| Titel: | Der Simplontunnel. | 
| Fundstelle: | Band 317, Jahrgang 1902, S. 422 | 
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                        Der Simplontunnel.
                        Der Simplontunnel.
                        
                     
                        
                           Als vor einigen Monaten die Nachricht in die Oeffentlichkeit drang, dass die
                              									Bauarbeiten am Simplontunnel infolge einer Ueberschwemmung im Bergesinnern zu
                              									zeitweiligem Stillstand gekommen seien, dürfte bei vielen der Wunsch laut geworden
                              									sein, etwas Näheres von diesem grossartigen Ingenieurwerk zu hören, das an der
                              									schweizerisch-italienischen Grenze in der Ausführung begriffen ist.
                           Zwar haben wir am Bau des Simplontunnels kein politisches Interesse wie seiner Zeit
                              									am Bau des Gotthardtunnels. Letzterer ist bekanntlich von Deutschland subventioniert
                              
                              									worden, weil die Herstellung einer Bahnverbindung zwischen Deutschland und Italien
                              									durch die neutrale Schweiz im Gegensatz zu der durch Oesterreich führenden
                              									Brennerbahn für uns von grösstem Wert war. Aber dieser Tunnel übertrifft die seither
                              									erbauten Alpentunnels nicht nur an Länge, sondern auch an Kühnheit des Planes bei
                              									weitem. Bei seinem Bau sind ungleich grössere Schwierigkeiten zu überwinden. Dies
                              									hat dazu geführt, eine ganz neue, originelle Baumethode anzuwenden, mit deren Hilfe
                              									man den Tunnel in erstaunlich kurzer Zeit vollenden will. Der Simplontunnel bedeutet
                              									deshalb einen gewaltigen Fortschritt in der Geschichte des Tunnelbaus und verdient
                              									in technischer Hinsicht das grösste Interesse.
                           Der erste der grossen Alpentunnel, der 12 km lange Mont-Cenistunnel, ist von
                              									italienischen Ingenieuren im Jahre 1871 nach 13jähriger Bauzeit vollendet worden.
                              									Der 15 km lange Gotthardtunnel, dessen Bau dem Genfer Ingenieur Favre übertragen war, konnte schon nach 9½-jähriger
                              									Bauzeit im Jahre 1882 dem Betrieb übergeben werden. Der Bau des Simplontunnels ist
                              									von der Jura-Simplonbahngesellschaft, der Eigentümerin
                              									des Bahnnetzes der Westschweiz, einer besonders zu diesem Zweck gegründeten
                              									Kommanditgesellschaft übertragen worden, welche die Firma fuhrt Baugesellschaft für den Simplontunnel, Brandt, Brandau und
                                 										Co. in Winterthur. Neben dem genialen Ingenieur Alfred Brandt, dem berühmten Erfinder der Brandt'schen Gesteinsbohrmaschine und dem hervorragenden Tunnelingenieur
                              										Brandau, die der Firma den Namen gegeben haben,
                              									sind Kommanditäre die Firma Locher und Co. in Zürich,
                              									die sich auf dem Gebiet des Bahnbaus in der Schweiz sehr hervorgethan hat, ferner
                              									die weltberühmte Maschinenfabrik von Gebr. Sulzer in
                              									Winterthur, deren Teilhaber Sulzer-Ziegler Prokura für
                              									die Tunnelbaugesellschaft hat, schliesslich die Bank in
                                 										Winterthur.
                           Nach dem Bauvertrag muss der 20 km lange Tunnel für die feste Summe von 70 Millionen
                              									Franken in 5½ Jahren Vollendet werden. Für jeden Tag Terminüberschreitung Werden
                              									5000 Franken als Strafe von der Bausumme in Abzug gebracht, falls nicht höhere
                              									Gewalt, wie Streiks ohne Verschulden der Unternehmung, Epidemien, Krieg o. dgl. die
                              									Verzögerung veranlasst hat, für jeden Tag früherer Vollendung sollen andererseits
                              									5000 Franken Prämie gezahlt werden, doch dürfte dieser Fall kaum eintreten.
                           Der erste Spatenstich ist am 1. August 1898 auf der schweizerischen Seite gemacht
                              									worden, einige Tage später haben die Arbeiten auf der italienischen Seite begonnen.
                              									Der Bauvertrag wurde am 13. November 1898 unterzeichnet, danach soll der Tunnel
                              									am 13. Mai 1904 vollendet sein. Wie einst Favre lange
                              									vor dem Durchschlag des Gotthardtunnels seine rege Seele aushauchte, so ist
                              									inzwischen auch Alfred Brandt bereits von dem Werk
                              									abberufen worden, das unzertrennlich mit seinem Namen verbunden ist.
                           Der Simplontunnel soll die Westschweiz mit Oberitalien verbinden, das Nordportal
                              									oberhalb des Städtchens Brig im Rhonethal, das Südportal unterhalb des Dörfchens
                              									Iselle im Diveriathal. Schon Napoleon I. erkannte die Wichtigkeit einer guten
                              									Verbindung an dieser Stelle; er befahl nach der Schlacht bei Marengo den Bau einer
                              									Heerstrasse über den Simplonpass, noch heute ein ruhmvolles Zeugnis für die
                              									Tüchtigkeit seiner Ingenieure, und kürzte dadurch den damaligen Weg von Paris nach
                              									Mailand um 50 Meilen ab. Der Bahnverkehr geht heute noch auf einem Umweg, entweder
                              									durch den mehr südlich gelegenen Mont-Cenistunnel oder durch den mehr nördlich
                              									gelegenen Gotthardtunnel. Nach Vollendung des Simplontunnels wird die Länge des
                              
                              									Schienenwegs von Paris nach Mailand um 80 km abgekürzt. Aber nicht nur aus diesem
                              									Grunde hofft die Jura-Simplonbahn den Verkehr von Frankreich, Belgien und England
                              									nach Italien an sich zu ziehen. Um im Konkurrenzkampf mit den anderen Bahnlinien des
                              									Erfolges noch sicherer zu sein, lässt sie den Tunnel als sogen. Basistunnel bauen,
                              									d.h. die Alpenkette wird am Fusse durchbohrt, an einer Stelle, die 450 m tiefer
                              									liegt als der Gotthardtunnel und 600 m tiefer als der Mont-Cenistunnel. Natürlich
                              
                              									ist das Gebirge am Fusse viel breiter, der Tunnel wird deshalb länger, sein Bau
                              									kostspieliger, der Bahnbetrieb durch denselben wird jedoch billiger und vor allem
                              									viel schneller vor sich gehen, weil es nicht mehr nötig ist, die Züge so hoch hinauf
                              									zu fördern.
                           Dem Beginn aller Bauarbeiten ist eine genaue Untersuchung der geologischen
                              									Verhältnisse des Simplongebiets vorausgegangen. Dieselbe ergab, dass die Reihenfolge
                              									des Gebirgsalters ununterbrochen von Süden nach Norden durchgeht. Das älteste
                              									Gestein ist Kalkglimmerschiefer, diesem ist Antigoriogneiss überlagert. Im
                              									Zentralmassiv bilden die Gneisse die Hauptmasse; nördlich schliesst sich an die
                              									kompakte Gneissmasse die ganze Reihe der krystallinischen Schiefer. Die jüngste
                              									Formation wird im Norden durch die Glanzschiefer und Gipse der Rhone gebildet.
                              									Letztere sind für den Fortschritt der Arbeiten am gefährlichsten. Für den Tunnelbau
                              
                              									am günstigsten ist nämlich ein homogenes festes Gestein, das mechanische Bohrung
                              									zulässt, mit Dynamit gesprengt werden kann und keine oder fast keine Unterstützung
                              									braucht. Am schwierigsten sind die Arbeiten in einem Gebirge, das fast keine
                              									Konsistenz hat, bei der kleinsten Entblössung massenweise in Bewegung gerät oder mit
                              									Wasser geschwängert zu rinnen beginnt. Dann kann kein Centimeter Fortschritt ohne
                              									Verpfählung und Unterstützung gewonnen werden.
                           Das Streichen der zu durchfahrenden Schichten ist am Simplon fast senkrecht zur
                              									Tunnelachse, das Fallen schwankt zwischen N. W. und S. O.
                           Die Tunnelachse wurde auf Grund einer sehr exakten topographischen Terrainaufnahme
                              									festgelegt. Nachdem 
                              									man sich für einen Basistunnel entschieden hatte, war die Lage des Nordportals
                              									durch geologische Verhältnisse, seine Höhe durch den Stand des Rhonehochwassers
                              									bestimmt. Die Lage des Südportals ergab sich aus klimatischen Verhältnissen bei der
                              									sogen. Strassengalerie von Iselle. Es ist dies eine Stelle des engen Diveriathals,
                              									an der zu beiden Seiten des Baches Felswände mehrere hundert Meter hoch aufsteigen,
                              									so dass die Strasse ganz in den Felsen eingehauen werden musste. Hier ist eine
                              									scharf ausgeprägte klimatische Grenze; thalaufwärts bleibt der Schnee im Winter
                              									mehrere Monate liegen, thalabwärts, über diese Stelle hinaus, fahren die Schlitten
                              									in zehn Wintern vielleicht einmal. Man wählte nun die Lage des Tunnelportals so,
                              									dass es vor dem Zuschneien geschützt ist, damit nicht später der Bahnbetrieb durch
                              									Schneefall gestört wird. Um während des Baues die Zufuhr zu den Installationen zu
                              									erleichtern, hat man das Portal in Höhe der Simplonstrasse gelegt. Nachdem die Lage
                              									der Tunnelportale auf diese Weise bestimmt war, ergab sich das Südportal 53 m tiefer
                              									liegend als das Nordportal.
                           Um die einmal angenommene Lage der Tunnelmittellinie unverrückbar festzuhalten und
                              									stets kontrollieren zu können, ob die Arbeiten auch in der vorgeschriebenen Richtung
                              									fortschreiten, sind an jedem Portal in der Verlängerung der Tunnelachse kleine
                              									Observatorien errichtet, die mit vorzüglichen Fernrohren und Messinstrumenten
                              									ausgerüstet sind. Da der Tunnel, der ungefähr 19 km lang geradlinig verläuft, an
                              									seinen beiden Enden in Kurven an die freie Bahnstrecke anschliesst, so sind in
                              									direkter Verlängerung des geradlinigen Teils besondere Richtstollen nur zu dem Zweck
                              									hergestellt worden, um geradlinig von den Observatorien in den Tunnel hinein
                              									visieren zu können. Das Messen in gerader Linie ergibt nämlich genauere Resultate
                              									als das Messen in Kurven. Dass die Arbeiten, die gleichzeitig von den 20 km
                              									voneinander entfernten Portalen vorgetrieben werden, sich im Innern des Berges auch
                              									wirklich treffen, ist bei der Genauigkeit der Instrumente und Messmethoden ausser
                              									Zweifel. Uebrigens steigt der Tunnel von beiden Seiten nach der Mitte hin etwas an,
                              									damit während des Baues das dem Felsen entströmende Wasser bequem ablaufen kann. Von
                              									der Nordseite geht man mit dem Minimalgefälle für Wasserablauf 2‰ vor, in der Mitte
                              									wird eine Strecke von 500 m horizontal hergestellt, für die Südseite ergibt sich
                              									dann ein Gefälle von 7‰.
                           Die grösste Schwierigkeit für den Bau des Tunnels ergibt sich aus seiner tiefen Lage.
                              									Je grösser die Ueberlagerung, d.h. je tiefer ein Tunnel unter dem Gipfel des Berges,
                              									um so höhere Temperaturen sind während des Baues zu erwarten. Am Simplontunnel
                              									dürfte die Temperatur auf 40° C. steigen. Beim Bau des Gotthardtunnels hat die
                              									übermässig feuchte Hitze, obwohl die Gesteinstemperatur nur auf 30° 0. stieg,
                              									bewirkt, dass mehr als die Hälfte aller Arbeiter erkranktenh und dass deshalb die
                              									Arbeiten zeitweilig nicht weiter geführt werden konnten.
                           Die Bewältigung der hohen Temperatur bildet daher den Kernpunkt des ganzen
                              									Simplonprojektes. Von der befriedigenden Lösung dieser Frage hing die technische
                              									Ausführbarkeit ab. Nach eingehenden Studien kam man zu der Ueberzeugung, dieser
                              									Schwierigkeit am besten durch den Bau eines Doppeltunnels begegnen zu können. Im
                              									Gegensatz zu den anderen Alpentunnels baut man nicht einen zweigeleisigen Tunnel,
                              									sondern zwei, zu einander parallele, eingeleisige Tunnels, deren Mittellinien einen
                              									Abstand von 17 m haben, nur die 500 m lange, horizontale Strecke in der Mitte wird
                              									von vornherein zweigeleisig gebaut (Fig. 1 und 2). Man treibt zwar gleichzeitig von jeder Seite zwei
                              									zu einander parallele Stollen vor, aber vorerst wird nur der eine, nämlich der
                              									östlich gelegene, zum Tunnel ausgebaut, erst wenn dieser eingeleisige Tunnel für den
                              									Bahnbetrieb nicht mehr genügt, erfolgt der Ausbau des zweiten Stollens. Da nun in
                              									der Mitte des Tunnels eine zweigeleisige Strecke vorhanden ist, können dort Züge
                              									kreuzen. Eine kleine Station mit einem Stationsbeamten wird daselbst ihren
                              									Platz finden. So wird es möglich, die Züge schneller aufeinander folgen zu lassen
                              									und länger mit einem eingeleisigen Tunnel auszukommen. Man spart für einige Jahre
                              									die Zinsen des grossen Kapitals, das für den Ausbau des zweiten Stollens
                              									erforderlich ist.
                           Ausschlaggebend für den Bau eines Doppeltunnels, bei dem die Menge der
                              									Ausbruchsmassen grösser ist als bei dem Bau eines einzigen zweigeleisigen Tunnels,
                              									war die Möglichkeit, die hohe Gesteinstemperatur besser bekämpfen zu können. Während
                              									des Baues benutzt man den einen Stollen als mächtiges Luftzuführungsrohr für den
                              									zuerst fertig zu stellenden Tunnel. Letzterer sei der Kürze halber als Stollen bezw.
                              									Tunnel I bezeichnet, der Parallelstollen als Stollen II. In diesen werden durch
                              
                              									Ventilatoren sekundlich 50 cbm Luft eingeblasen; da der Stollen 2,4 m hoch und 3,2 m
                              									breit ist, ist sein Querschnitt 8 m2, die
                              									Luftgeschwindigkeit also über 6 m/Sek. Durch den jeweils letzten Querstollen, wie ein
                              									solcher alle 200 m zur Verbindung der Stollen I und II hergestellt wird, tritt die
                              									Luft in Stollen I über und gelangt durch Tunnel I ins Freie. An jedem Tunnelportal
                              									sind zwei Ventilatoren, direkt mit Turbinen gekuppelt, aufgestellt, die einzeln 50
                              									cbm Luft von 243 mm Wassersäule liefern können. Dieselben können entweder
                              									hintereinander auf Druck oder nebeneinander auf Quantität gekuppelt werden, sie
                              									können entweder saugen oder drücken und sollen später auch für die Ventilation des
                              									fertigen Tunnels dienen. Auf diese Weise wird einmal den Arbeitsstellen im Tunnel
                              									frische Luft zugeführt, wozu auch schon ein viel kleineres Quantum ausreichen würde,
                              									ausserdem wird da, wo dieser Luftstrom durchgeht, eine rasche und bedeutende
                              									Abkühlung des Gebirges erzielt.
                           Zu den Stollenorten, die ausserhalb des grossen Luftstromes liegen, wird die Luft
                              									mittels Wasserstrahlgebläsen getrieben, wobei sie gleichzeitig auf die Temperatur
                              
                              									des Wassers abgekühlt wird.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 317, S. 422
                              Fig. 1. Profil des eingeleisigen Tunnels bei starkem Seitendruck.
                              
                           In dem Bauvertrag ist festgesetzt, dass die Temperatur an den Arbeitsstellen
                              									höchstens 25 °C. betragen soll. Einmal ist den Ausbruchsmassen Wärme zu entziehen,
                              									ferner sind die Wände des fertig ausgebrochenen Tunnels abzukühlen. Nachdem
                              									eingehende Versuche über das Wärmeleitungsvermögen der am Simplon hauptsächlich
                              									vertretenen Gesteinsart, des Gneiss an gestellt worden waren, hat man berechnet,
                              									dass stündlich rund 1500000 Kalorien abzuführen sind. Im Winter wird die
                              									Ventilationsluft hiervon etwa 1000000 Kalorien aufnehmen, im Sommer kommt dieselbe
                              									jedoch gar nicht dafür in Betracht. Dann muss die ganze Wärme durch das Bohr- und
                              
                              
                              									Kühlwasser abgeführt werden, indem die Sprengstücke, die Stollen- und Tunnelwände
                              									damit bespritzt und die Luft durch Brausen und Strahlgebläse gekühlt wird. In
                              									Stollen II ist eine Kühlwaswerleitung verlegt, die durch Sulzer'sche Hochdruckzentrifugalpumpen von den Tunnelportalen aus gespeist
                              									wird. Um die Kühlwasserleitung im 
                              									Innern des Tunnels den Wärmeeinwirkungen zu entziehen, muss dieselbe vorzüglich
                              
                              
                              									isoliert werden, wozu man anfangs sehr teure Blätterkohle, jetzt billigere Holzkohle
                              									verwendet. Von dem Mittel Luft durch Zerstäuben von Wasser abzukühlen, kann man aber
                              									nur bis zu einer gewissen Grenze Gebrauch machen, da ein zu starker
                              									Feuchtigkeitsgehalt der Luft das Transpirieren unmöglich macht und dadurch leicht
                              									Unwohlsein der Arbeiter hervorruft. Um Luft auf trockenem Wege abzukühlen, lässt man
                              									sie an Rippenkörpern vorbeistreichen, in deren Innerem Kühlwasser zirkuliert; wenn
                              									nötig, will man eventuell Eiskästen in die Stollen bringen und die Luft an diesen
                              									vorbeiführen.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 317, S. 423
                              Fig. 2. Profil der zweigeleisigen Strecke in der Mitte des Tunnels. Ausmauerung entsprechend der Beschaffenheit des Felsens.
                              
                           Selbst wenn die Temperatur im Inneren des Simplontunnels noch höher ausfallen sollte,
                              									wie erwartet, so kann bei der angewandten Methode der Bau vielleicht verzögert, nie
                              									aber zum Stillstand gebracht werden; bei der starken Ventilation kann die Arbeit
                              									auch bei höherer Temperatur, allerdings mit etwas verminderter Leistungsfähigkeit
                              									des einzelnen Arbeiters fortgeführt werden. Voraussichtlich wird aber stets die
                              									volle Ausnutzung menschlicher Arbeitskraft möglich sein.
                           Da die Erhaltung eines ständigen, geschulten Arbeiterkorps für das schnelle
                              									Fortschreiten des Unternehmens äusserst wichtig ist, ist auch sonst in sanitärer
                              									Hinsicht alles geschehen, um den Organismus der Arbeiter vor Schädlichkeiten zu
                              									schützen. Alle Arbeiter werden bei ihrer Aufnahme gründlich ärztlich untersucht. Die
                              									Schlafstellen werden ständig kontrolliert, damit nicht bei dem mehrmaligen
                              
                              									Schichtwechsel innerhalb 24 Stunden ein und dieselbe Schlafstelle von mehr als einem
                              									Arbeiter benutzt Wird, auch die in den Tunnel mitgenommenen Lebensmittel unterliegen
                              									einer Kontrolle. Die Unternehmung stellt den Arbeitern besondere Arbeitskleider.
                              									Beim Verlassen des Tunnels gelangen die Arbeiter durch eine überdeckte Galerie nach
                              									der Badeanstalt, hier müssen sie die nassen und schmutzigen Arbeitskleider ablegen,
                              									die auf Kosten der Unternehmung gereinigt und getrocknet werden. Bevor sie ihre
                              									eigenen Kleider erhalten, sollen sie sich zum Schutz gegen Erkältung kalt abduschen.
                              									Wer sich entgegen der Vorschrift in den Arbeitskleidern nach Hause begibt, hat im
                              									Falle einer Erkrankung keinen Anspruch auf Krankengeld.
                           Betrachten wir nun einmal näher den eigentlichen Tunnelbau. Wie erwähnt, treibt man
                              									einen Stollen vor, der viel kleineren Querschnitt hat als der fertige Tunnel. Dieser
                              									Stollen muss also nachher auf das durch die Grösse der Eisenbahnfahrzeuge bedingte
                              									Tunnelprofil erweitert, und um das Tunnelprofil stets in der vorgeschriebenen
                              									Ausdehnung zu erhalten, ausgemauert werden. Auch in festem Gestein, das sich selbst
                              									trägt, mauert man aus, Um das Gestein vor dem Einfluss der Witterung, der
                              									Lokomotivrauchgase und des Lokomotivdampfes zu schützen. Letzterer würde sonst in
                              									die Fugen eindringen, im Winter gefrieren und das Gestein losbröckeln.
                           Beim Vortreiben des Stollens können wegen des beschränkten Raums gleichzeitig
                              									nur wenig Arbeiter thätig sein; was versäumt worden ist, kann also nicht etwa durch
                              									Anstellen einer grösseren Anzahl Arbeiter wieder eingeholt werden, wie dies bei den
                              									Erweiterungs- und Ausmauerungsarbeiten möglich ist. Die Schnelligkeit, mit der der
                              									ganze Tunnel vollendet werden kann, hängt deshalb in erster Linie von einem raschen
                              									Fortschreiten des Sohlstollens ab. Um den grösstmöglichen Stollenfortschritt zu
                              									erreichen, wird Tag und Nacht, Sonntag und Werktag mit 8stündigem Schichtwechsel
                              									weiter gearbeitet, nur an dem ersten Feiertag zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten,
                              									sowie am Tage der heiligen Barbara, der Schutzheiligen der mit Sprengmitteln
                              									arbeitenden Bergleute, ruht hier die Arbeit. Es muss das Tunnelbausystem als das
                              									beste celten, welches den grössten Stollenfortschritt gewährleistet und bei welchem
                              
                              									das Schritthalten der übrigen Ausweitungs- und Mauerungsarbeiten mit den geringsten
                              									Opfern möglich ist.
                           Es ist nun die Frage, soll man den Stollen in die obere oder in die untere Hälfte des
                              									Tunnelprofils legen, d.h. soll man mit Firststollen oder mit Sohlstollen vorgehen?
                              									Ferner in welcher Weise nimmt man die Erweiterung des Stollens bis zum normalen
                              									Profil vor, wobei stets Rücksicht auf den leichten Transport der Ausbruchsmassen zu
                              									nehmen ist?
                           Dass man einen Alpentunnel nur von den beiden Mundlöchern aus vortreiben kann, ist
                              									selbstverständlich. Das Mittel, welches man sonst häufig beim Bau längerer Tunnels
                              									zur Verkürzung der Bauzeit angewendet hat, nämlich durch einen seitlichen Stollen
                              									oder einen vertikalen Schacht die Zahl der Angriffspunkte zu vermehren, ist in dem
                              									Hochgebirge ausgeschlossen.
                           Um die Vorzüge der am Simplon benutzten Methode zu erkennen, ist ein Vergleich mit
                              									dem Bauvorgang am Gotthardtunnel (Fig. 3) am
                              									zweckmässigsten. Dort wurde die sogen. belgische Methode angewandt, bei der mit
                              									Firststollen vorgegangen wird. Dieser wird dann rechts und links erweitert, bis der
                              									ganze obere Raum ausgehoben ist. Dann wird sogleich das obere Gewölbemauerwerk
                              									hergestellt, danach der Sohlenschlitz, schliesslich die Strosse ausgebrochen. Dann
                              									erst kann das Widerlagsmauerwerk und zum Schluss das Sohlengewölbe, wo ein solches
                              									nötig ist, hergestellt werden. Man sieht sofort, dass beim Abteufen der Widerlager
                              									und Unterfangen des oberen Gewölbes grosse Vorsicht nötig ist, damit nicht Senkung
                              									oder Trennung desselben eintritt. In dem Sohlenschlitz sammelt sich leicht Wasser an
                              									und stört die Arbeiten. Das Sohlengewölbe kann erst nachträglich eingezogen werden
                              									(vgl. Fig. 1). Die Fundamente der Widerlager müssen
                              									hierzu stark blossgelegt werden und bewegen sich bei seitlichem Druck gegeneinander.
                              
                              									Dieser seitliche Druck ist aber in weichem Gebirge stets vorhanden, somit dort das
                              									belgisghe System unbrauchbar. Wo Druckstellen verhältnismässig selten vorkommen, bei
                              									meist festem Gebirge wie am Gotthard, geht es noch, dort ergibt sich aber der
                              									fernere Missstand, dass das Ausheben des Sohlenschlitzes nur von Hand vorgenommen
                              									werden kann, weil bei hartem Gestein beim Schiessen die herumfliegenden Sprengstücke
                              									das Firstgewölbe beschädigen.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 317, S. 423
                              Fig. 3. Bauvorgang am Gotthardtunnel.
                              1 Firststollen; 2 Calotte; 3 und 4 Sohlenschlitz; 5 Strosse; 6 Kanal.
                              
                           Die Vorteile des belgischen Systems, die Favre einst zur
                              									Anwendung desselben bestimmten, sind einmal die Holzersparnis bei den
                              									Zimmerungsarbeiten infolge der sofortigen Herstellung des Firstgewölbes, ferner die
                              									erleichterte Ventilation, denn ein Stollen im obersten Teil des Tunnelprofils ist
                              									der natürlichste Kanal für die Ableitung der schlechten Luft.
                           Im Gegensatz zur belgischen steht die englische Methode, die am Simplon angewendet
                              									wird. Bei dieser geht man mit Sohlstollen vor. In gewissen Abständen (vgl. Fig. 4) werden Aufbrüche nach dem oberen Profilteil
                              									hergestellt und von jedem Aufbruch nach beiden Seiten ein Firststollen 
                              									vorgetrieben. Die Aufbrüche werden erst begonnen, nachdem der vorwärts liegende
                              									Querstollen durchgeschlagen ist. Man hat dann aber auch ziemlich schnell einen
                              									durchgehenden Firststollen hergestellt, so dass die beim Schiessen entstehenden
                              									schädlichen Gase sich nicht mehr in den Aufbrüchen festsetzen können und wieder eine
                              									leichte Ventilation möglich ist. Dann wird der Firststollen seitlich erweitert, also
                              									die Kalotte ausgebrochen, wobei die Ausbruchsmassen bequem durch die Aufbrüche in
                              
                              									darunter stehende Wagen verladen werden können. Schliesslich wird die Scheidewand
                              									zwischen First- und Sohlstollen, sowie das Gestein rechts und links von dem
                              									Sohlstollen entfernt. Jetzt erst, nachdem das ganze Profil ausgebrochen ist, wird
                              									mit der Mauerung begonnen und zwar zuerst mit dem Sohlengewölbe, wo ein solches
                              									nötig ist. Die Methode bleibt deshalb auch im schlechtesten Gestein anwendbar. Ein
                              
                              									Vorteil ist der, dass das Gestein durch den an der tiefsten Stelle des Profils
                              									gelegenen Stollen schnell entwässert wird. Vom Sohlstollen aus kann man leicht zu
                              									jedem beliebigen Punkt des Profils gelangen. Die Ventilation ist zwar etwas
                              									schwieriger als bei der belgischen Methode, aber die schnell erfolgende Herstellung
                              									eines Firststollens lässt diesen Nachteil kaum ins Gewicht fallen.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 317, S. 424
                              Fig. 4. Baumethode am Simplontunnel.
                              
                           Die Arbeitslänge im Tunnel, d.h. die Strecke von „vor Ort“ bis zu der Stelle,
                              									die gerade fertig ausgemauert ist, muss möglichst kurz gehalten werden. Einmal wegen
                              									der leichteren Aufsicht, ferner weil eine kürzere Strecke leichter gut ventiliert
                              									werden kann. Am Simplon beträgt die Arbeitslänge rund 800 m, am Gotthard betrug sie
                              									seiner Zeit 2000 m.
                           Dass es heute gelingt, einen Stollen weit schneller vorzutreiben als früher, dieser
                              									grösste Fortschritt des Tunnelbaus beruht auf der stärkeren Wirkung unserer heutigen
                              									Sprengmittel und auf der Vervollkommnung der Gesteinsbohrmaschinen.
                           Die Erfindung des Dynamits war seiner Zeit für die Tunnelbautechnik ein grosser
                              									Gewinn, weil damit viel grössere Sprengwirkungen erzielbar sind, als mit dem früher
                              									verwandten Schwarzpulver. Man braucht für gleiche Felsmassen weniger Löcher zu
                              									bohren, spart also an Bohrzeit. Die Versuche mit flüssiger Luft als Sprengmittel,
                              									die am Simplon angestellt wurden, sind wieder eingestellt worden, nachdem ein
                              									günstiges Resultat innerhalb kurzer Zeit nicht erreichbar schien. Jede Verzögerung
                              									dieses Tunnelbaus ist mit grossen Geldverlusten verbunden, deshalb ist am Simplon
                              									nicht der Ort für längeres Probieren.
                           Ebenfalls um die Bohrzeit abzukürzen ist von Ingenieuren unablässig an der
                              									Vervollkommnung der Bohrmaschinen gearbeitet worden. Bei dem Bau der ersten grossen
                              									Alpentunnels hatte man für die mechanische Bohrung Druckluft angewandt. Diese sollte
                              									in den Bohrmaschinen durch Expansion Arbeit leisten und dann noch zur
                              									Ventilation dienen. Nun stehen aber die Bohrmaschinen i. der Zeit nach dem
                              									Abschiessen, wo infolge des Dynamitrauchs die Ventilation am nötigsten ist, still,
                              									so dass doch in den meisten Fällen besondere Vorrichtungen für die Ventilation
                              									getroffen werden mussten. Die Kraftübertragung mit Druckluft hat an sich keinen
                              									guten Wirkungsgrad. Die Maschinen selbst waren als Stossbohrmaschinen konstruiert.
                              									Die lebendige Kraft des vorgeworfenen Bohrers mit meisselförmiger Schneide wurde
                              									mitbenutzt, um die Festigkeit des Gesteins zu überwinden, da der direkte Druck
                              									hierzu nicht ausreichte. In diesem System sind grosse Arbeitsverluste, sowie eine
                              									übermässige Reparaturbedürftigkeit begründet.
                           Diese Uebelstände veranlassten seiner Zeit Brandt eine
                              									hydraulische Gesteinsbohrmaschine zu konstruieren. Er wandte ruhig wirkenden
                              									hydraulischen Druck an. Da es kein Gestein gibt, das eine grössere Festigkeit als
                              									Stahl besitzt, so vermögen die Kanten eines Stahlbohrers in jedes Gestein
                              									einzudringen und dasselbe zu zermalmen, wenn sie nur mit genügendem Druck angepresst
                              									werden. Zur Herstellung des Bohrlochs wandte Brandt
                              									Drehung des Bohrers an, die ebenfalls durch Wasserkraft bewirkt wird.
                           Der Brandt'sche Bohrer ist ein ringförmiger
                              									Kronenbohrer, der einen möglichst grossen zentralen Kern stehen lässt und nur eine
                              									kleine, den Kern umgehende Ringfläche abbohrt. Dieser Kern, der dann von selbst
                              									abbröckelt, bedeutet eine bedeutende Ersparnis an mechanischer Arbeit. Auch wird
                              									durch die zentrale Bohrung des Bohrers das Abflusswasser geleitet, dieses wäscht den
                              									Bohrsand aus und kühlt den Bohrer.
                           Die Vorteile der Brandt'schen Methode sind folgende: Der
                              
                              									Wirkungsgrad von Presspumpen ist höher als der von Luftkompressoren; die
                              									Druckverluste in der Leitung sind gering, die Bohrmaschinen selbst arbeiten ruhig,
                              									stetig, ohne Stösse, fast geräuschlos und mit gutem Wirkungsgrad; die Abnutzung von
                              									Maschine und Bohrer ist gering. Infolge des hohen Wasserdruckes, am Simplon 100 at,
                              									fallen die Dimensionen klein aus, daraus folgt eine leichte Handhabung.
                           Die Brandt'sche Gesteinsbohrmaschine ist im Laufe der
                              									Jahre durch die Firma Gebrüder Sulzer sehr
                              									vervollkommnet worden; die Konstruktion ist vereinfacht, die Zahl der beweglichen
                              									Teile verringert.
                           Bei den Arbeiten im Stollen werden gleichzeitig mehrere solche Bohrmaschinen auf
                              									einer Spreize in Röhrenform befestigt, der sogen. Spannsäule, aus der ebenfalls ein
                              									hydraulischer Presskolben vorkriecht, der sich mit zermalmender Kraft gegen die
                              									Stollenwände klemmt.
                           In Verbindung mit den Gesteinsbohrmaschinen ist von einem interessanten Detail des
                              									Bauprojektes zu berichten. Man wollte von dem Dorfe Bérisal, das senkrecht über der
                              									Tunnelröhre, 5 km vom Nordportal aus gerechnet, 
                              									in einer Höhe von 700 m über der Tunnelachse liegt, ein Bohrloch nach der
                              									Tunnelsohle abteufen. Am Steinenbach, in einer Höhe von 1800 m ü. M. (das Nordportal
                              									liegt 687 m ü. M.), sollten 100 l Wasser per Sekunde gefasst und in geschlossenen
                              									Röhren zum Bohrloch und durch dasselbe in den Tunnel geleitet werden. Dieses Wasser
                              									hätte dann von selbst die nötige Pressung zum Bohrmaschinenbetrieb gehabt und wäre
                              									wegen seiner niedrigen Temperatur auch zu Kühlzwecken verwendbar gewesen. Man hat
                              									diesen kühnen Gedanken aufgeben müssen, weil kein Tiefbohrunternehmer die Garantie
                              									für das Gelingen des Bohrlochs übernehmen wollte. Die Tunnelbaugesellschaft selbst
                              									wollte in dieser Hinsicht kein Risiko tragen.
                           Bei dem Vortreiben der Sohlstollen arbeiten gleichzeitig drei bis vier Bohrmaschinen,
                              									wobei ein Ingenieur der Bedienungsmannschaft angibt, wo und in welcher Richtung
                              									gebohrt werden soll. In etwa zwei Stunden ist eine hinreichende Anzahl Bohrlöcher
                              									hergestellt, die zur Aufnahme der Dynamitladungen bestimmt sind. Dann müssen die
                              									Bohrmaschinen soweit nach rückwärts transportiert werden, dass sie nicht durch die
                              									losgeschossenen Felsstücke Beschädigung erleiden. Die Arbeiter begeben sich in eine
                              									schützende, seitliche Nische. Nachdem die Schüsse gelöst sind, dauert es etwa eine
                              									Stunde bis der Dynamitrauch sich soweit verzogen hat, dass die Arbeitsstelle wieder
                              									zugänglich ist. Mit dem Wegräumen der losgeschossenen Felsstücke vergehen etwa drei
                              									Stunden, bevor es möglich ist, die Bohrmaschinen wieder „vor Ort“ in
                              									Thätigkeit zu bringen. Das Ganze nennt man sehr bezeichnend eine Attacke; sie
                              									dauert, Bohrzeit und Abräumezeit zusammen, etwa sechs Stunden und man kommt mit ihr
                              									1¼ bis 1½ m im Felsen vorwärts. Dem Projekt des Simplontunnels liegt ein mittlerer
                              									täglicher Stollenfortschritt von 5,85 m zu Grunde, während der erzielte mittlere
                              									tägliche Fortschritt am Gotthardtunnel im günstigsten Monat nur 4,4 m betrug.
                           Nachdem die Bohrzeit durch die Verbesserungen der Bohrmaschinen im Laufe der Zeit so
                              									erheblich abgekürzt worden ist, wäre es natürlich sehr erwünscht, wenn es gelänge
                              									auch die Abräumezeit zu verkürzen. Nach dem Schuss liegt das meiste Gestein gerade
                              									da, wo Platz für eine neue Bohrmaschinenaufstellung geschaffen werden muss. Gelingt
                              									es beim Sprengen die Schuttermassen auf eine viel grössere Länge zu verteilen, so
                              									ist das Geleise bis vor Ort schneller wieder fahrbar zu machen und die Bohrmaschinen
                              									können rascher wieder aufgestellt werden. Dies alles wollte Brandt mit seiner sogen. Schutterkanone erreichen. Im Augenblick des
                              									Schusses sollte aus einem Presskopf ein Gemisch von Presswasser und Pressluft
                              									austreten und die losgeschossenen Gesteinsmassen auf eine grössere Strecke
                              									verteilen. Die von Brandt getroffene Anordnung hat sich
                              									leider nicht bewährt; falls es den fortgesetzten Bemühungen der Ingenieure in Bälde
                              									noch gelingt, eine befriedigende konstruktive Lösung zu finden, so würde der
                              									Unternehmung daraus ein enormer Vorteil erwachsen und der Tunnel vielleicht noch vor
                              									dem kontraktlich festgesetzten Termin vollendet werden.
                           Auch für die Förderung hat sich das Prinzip des Doppeltunnels vorteilhaft erwiesen.
                              
                              									Die Aufgabe, die Ausbruchsmassen zum Tunnel hinaus, die Zimmerungshölzer,
                              									Mauerungsmaterialien, Werkzeuge u.s.w. in den Tunnel hinein zu transportieren, wird
                              									dadurch sehr erleichtert, dass man in Stollen II ein Rangiergeleise legen kann. Zum
                              									Bewegen der Wagen sind nur wenig Zugtiere vorhanden; hauptsächlich wird dies
                              									innerhalb der Arbeitsstrecke durch zwei kleine Lokomotiven bewerkstelligt, die mit
                              									Druckluft betrieben werden und vier bis fünf Wagen ziehen können. Aus einer
                              									Pressluftleitung füllen diese Lokomotiven ihre Luftbehälter mit Luft, die für 1½ bis
                              									2 Stunden ausreicht, von Zeit zu Zeit abwechselnd nach. Damit die Luft, deren
                              									Spannung vor Eintritt in den Motor durch ein Reduktionsventil auf 14 at erniedrigt
                              									wird, sich bei der Expansion nicht so stark abkühlen kann, dass infolge der Kälte
                              									die Maschine entzwei geht, wird ihr Dampf von 14 at beigemischt. Am Beginn der
                              									Arbeitsstrecke steht ein kleiner fahrbarer Dampfkessel, aus dem die kleinen
                              									Lokomotiven ihre Dampfbehälter auffüllen.
                           Neben dem fahrbaren Dampfkessel steht ein fahrbarer Apparat zur
                              									Acetylenerzeugung, der für 600 Flammen a 60 Kerzen ausreicht. Beide Wagen rücken
                              									beim Fortschreiten der Arbeiten mit vor.
                           Der Transport der Wagen in und aus dem Tunnel erfolgt durch Dampflokomotiven, die so
                              									abnorm grosse Kessel haben, dass sie eine Stunde fahren können, ohne dass
                              									nachgeheizt wird. Dadurch wird also die Verschlechterung der Tunnelluft vermieden.
                              									Die Ein- und Ausfahrt erfolgt nur durch Tunnel I; bei der reichlichen Ventilation
                              									hat es keine Bedenken, dass die einfahrenden Personen dem Strom der verbrauchten
                              									Tunnelluft entgegenfahren. Der Verkehr erfolgt nach einem bestimmten Fahrplan, der
                              									streng innegehalten wird. Die Dampflokomotiven fahren bis zum Beginn der
                              									Arbeitsstrecke. Dort befindet sich eine kleine Station, die zur Regelung des
                              									Zugverkehrs mit einer ebensolchen am Portal telephonische Verbindung hat.
                           Infolge der tiefen Lage der Tunnelportale ist die Kraftversorgung eine leichte. Der
                              									Kraftbedarf berechnet sich aus der Zahl der Bohrmaschinen, dem Kraftbedarf der
                              									Ventilatoren, der elektrischen Beleuchtung, Werkstätten u.s.w. Man stand nun vor der
                              									Wahl, entweder die an dem Portal vorbeifliessende Rhone bezw. Diveria zu benutzen
                              
                              									oder Gebirgsbäche 2000 bis 2500 m hoch ü. M. zu fassen und zu den
                              									Installationsplätzen zu leiten, also entweder mit grossen Wassermengen und kleinem
                              									Gefälle, oder mit kleineren Wassermengen und grossem Gefälle zu arbeiten. Man
                              									entschied sich für das erstere, weil dabei der Bau und die Aufsicht der Anlagen
                              									während des Betriebs durch die bequemen Zufahrtstrassen sehr erleichtert wird. Im
                              									Hochgebirge hätte man, so lange Schnee liegt, gar keine Reparaturen ausführen
                              									können, wodurch der Tunnelbau grossen Störungen ausgesetzt gewesen wäre.
                           Die Wasserkraftanlage ist in der Schweizerischen
                                 										Bauzeitung, Jahrgang 1901 und 1902, ausführlich beschrieben. Hier sei in
                              									Kürze folgendes bemerkt. Die Entnahme des Wassers aus der Rhone erfolgt 4 km
                              									oberhalb des Tunnelportals, aus der Diveria 3200 m oberhalb Iselle. Beiderseits wird
                              									das Wasser zunächst in Ablagerungsbassins geklärt, um Geschiebe, Sand und Eis
                              									zurückzuhalten. Auf der Nordseite schliesst sich hieran ein quadratischer
                              									Zuleitungskanal von 1,9 × 1,9 m, der in armiertem Beton, System Hennebique, ausgeführt ist. Derselbe hat 1,2 ‰ Gefälle.
                              									Alle 5 m ist er durch Mauerklötze oder Betonpfeiler unterstützt. Um den durch
                              									Temperaturänderung bewirkten Längsverschiebungen Rechnung zu tragen, haben die
                              									Kanalwände über jeder Unterstützung Fugen, der halbkreisförmige Vorsprung eines
                              
                              									Stückes passt in die entsprechende Vertiefung des nächsten. Die Fugen sind mit
                              									Cement ausgegossen; gehen sie soweit auseinander, dass Wasser durchsickert, so kann
                              									mit frischem Cement leicht nachgeholfen werden. Thatsächlich geht sehr wenig Wasser
                              									verloren. Der Zuleitungskanal endigt in dem „Wasserschloss“, an das sich
                              									einmal die Leerlaufleitung, andererseits die 1497 km lange Druckleitung von 1,6 m
                              
                              									Durchmesser anschliesst.
                           Auf der Südseite war die Anlage eines Zuleitungskanals mit geringem Gefälle wegen
                              									qngünstigen Geländes unmöglich. Dort schliesst sich die Druckleitung direkt an das
                              									Klärbassin an. Es beträgt das Bruttogefälle:
                           
                              
                                 Nordseite
                                 Südseite
                                 
                              
                                 52,15 m
                                 176 m
                                 
                              
                           
                              
                                 Bei einemWasserdurchfluss von
                                 beträgt daseffektive Gefälle
                                 entsprechend
                                 
                                 
                              
                                        5 cbm/Sek.       3      „
                                          44,6 m         49     „
                                 2230 PS1470   „
                                 Nord-seite
                                 
                              
                                        1,4   „       1      „
                                        139    „       158    „
                                 1950   „1580   „
                                 Süd-seite
                                 
                              
                           Nach der Vollendung des Tunnels sind diese Anlagen vielleicht dazu bestimmt,
                              									elektrische Energie zu erzeugen für elektrischen Bahnbetrieb durch den Tunnel,
                              									vorausgesetzt, dass diese Betriebsart für Vollbahnen bis dahin noch so verbessert
                              									wird, dass sie als hinreichend betriebssicher erscheint. Der elektrische Betrieb
                              									hätte den Vorzug, dass der Tunnel nicht ventiliert zu werden braucht. Bei Verwendung
                              									von Dampflokomotiven darf ein 20 km langer Tunnel nicht mehr den wechselnden
                              									atmosphärischen Druckverhältnissen überlassen bleiben. Die aerostatische Ventilation
                              									versagt unter sehr vielen Verhältnissen den 
                              									Dienst. Aller Rauch der durchfahrenden Lokomotiven würde sich im Tunnel
                              									ansammeln. Bei der Verbrennung der Kohle entstehen aber irrespirable Gase. Der
                              									entwickelten Menge nach steht Kohlensäure obenan. Die moderne Hygiene (Pettenkofer) hat nun festgestellt, dass gute Atemluft
                              									höchstens 10‰ Kohlensäure enthalten darf, vorausgesetzt, dass nicht der Mensch die
                              									Quelle der Kohlensäure ist, weil bei der Atmung und Ausdünstung von Menschen Stoffe
                              									entstehen, die ihrer chemischen Natur und ihrer Menge nach unbekannt, sich nur durch
                              
                              									ihre Giftigkeit bemerkbar machen. Während der Gehalt an Kohlensäure in Wohnräumen
                              									deshalb höchstens 1‰ betragen darf, wäre für einen Tunnel immerhin 10 ‰ zulässig.
                              									Dieses Maximum wäre ohne Ventilation sehr bald überschritten. Das Lokomotivpersonal,
                              									das in dieser Luft atmen muss, würde bewusstlos werden, was leicht schwere
                              									Unglücksfälle veranlassen könnte.
                           Beider Anordnung der Installationen musste der Grundsatz festgehalten werden, dass
                              									die zukünftige Bahnanlage nicht von den Installationen berührt werden darf, weil
                              									letztere noch später für den Ausbau des Stollens II dienen müssen. Die
                              									Terrainverhältnisse lagen auf der Nordseite viel günstiger als in dem engen
                              									Diveriathal; auch konnte dort der Installationsplatz durch ein Anschlussgeleise mit
                              									der Station Brig, der Endstation der Rhonethalbahn verbunden werden, während auf der
                              									Südseite die Bahn heute nur bis Domo d'Ossola geht. Die Zufahrtstrecke zum Tunnel
                              									Domo d'Ossola-Iselle ist erst im Bau begriffen.
                           Auf den Installationsplätzen mussten untergebracht werden die Turbinen (Pelton-Räder
                              									mit horizontaler Achse), die Presspumpen und Akkumulatoren, die Luftkompressoren und
                              									Ventilatoren, die Zentrifugalpumpen für die Kühlwasserleitung, die Dynamos für
                              									elektrische Beleuchtung, die Reservedampfanlage, um bei einem Versagen der
                              									Wasserkraftanlage den Bohrbetrieb vor Ort aufrecht erhalten zu können, die
                              									Reparaturwerkstatt und Schmiede, Lagerräume für Cement, Holz, Sand, Dynamit und
                              									Kohle, die Lokomotiv- und Wagenschuppen, Badeeinrichtungen, Wäscherei und
                              									Trocknerei, Wohnhäuser und Wirtschaftslokalitäten für Angestellte und Arbeiter u.
                              									dgl. Die Aufgabe, diese Installationen bei dem beschränkten Raum zweckmässig
                              									unterzubringen, ist von dem schweizerischen Oberst Locher glänzend gelöst worden.
                           Ueber das seitherige Fortschreiten der Richtstollen gibt die graphische Darstellung
                              									Auskunft (Fig. 5), die auf Grund der Monatsausweise
                              									der Jura-Simplonbahn angefertigt ist.
                           Wird es nun gelingen, den Tunnel rechtzeitig zu vollenden? Diese Frage kann mit
                              									Gewissheit heute noch niemand beantworten. Es sind unangenehme Ueberraschungen der
                              									Unternehmung nicht erspart geblieben. Das Gestein auf der italienischen Seite hat
                              									sich als viel härter erwiesen als angenommen. Mehrfach wurden nutzlose Streiks von
                              									gewissenlosen Agitatoren in Scene gesetzt und werden sich vielleicht auch in Zukunft
                              									noch wiederholen. Die grösste Störung ist aber durch einen ausserordentlichen
                              
                              									Wasserzufluss auf der italienischen Seite entstanden, der den ganzen Tunnel in
                              									einen reissenden Gebirgsfluss verwandelte. An einer Stelle, die 4500 m von der
                              									Tunnelmündung entfernt ist, entströmten dem Felsen riesige Wassermengen, die wohl
                              									von einem im Inneren des Berges gelegenen See herrührten. Dieselben haben längere
                              									Zeit die Arbeiten fast vollständig zum Stillstand gebracht. Man hat die
                              									Schwierigkeit dadurch überwunden, dass man alle Bergwasser in Stollen II geleitet
                              									hat, so dass die Erweiterung und Ausmauerung von Stollen I ganz im Trockenen
                              									erfolgt.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 317, S. 426
                              Fig. 5. Fortschritte der Sohlstollen in den Jahren 1899 bis 1901.Massstab: ½ cm = 2½ Monate. ½ cm = 500 m.
                              
                           Da im grossen ganzen auf der Nordseite das Bauprogramm innegehalten worden ist,
                              									während man auf der Südseite infolge der erwähnten Schwierigkeiten erheblich
                              									zurückgeblieben ist, so wird man voraussichtlich dort früher bis zur Mitte gelangen
                              									und dann gezwungen sein, den Stollen nach der italienischen Seite bergab zu treiben.
                              									Dies ist für Entwässerung des Stollens sehr unangenehm.
                           Da für den Weiterbau grossartige Vorbereitungen getroffen sind, gelingt es vielleicht
                              									doch, den Tunnel ohne zu grosse Verspätung zu vollenden.
                           Die Leitung der Bauarbeiten in Iselle lag von Anfang an in den bewährten Händen Brandau's, in Brig stehen seit Brandt's Tode Oberst Locher und Oberingenieur
                              										v. Kager an der Spitze. Die Bearbeitung der
                              
                              									maschinentechnischen Aufgaben liegt in der Hand des Oberingenieurs Huber der Firma Gebrüder
                                 										Sulzer.
                           Wünschen wir dem kühnen Riesenwerk ein glückliches Gelingen!