannschaft abgesehen, steigt auch für
                              									den Fall einer Gefahr die Sicherheit, bezw. Wahrscheinlichkeit, der Gefahr zu
                              									entrinnen, in dem Masse, als die Zersplitterung der Aufmerksamkeit geringer ist,
                              									d.h. als die Bremsmannschaft an Zahl abnimmt.
                           Das System der Bremse bleibt dabei ausser Betracht; die aus Amerika (1877) stammende
                              									Westinghouse-Bremse hat wohl diesseits wie jenseits des Ozeans die meiste
                              
                              									Verbreitung gefunden; sie beruht auf dem Prinzip, dass die Bremsen des Zuges duvch
                              									Luftüberdruck gelöst werden, wobei entgegengesetzte
                              									Drücke von Federn und Gewichtshebeln zu überwinden sind; eine Verminderung des
                              									Drucks in der Leitung (3 at) bringt die letzteren zur Thätigkeit und die Bremsen
                              									fallen zu, wobei noch zur Unterstützung des Bremsdruckes ein Ueberströmen von
                              									Frischluft aus der Leitung auf die Federseite des Bremskolbens stattfindet.
                           Da eine Druckverminderung an irgend einer Stelle der Leitung im Zug ein Schliessen
                              									der Bremsen bedingt, so muss der Zug auch durch ein Zerreissen der Leitung, wie sie
                              									bei Zugstrennungen eintritt, gebremst werden, womit die Westinghouse-Bremse eine
                              									automatische Sicherung für solche Fälle bedeutet, die vom Willen und der
                              									Aufmerksamkeit eines Menschen völlig unabhängig arbeitet. Dieser miterkaufte Vorteil
                              									kann nicht hoch genug angeschlagen werden.
                           Nicht nur bei einer wirklich vorhandenen Gefahr hat diese Bremse oft als Retter sich
                              									erwiesen und ungekanntes Unglück vollständig abgewehrt, sondern, wo das Unglück
                              									bereits eingetreten war, wenigstens weitere Ausbreitung desselben abgeschnitten und
                              									zur rechten Zeit noch grössere Folgen verhindert, manchmal mit Hilfe des Führers,
                              									manchmal automatisch (man denke nur an den Brückeneinsturz bei Mönchenstein am 14.
                              									Juni 1891, wo die zweite Hälfte des Zuges jedenfalls nur deshalb gerettet wurde,
                              									weil hinter dem über das Widerlager der Brücke gekippten siebenten Wagen die
                              									Bremsleitung zerriss, so dass plötzlich der Zug gebremst wurde und sofort stehen
                              
                              									musste).
                           Die weitere Vollkommenheit, welche der Bahnbetrieb, im besonderen der Schnellbetrieb
                              									damit gewinnt, ist das allgemeine Sicherheitsgefühl, die Hebung des Zutrauens, das
                              									dem Betrieb zu schenken ist, wenn derselbe die Möglichkeit bietet, einer etwa
                              									vorhandenen Gefahr zu entrinnen, ihr zu trotzen und die Zahl der dem Eintreffen
                              									einer Gefahr oder ihrer Folgen günstigen Umstände um einige vermindern zu können.
                              									Der Massstab dieses Sicherheitsgefühls ist die Geschwindigkeit, mit der auf der in
                              									Frage kommenden Bahn gefahren wird. In dem Mass, in dem die Schnelligkeit wächst,
                              									vermehrt man auch die Sicherheitsvorkehrungen; und zwar erstreckt sich dieser
                              									Massstab sowohl auf die höchste Fahrgeschwindigkeit auf freier Strecke, welche der
                              									Beschaffenheit des Bahnkörpers, der Fahrzeuge und der Maschinen entsprechend
                              									zugelassen wird, als auch auf die Durchschnittsgeschwindigkeit zwischen zwei
                              									Haltepunkten.
                           Erstere ist um so höher zu nehmen (die Leistungsfähigkeit der Maschine
                              									vorausgesetzt), je mehr Vorkehrungen vorhanden sind, um einer vorhandenen Gefahr
                              									auszuweichen, wobei Bremse und Signalwesen sich gegenseitig unterstützen müssen, und
                              									je weniger Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen einer Gefahr vorliegt, wobei die
                              									Bauart und Beschaffenheit des Betriebsmaterials bestimmend eingreifen: gegen das
                              									unvorhergesehene Dazwischentreten „höherer“
                              									
                              									Gewalten ist man natürlich trotzdem nach wie vor machtlos.
                           Letztere dagegen, die „Durchschnittsgeschwindigkeit“ zwischen zwei
                              									Haltepunkten, hängt ab von der Anfahrbeschleunigung, welche ausschliesslich mit der
                              									Stärke der Maschine zusammenhängt, von der soeben besprochenen höchsten
                              									Fahrgeschwindigkeit der freien Strecke und von der „Bremsgeschwindigkeit“,
                              									d.h. dem Bremsweg geteilt durch die Bremszeit, welche gemeinsam durch die Güte der
                              									Bremse bestimmt werden. Durch die Anwendung der durchgehenden Bremse ist auch hierin
                              									dem Schnellbetrieb mächtig aufgeholfen worden; der Zeitverlust durch Bremsen ist
                              									heutzutage auf ein Mindestmass zusammengeschrumpft und manchmal kaum in Anrechnung
                              									zu bringen. Beim Betreten der Bahnhofsgrenze wird der Dampf abgestellt und dadurch
                              									ein Teil der lebendigen Kraft des Zuges den Zugwiderständen zur langsamen Aufzehrung
                              									überlassen; naturgemäss ist der dadurch entstehende Zeitverlust bei kleinen
                              									Stationen, also gewöhnlich für Personenzüge, geringer als beim Einfahren in grosse
                              									verzweigte Bahnhofsanlagen; am Bahnsteig selbst wird daher eingefahren mit einer von
                              									der Geschwindigkeit der freien Strecke zwar etwas verschiedenen, aber besonders bei
                              									kleinen Bahnhöfen noch ganz enormen Schnelligkeit, welche dann durch die Thätigkeit
                              									der Bremsen auf Zugeslänge (und doch verhältnismässig sanft genug) vernichtet wird.
                              									Besonders in Amerika und England wird gerade zu toll in die Bahnhöfe gerast und
                              									bewundernswert rasch und sanft der Zug trotzdem auf Bahnsteiglänge zum Stehen
                              									gebracht. Die Wirkung der Bremse ist hier demnach ohne weiteres ein Teil der
                              									Lebensfrage des Schnellbetriebes und ist durch äusserste Verfeinerungen des
                              									Bremssystems erst allmählich zu diesem Ideal geworden; etwas Genialeres und
                              
                              									scharfsinniger Erdachtes als die moderne Schnellbremse ist kaum im Gebiet der
                              									Technik aufzuspüren.
                           Man vergleiche den Unterschied von einst und jetzt. Vor der Einführung der
                              									durchgehenden Bremse (etwa 1885) liefen die Personenzüge in die Stationen ein, wie
                              									es (in Deutschland wenigstens) die Güterzüge infolge des Mangels dieser Bremse jetzt
                              									noch thun: stark verminderte Geschwindigkeit schon lange vor Ankunft am Bahnsteig,
                              									im Notfall sogar noch einmal Dampf, um das Ziel sicher zu erreichen, in gegebener
                              									Entfernung vor demselben das Haltsignal mit der Dampfpfeife (zwei kurze und ein
                              									langer Pfiff mit Zwischenpausen: ⌣ . . . ⌣ . . . –), und nun alle Bremser in
                              									Thätigkeit! Wie stossweise, ungleichmässig, nervenerschütternd und im Falle einer
                              									Gefahr zur Verzweiflung zeitraubend diese Art der Bremswirkung ist, hat man bei den
                              									Güterzügen von aussen und, wenn man das Glück hat in einem gemischten Güterzug
                              									fahren zu müssen, von innen häufig zu beobachten Gelegenheit.
                           Mit einem Schlag schaffte die durchgehende Bremse da Abhilfe, wenn sie auch noch
                              									gewisse Mängel aufwies, wie sich besonders bei langen Zügen zeigte, wo die
                              									Fortpflanzung der Bremswirkung von der Lokomotive aus durch alle Fahrzeuge des Zuges
                              
                              									zu viel Zeit brauchte und gegen das Ende des Zuges fühlbar erlahmte. Durch
                              									zahlreiche Verfeinerungen ist auch dieser Missstand heute beseitigt und die Bremse
                              									ein Zeitgewinner im weiten Sinne geworden.
                           Zur Aufzehrung der lebendigen Kraft des Zuges in einer kurzen Zeit gehört ein
                              									gewisser Bremsdruck, welcher nur durch die Annahme einer grösseren Zahl von
                              									gebremsten Achsen im Zuge zu erreichen ist, welche ausserdem nach gewissen Regeln im
                              									Zuge zu verteilen sind, um die gewünschte Wirkung voll zu erhalten. Es ist dies
                              									nötig, um die Gefahr zu vermeiden, dass eine Anzahl von ungebremsten Wagen, deren
                              									lebendige Kraft nicht beeinflusst werden könnte, auf einen voranlaufenden gesperrten
                              									Wagen aufrennen, womit die Folgen eines Zusammenstosses in grösserem oder kleineren
                              									Massstabe verknüpft wären.
                           Das Verhältnis der Bremsachsen hinter dem Tender zur Gesamtzahl der Achsen, die
                              									sogen. „Bremsprozente“, werden für die deutschen Hauptbahnen durch die T. V.
                              									in Beziehung zur Fahrgeschwindigkeit einerseits, zum Gefälle der Strecke
                              									andererseits gesetzt und folgendermassen vorgeschrieben:
                           
                              
                                 Gefäll
                                 
                                 Geschwindigkeit (km/Std.)
                                 
                              
                                 30
                                 40
                                 50
                                 60
                                 70
                                 80
                                 90
                                 
                              
                                 1 : ∞1 : 4001 : 2001 : 1001 : 801 : 501 : 401 : 25
                                 
                                    Bremsprozente
                                    
                                   6  6  71315232945
                                   6  9121821313756
                                 10141825293947–
                                 172125333856––
                                 2530354448–––
                                 36414656––––
                                 485459–––––
                                 
                              
                           Die hier verlangte höchste Anzahl der Bremsachsen beträgt 59 % der gesamten Achszahl
                              									bei einer Geschwindigkeit von 90 km/Std. und einem Gefäll von 5‰. Ein Schnellzug von 34
                              									Achsen hinter dem Tender muss somit 20 Bremsachsen haben.
                           Bei der Lokomotive selbst werden gewöhnlich die Tenderachsen (einseitig) und die
                              									Triebachsen (zweiseitig) durch die durchgehende Bremse bedient, wobei allerdings die
                              									Anordnungen ebenso mannigfach sind, als es Lokomotivtypen und Lokomotivfabriken
                              									gibt.
                           Eine Bremsung sämtlicher Achsen der Lokomotive wurde bis vor einiger Zeit als nicht
                              									zweckmässig erachtet, indem die Gefahr nahe liege, dass der Tender vom Zuge
                              										„überritten“ werde; jedoch ist dies bei den heutigen Schnellzügen
                              									ebenfalls ausgeschlossen, welche fast oder ganz ausschliesslich aus Bremswagen sich
                              									zusammensetzen. Verschiedene Bahnen haben daher begonnen, auch das Drehgestell der
                              									Maschine mit doppelter Bremse auszurüsten. Die beiden Laufachsen werden einseitig
                              
                              									von der Mitte aus gebremst. Diese Neuheit findet sich z.B. auf der Gotthardbahn, wo
                              									auf den langen Gefällsstrecken vom grossen Tunnel abwärts eine Dauergeschwindigkeit
                              									von 60 km/Std.
                              									eingehalten werden soll; durch vorzügliche Bremswirkung ist dies ohne grössere
                              									Schwankung als etwa 2 km/Std. ermöglicht.
                           Neben der für jede Lokomotive vorgeschriebenen vom Heizer zu bedienenden Handbremse,
                              									welche bei Schlepptender nur auf diesen wirkt und zwar auf ein und dasselbe
                              
                              									Hebelsystem, welches die Luftbremse bethätigt, sind oft noch an Bremsen vorhanden:
                              									eine Dampf bremse, auf die Triebräder wirkend, und eine Luftrückdruckbremse
                              									(Repressionsbremse), deren Prinzip folgendes ist: der Dampf wird von den Cylindern
                              									abgesperrt, dafür eine Verbindung der letzteren mit Umgehung des Blasrohrs
                              									unmittelbar mit der atmosphärischen Luft geöffnet und die Steuerung in die der
                              									betreffenden Fahrtrichtung entgegengesetzte Lage gestellt. Der Arbeitsprozess der
                              									Dampfcylinder ist dadurch umgekehrt, es wird Luft angezogen und komprimiert, die
                              									Erhitzung durch eingespritztes Wasser herabgedrückt, und das Gemisch von Luft und
                              									verdampftem Wasser zuletzt vom Einströmrohr aus durch einen Schalldämpfer in
                              									besonderem Ableitungsrohr ausgepufft. – Beim Befahren starker Gefälle wird
                              									unveränderliche Geschwindigkeit dadurch gewährleistet, ohne irgend welche andere
                              									Bremsmethode; die Einrichtung findet sich daher ausnahmslos auf allen Zahnradbahnen,
                              									wo die Regulierung der Geschwindigkeit mit Hilfe von Reibungsbremsen geradezu
                              									unmöglich ist, schon weil bei der Thalfahrt (so wenig wie bei der Bergfahrt)
                              									zwischen Maschine und Wagen keine Kuppelung besteht. Auf der badischen Staatsbahn
                              									sind ebenfalls eine Reihe von Hauptbahnlokomotiven mit der Repressionsbremse
                              									versehen zum Befahren von Gefällen, ohne dass bekannt wäre, dass jemals davon
                              									Gebrauch gemacht würde; die Führer ziehen die durchgehende Reibungsbremse vor; auf
                              									anderen Hauptbahnen sind die Verhältnisse ähnlich.
                           Das letzte, immer gewagte, Hilfsmittel bei der äussersten Gefahr ist der Gegendampf,
                              									wobei die Steuerung, entgegen dem Beharrungsvermögen des Zuges, plötzlich auf die
                              									entgegengesetzte Fahrtrichtung umgelegt wird; es ist selbstverständlich, dass dabei
                              									sowohl das Triebwerk der Maschine zertrümmert, als auch der Tender überritten werden
                              									kann.
                           Besonders kräftig fallen die Bremswirkungen an der 
                              									Maschine selbst aus, wenn gleichzeitig der Sandstreuer zur Vermehrung der
                              									Adhäsion angewendet wird.
                           ––––––––––
                           In vorstehendem konnte ein allgemeiner Ueberblick gegeben werden über die Entwicklung
                              									der Lokomotive, besonders der Schnellzuglokomotive, über ihren modernen Aufbau und
                              									die ferneren Aussichten ihrer Ausbildung für die Zukunft, über ihre Tugenden und
                              									Schwächen hinsichtlich der technischen 5nd kommerziellen Brauchbarkeit, über ihre
                              									Rentabilität hinsichtlich Wasser- und Brennstoffverbrauch, über die Ansprüche, die
                              									ihre Bedienung an die Mannschaft zu stellen pflegt, und endlich über ihre
                              									Beziehungen zur Betriebssicherheit.
                           Es hat sich zum mindesten ergeben, dass der komplizierte Apparat, den diese fahrende
                              									Kessel- und Maschinenanlage darstellt, noch nicht am Ende seiner Tage jetzt nach 75
                              									Jahren des Bestehens angelangt ist, sondern im Gegenteil einer sehr grossen weiteren
                              									Entfaltung seiner Leistungsfähigkeit bei Beobachtung gewisser Erfahrungen fähig ist.
                              									Die Dampflokomotive wird, nachdem gewisse hemmende Schranken, die ihrer Macht
                              									bisher gegenübergestanden, gefallen sind, eine solche Vereinigung von Kraft,
                              									Schnelligkeit, Ausdauer, Sicherheit und Sparsamkeit zu ihrem Wesen machen, dass fürs
                              									erste jede Konkurrenz geschlagen werden kann, um so mehr als die Dampflokomotive auf
                              									schon bestehendem Arbeitsfeld ihre Thätigkeit aufnimmt, ohne eine „Umwertung
                                 										aller Werte“ im Betrieb und Bau der Eisenbahnen herbeizuführen.
                           Wer angesichts der drohenden Konkurrenz der elektrischen Schnellbahn der
                              									Dampflokomotive den Untergang prophezeit und ihr die weitere Existenzfähigkeit
                              									abspricht, beweist damit nur seine völlige Unkenntnis mit dem, was die
                              									Dampflokomotive ist, wessen sie und der Lokomotivbau fähig sind und was sie schon
                              									geleistet haben. Es sei hier auf die Ausführungen Fränkel's in Glaser's Annalen vom 15. April 1901 hingewiesen: Es ist Zeit, dass die
                              									Lokomotivfabriken ebenfalls auf dem Rennplatz erscheinen; denn nur aus
                              									vorurteilsloser Vergleichung der beiden Systeme, nur durch eine Betriebsprobe ist
                              									der Nachweis zu führen, welchem von beiden der Vorzug gebührt!
                           
                              (Fortsetzung folgt.)