| Titel: | Bremsung bei Zügen mit Hochgeschwindigkeiten. | 
| Autor: | Hans A. Martens | 
| Fundstelle: | Band 325, Jahrgang 1910, S. 292 | 
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                        Bremsung bei Zügen mit
                           									Hochgeschwindigkeiten.Eine ausführliche
                                 										Darstellung findet sich in dem in Heft 7 dieses Jahrganges besprochenen Buche
                                 										des Verfassers.
                        Von Eisenbahn-Bauinspektor Dr.-Ing. Hans A.
                                 										Martens.
                        Bremsung bei Zügen mit Hochgeschwindigkeiten.
                        
                     
                        
                           Bei gleicher Bremswirkung wachsen die Bremswege bei Erhöhung der
                              									Fahrgeschwindigkeit annähernd mit dem Quadrat der Geschwindigkeiten. Die
                              									Betriebssicherheit, deren wichtigste Stützen die Bremswirkung und das Signalwesen
                              									sind, fordert einen zulässigen Größtwert des Bremsweges, der im wesentlichen von der
                              									Signalfernsichtbarkeit abhängt. Die Sicherung von Gefahrpunkten durch Haltesignale,
                              									deren Stellung dem Zuge auf Strecken mit hohen Fahrgeschwindigkeiten durch
                              									Vorsignale vorbereitend auf möglichst große Entfernung angezeigt werden soll, beruht
                              									auf der Bedingung: Bremsweg aus voller Fahrt größer oder mindestens gleich
                              									Fernsichtbarkeit des Haltesignals. In der Regel ist die Entfernung des Hauptsignals
                              									vom Vorsignal gleich dem Notbremsweg unter der Annahme, daß bei unsichtigem Wetter
                              									die Warnstellung des Vorsignals „Vorbereitung auf Halt am Hauptsignal“ erst
                              									im letzten Augenblick bei Vorbeifahrt am Vorsignal erkannt wird. Diese Entfernung
                              									beginnt in dem Maße, wie die Fahrgeschwindigkeit immer höhere Werte annimmt,
                              									nicht mehr genügenden Schutz zu bieten: Die Notbremswege werden größer als sie, so
                              									daß Ueberfahren des Haltsignals zu befürchten ist, wenn jener ungünstigste Fall des
                              									dichtesten Nebels eintritt. Das nächstliegende Mittel, den Abstand des Vorsignals
                              									vom Hauptsignal zu vergrößern ist das einfachste, führt aber bezüglich des
                              									Fernantriebes mittels Drahtzug zu Schwierigkeiten. Ein Ausweg ist das elektrisch
                              									gesteuerte Vorsignal mit Kohlensäureantrieb, deren große Beschaffungs- und
                              									Unterhaltungskosten sich bei großer Anzahl derartiger Vorsignale wirtschaftlich
                              									ungünstig fühlbar machen müssen. Man versucht daher in den letzten Jahren die
                              									Betriebssicherheit schnellfahrender Züge hauptsächlich auf dreierlei Art zu erhöhen:
                              									durch
                           1. Verbesserung der Fernsichtbarkeit der Signale, insbesondere des Vorsignals.
                           2. Unterstützung der Signale durch besondere Einrichtungen, welche die Annäherung an
                              									ein Signal erkennen lassen oder seine Stellung auf dem Lokomotivführerstand (cab
                              									signal) anzeigen.
                           3. Kräftigere Bremswirkung.
                           
                           Die Bestrebungen zu 1. laufen daraus hinaus, an Stelle der Scheibensignale mit
                              									Wendescheibe am Tiefmast, die schlecht fernsichtbar sind, Flügelsignale einzuführen.
                              									Die Wendescheiben als Hauptsignale werden auf den Bahnen, wo sie bis in die jüngste
                              									Zeit noch bestanden, laufend ausgewechselt gegen Flügelsignale. Flügel-Vorsignale
                              									wenden an: England, Belgien, Holland, Dänemark, Italien, Amerika. Die Ueberlegenheit
                              									des Flügelsignals am Hochmast gegenüber einem Scheibensignal am Tiefmast ist
                              									unbestreitbar. Nur wenige Beobachtungsfahrten auf der Lokomotive zeigen klar, daß
                              									das Flügel-Hauptsignal, das 500 m und mehr gegen das Vorsignal zurückliegt (vom
                              									fahrenden Zuge aus gesehen), auf gerader Strecke in der Regel auf weit größere
                              									Entfernung sichtbar ist als das Scheibenvorsignal; in Haltstellung ist ersteres auf
                              									etwa 1500 bis 2000 m, letzteres auf 300 bis 500 m sichtbar. Selbst bei leicht
                              									düsigem Wetter ist das Hauptsignal noch auf rund 1000 m zu sichten, während das
                              									wegen seiner Tieflage in dichteren Nebelschichten befindliche Vorsignal mit meist
                              									dunklem Hintergrund kaum auf 200 m sichtbar wird. Die Verwaltungen, die noch immer
                              									zäh festhalten am Scheiben-Vorsignal – deutsche Eisenbahnen, österreichische und
                              									schweizerische Eisenbahnen – gehen des großen Vorzuges der Fernsichtbarkeit eines
                              									Flügel-Vorsignals verlustig, zu dem überzugehen es nicht allzu schwierig ist. Der
                              									oft erhobene Einwand, daß Haupt- und Vorsignal dann nicht in den Tagsignalbildern
                              									ausreichend unterschieden seien, läßt sich durch ein geschickt ausgebildetes
                              										ErkennungszeichenEine Lösung gibt
                                    											z.B. das Flügel-Vorsignal mit Erkennungsscheibe, D. R. G. M. 355601, des
                                    											Verfassers. am Vorsignal entkräften.
                           Die Studienarbeiten, die Signalgebung an den fahrenden Zug aufrechtzuerhalten, selbst
                              									dann noch, wenn alle noch so sinnreich erdachten Signale den Dienst versagen, d. i.
                              									bei unsichtigem Wetter, haben ein ganz neues, für sich abgeschlossenes Gebiet im
                              									Sicherungswesen herausgebildet. Hochgestellte Forderungen haben seit längerer Zeit
                              									dazu verführt, Einrichtungen zu erdenken und zu erproben, bei denen der Grundsatz
                              									größter Einfachheit die allein ständige verläßliche Wirkung verbürgt, verloren
                              									gegangen ist. Am einfachsten erschienen Sichtwände längs der Strecke, in bestimmter
                              									Entfernung vor den Signalen aufgestellt, die als Signalankündiger dienen. Ihre
                              									Brauchbarkeit hängt allein von einer genügenden Längenausbildung ab, um auch bei den
                              									höchsten Fahrgeschwindigkeiten ausreichende Sichtlänge (3 bis 5 Sek.) für den
                              									Lokomotivführer zu bieten, damit ein Uebersehen bei üblicher Aufmerksamkeit in der
                              									Streckenbeobachtung so gut wie ausgeschlossen erscheint. Als geschickte Form einer
                              									Sichtwand möchte Verfasser den Signalankündiger bezeichnen, den er auf holländischen
                              									Bahnen zu beobachten Gelegenheit hatte. Die Sichtwand ist in drei Teile zerlegt, die
                              									in kurzen Abständen einander folgen. Die Flächen der Wand sind weiß gestrichen, zur
                              									Wagerechten geneigt und schräg ansteigend angeordnet, so daß die mittlere Fläche
                              									etwa in Augenhöhe des Lokomotivführers liegen mag.
                           Von größter Bedeutung für die Betriebssicherheit bleibt jedoch die Bremswirkung des
                              									Zuges. Seit Jahren richten sich die bremstechnischen Arbeiten darauf, den Bremsweg
                              									auch bei Hochgeschwindigkeiten – darunter Geschwindigkeiten von 100 km/Std. und mehr
                              									verstanden – in den Grenzen der jetzt üblichen Bremswege aus Fahrgeschwindigkeiten
                              									von 80 bis 90 km/Std. zu halten. Es soll nachstehend untersucht werden, welches das zu
                              									erstrebende Ziel der Bremstechnik ist und mit welchen Mitteln es erreicht werden
                              									kann. Vorauszuschicken ist, daß auch die Verbesserung der Bremswirkung geleitet
                              									sein muß von dem Streben, die Bauart der Bremse nicht vielteiliger zu
                              									machen.
                           Die Betrachtung wird zweckmäßig ihren Ausgang nehmen bei den jetzigen
                              									Geschwindigkeitsverhältnissen im Bremsabschnitt. Aus zahlreichen Beobachtungen an
                              									fahrplanmäßigen Zügen leitet Verfasser nachstehende Mittelwerte für die Bremswege
                              									und Bremsverzögerungen ab. Wer sich je mit einer Reihe derartiger Beobachtungen
                              									beschäftigt hat, dem wird die Gleichförmigkeit der
                                 										Zugfahrt, die einen so sprechenden Beweis für die gleichmäßige gute
                              									Schulung und Durchbildung des Lokomotivpersonals führt, nicht entgangen sein:
                              									Anfahr- und Bremsabschnitte gleichen sich in ihren Geschwindigkeitszuständen unter
                              									denselben Bedingungen bezüglich der Strecke, Zugstärke und Lokomotivgattung fast auf
                              									das Genaueste, Dauergeschwindigkeiten unterwegs weisen auf denselben
                              									Streckenabschnitten praktisch belanglose Unterschiede von nur wenigen km/Std. auf. Es
                              									steht daher außer Frage, daß beobachtete Werte – sofern sie den Mittelwert einer
                              									großen Anzahl darstellen – als Festwerte von praktischer Brauchbarkeit, wenn auch
                              									nicht mathematischer Genauigkeit gelten.
                           Bei einer Streckengeschwindigkeit von 85 km/Std. wird ein Bremsweg von 630 bis 560 m bei einer
                              									mittleren Bremsverzögerung von 0,45 bis 0,5 m/Sek.2 von geübten
                              									Führern erreicht. Die Bremszeit beträgt dabei rund 60 Sek. Der mittlere Bremsweg
                              									heutiger Schnellzüge ist aber bei Betriebsbremsung zu 600 m anzunehmen. Die Werte
                              									rechnen vom Ansetzen der Bremse bis zum Zugstillstand. In Wirklichkeit tritt jene
                              									über den ganzen Bremsweg konstant gedachte Verzögerung nicht auf, was aber
                              									bedeutungslos ist für einen Wert, der nur einen Vergleichsmaßstab für die Bremsung
                              									darstellen soll. Unter dieser Bewertung des Verzögerungswertes gelten die einfachen
                              									mechanischen Grundgesetze für die gleichförmig veränderliche Bewegung: Die
                              									Zeit-Geschwindigkeitskurve des Bremsabschnitts ist eine Gerade. Die Formeln
                              									lauten:
                           
                              s=p\,\frac{t^2}{2}=\frac{v^2}{2\,p},
                              
                           
                              t=\frac{v}{p}.
                              
                           s = Bremsweg in m; t =
                              									Bremszeit in Sek; p = Bremsverzögerung in m/Sek.2.
                           Die nachfolgende Zusammenstellung, deren Bremswerte aus
                              										s=\frac{v^2}{2\,p} errechnet sind, gibt einen guten
                              									Ueberblick über die Bremswege bei verschiedenen Verzögerungswerten aus
                              									Geschwindigkeiten von 30 bis 120 km/Std., abgestuft von 10 zu 10 km/Std.
                           Bremswege.
                           
                              
                                 Fahrgeschwin-digkeit in
                                 Bremsverzögerung in m/sec3
                                 
                              
                                 km/Std.
                                 m/Sek.
                                 0,2
                                 0,4
                                 0,5
                                 0,6
                                 0,7
                                 0,8
                                 1,0
                                 1,2
                                 
                              
                                 120
                                 33,33
                                 2770
                                 1380
                                 1110
                                 930
                                 790
                                 690
                                 560
                                 460
                                 
                              
                                 110
                                 30,56
                                 2340
                                 1170
                                 940
                                 780
                                 670
                                 590
                                 470
                                 340
                                 
                              
                                 100
                                 27,78
                                 1930
                                   970
                                 770
                                 640
                                 550
                                 480
                                 390
                                 320
                                 
                              
                                   90
                                  25
                                 1560
                                   780
                                 630
                                 520
                                 450
                                 390
                                 310
                                 260
                                 
                              
                                   80
                                 22,22
                                 1230
                                   620
                                 493
                                 410
                                 350
                                 310
                                 250
                                 210
                                 
                              
                                   70
                                 19,44
                                   940
                                   470
                                 380
                                 310
                                 270
                                 240
                                 190
                                 160
                                 
                              
                                   60
                                 16,67
                                   700
                                   350
                                 280
                                 230
                                 200
                                 170
                                 140
                                 120
                                 
                              
                                   50
                                 13,89
                                   480
                                   240
                                 190
                                 160
                                 140
                                 120
                                 100
                                   80
                                 
                              
                                   40
                                 11,11
                                   310
                                   150
                                 120
                                 100
                                   90
                                   80
                                   60
                                   50
                                 
                              
                                   30
                                   8,33
                                   170
                                     90
                                   70
                                   60
                                   50
                                   40
                                   40
                                   30
                                 
                              
                           Die Befürchtung, den Bahnsteig zu „überfahren“, d.h. nicht an der
                              									vorschriftsmäßigen Stelle den Zug zum Stillstand zu bringen, veranlaßt den weniger
                              									geübten Lokomotivführer, hohe Streckengeschwindigkeiten zunächst durch eine kräftige
                              									Bremsung auf 55 bis 65 km zu ermäßigen, dann die Bremsung wieder aufzuheben, um aus dieser
                              									ermäßigten Geschwindigkeit den Zug mit Sicherheit am Bahnsteig zum Stillstand zu
                              									bringen. Dadurch wächst der Bremsweg auf rund 700 m, während die mittlere
                              									Verzögerung durch das Bremsen in zwei Absätzen auf 0,4 m/Sek.2
                              									sinkt. Bei noch höheren Fahrgeschwindigkeiten wird dies Bremsen in zwei Absätzen –
                              									nicht zu verwechseln mit dem stufenweisen Verstärken der Bremswirkung durch
                              									wiederholten Luftauslaß aus der Hauptbremsleitung bei Luftdruckbremsen – die Regel
                              									werden. Die Bremswege werden bis 800 m steigen und voraussichtlich auch darüber
                              									hinausgehen.
                           Bei Schnellbremsung (Not- oder Gefahrbremsung) betragen die mittleren Verzögerungen
                              									in der Regel 0,7, unter günstigen Umständen 0,8 m/Sek.2.
                              									Die Notbremswege, die in ihrer Länge bei Versuchsfahrten, noch mehr aber bei Zügen
                              									des planmäßigen Dienstes, meist sehr von einander abweichen, sind bei
                              									Geschwindigkeiten von 85 bis 100 km/Std. zwischen 350 und 550 m anzunehmen. Notbremswege
                              									von 700 bis 800 m aus höheren Geschwindigkeiten gehören aber nicht zu den
                              									Seltenheiten unter ungünstigen Witterungsverhältnissen (Reif, Laubfall), und bei
                              									sehr abgenutzten Bremsen.
                           Mit den gleichen Verzögerungswerten (0,5 bis 0,4) würden sich bei 120 km/std.
                              									Betriebsbremswege von 1110 bis 1380 m, Schnellbremswege (Verzögerung 0,8 bis 0,7)
                              									von 700 bis 800 m ergeben. Versuchsfahrten lehren, daß diese Werte mit der normalen
                              										Westinghouse-Bremse meist nicht innegehalten werden
                              									können, sondern bis zu 1000 m ansteigen können. Die neuzeitliche Bremstechnik hat
                              									sich daher die Aufgabe gestellt, durch eine kräftiger wirkende Bremse den Bremsweg
                              									selbst bei Hochgeschwindigkeiten auf den Werten von 500 bis 600 m zu halten. Es sind
                              									sogenannte Schnellbahnbremsen entworfen, gebaut und erprobt worden, die den
                              									gleichbleibenden Bremsdruck verlassen und mit einem veränderlichen Bremsdruck
                              									arbeiten, der gemäß der veränderlichen Reibungsvorzahl zwischen Rad und Bremsklotz
                              									mit abnehmender Fahrgeschwindigkeit ebenfalls sich selbsttätig vermindert. Dadurch
                              									ist es gelungen, mit höherem Anfangsdruck bei Hochgeschwindigkeiten beginnen zu
                              									können, so daß in der Tat auf den Versuchsfahrten eine bessere Bremswirkung erzielt
                              									worden ist. Bei Schnellbremsungen konnten mittlere Verzögerungen von rund 1 m/Sek.2 aus 120 km erreicht werden; die Bremswege sind
                              									gegen die der normalen Westighouse-Bremse um rund 30 v.
                              									H. bei bei den Versuchszügen – wohlverstanden nicht bei Zügen des planmäßigen
                              									Dienstes – ermäßigt worden. Aber es ist trotz mehrjähriger Versuche doch noch nicht
                              									gelungen, stets die gleichen Werte zu erzielen und dabei die Bremsung so verlaufen
                              									zu lassen, daß Zugtrennungen sicher vermieden werden. Die Bauart der Bremse aber ist
                              									erheblich vielteiliger geworden, so daß ihre Beschaffungs- und Unterhaltungskosten
                              									sich nicht unwesentlich vergrößern werden. Auch ist der Beweis der
                              									Betriebstüchtigkeit einer Schnellbahnbremse im Dauerbetriebe noch nicht erbracht
                              									worden, weil die bisherigen Versuche zu einem solchen noch nicht ermutigt haben.
                           Bemerkenswert ist der Höchstwert der Verzögerung, der theoretisch möglich ist. Er
                              									wird durch folgende Ueberlegung ermittelt: Die Verzögerungskraft eines Zuges, dessen
                              									sämtliche Achsen gebremst werden, ergibt sich aus den Gleichungen:
                           Verzögerungskraft = Zugmasse × Verzögerung.
                           
                              P = M . p.
                              
                           Die Verzögerungskraft ist gleich dem Produkt aus Zuggewicht × Reibungswertziffer:
                           
                              P = G. f.
                              
                           Aus beiden Gleichungen folgt, wenn M=\frac{G}{10} gesetzt
                           wird:
                           p = 10 . f.
                           Mit dem äußersten Reibungswert f = 0,24 wird der
                              									Größtwert der möglichen Verzögerung
                           pmax =
                              									2,4 m/Sek.2.
                           Es liegen nun zwei Fragen vor, die bezüglich der Bremswirkung, ganz unbekümmert um
                              									Forderungen des Betriebsdienstes, zu beantworten sind:
                           1. Welche Bremsverzögerungen dürfen mit Rücksicht auf die Reisenden und auf
                              									Materialbeanspruchung der Fahrzeuge und des Oberbaues höchstens angewendet
                              									werden?
                           2. Welche Bremsverzögerungen sind durch eine Bremsbauart zu erreichen, die von der
                              										Westinghouse-Bremse nur wenig abweicht, d.h. nicht
                              									wesentlich vielteiliger ist?
                           Die Behandlung der ersten Frage gibt die erste Grundlage für die Bauart der Bremse.
                              									Dem Verfasser sind keine Abhandlungen in der einschlägigen Fachliteratur bekannt,
                              									die die Einwirkung von Verzögerungskräften auf den Menschen eingehend beleuchten.
                              									Beim Bremsen eines Eisenbahnzuges werden die Reisenden durch Trägheitskräfte
                              									beansprucht, die nach vorwärts in der Fahrtrichtung in einer Größe wirksam werden,
                              									die sich aus dem Produkt Masse × Verzögerung berechnen läßt. Diese Kräfte werden vom
                              									Reisenden subjektiv als Zug nach vorwärts empfunden. Es ist selbstverständlich, daß
                              									die Trägheitskraft eine bestimmte Höchstgrenze nicht überschreiten darf, die um so
                              									niedriger liegen wird, je plötzlicher sie auftritt; denn eine auf einen Stoß nicht
                              									vorbereitete Person kann diesem weniger Widerstand gegen Umstürzen entgegenstellen,
                              									als eine Person, die eine Stoßkraft erwartet oder wenn die Stoßkraft allmählich
                              									anwächst. Das Unvorbereitetsein ist bei den Reisenden vorauszusetzen. Die unbewußt
                              									vom Körper auszuübende Gegenkraft durch Zurücklehnen des Körpers, oder mechanisch
                              									gesprochen durch andere Wirkung des Körpereigengewichts mittels
                              									Schwerpunktverschiebung, kann in solchem Falle nicht schnell genug dem
                              									Verzögerungsdruck das Gleichgewicht halten: Der Mensch strauchelt oder stürzt gar
                              									um. Es muß also, um Verletzungen der Reisenden, die erfahrungsgemäß vor
                              									Haltstationen in großer Anzahl nicht mehr sitzen, sondern stehend sich zum
                              									Aussteigen bereit machen, zu vermeiden, die Entwicklung des Verzögerungsdruckes
                              									allmählich, wenn auch nach Bruchteilen von Sekunden rechnend, vor sich gehen und
                              									darf nur getrieben werden bis zu einem Grenzwert, der wohl als lästiger Gegendruck
                              									empfunden werden mag, aber doch nicht im Stande ist, die Menschen umzuwerfen. Beide Faktoren, die Entwicklungsdauer und der Grenzwert des
                                 										Trägheitsdruckes, gleichbedeutend mit der Verzögerung, stellen also eine
                                 										wichtige Grundlage der Bremsbauart und Wirkung dar.
                           Für die physiologischen Funktionen des Körpers im vorliegenden Fall sind dem
                              									Verfasser weder Versuche noch Zahlenwerte, welche die reziproke Betätigung von
                              									Muskeln und Nerven behandeln, bekannt geworden. Daß diese nicht augenblicklich ist,
                              									wenn ihr Verlauf auch nur nach kleinsten Bruchteilen von Sekunden rechnet, ist
                              									bekannt. Andererseits kann nicht mit Sicherheit darauf gerechnet werden, daß die
                              									Entwicklungsdauer der Verzögerung von Null bis zum zulässigen Höchstwert durch noch
                              									so sinnreich erdachte Bremsapparate in allen Wagen des Zuges der theoretischen
                              									Grundlage genau entsprechen wird. Ein mehr oder weniger plötzliches Einsetzen der
                              									Verzögerung wird also namentlich bei schärferen Bremsungen die Regel bleiben und
                              									daher bei Bemessung des Verzögerungsgrenzwertes in Rücksicht zu ziehen sein. Für Notbremsungen
                              									in Gefahrfällen können natürlich Entwicklungsdauer und Verzögerung höhere Werte
                              									annehmen, da ja ihr Nutzen im Verhältnis zu den etwaigen, doch nur immer gering
                              									bleibenden Verletzungen der Reisenden infolge der hohen Werte bei der Verzögerung
                              									nicht hoch genug bewertet werden kann.
                           Der Verzögerungsdruck ist im Schwerpunkt des menschlichen Körpers angreifend zu
                              									denken, wo er sich mit der senkrecht abwärts wirkenden Schwerkraft zu einer
                              									Mittelkraft zusammensetzt, die um so mehr von der Senkrechten abweicht, je größer
                              									ersterer ist. Trifft diese Mittelkraft außerhalb des von den Füßen eingenommenen
                              									Raumes, so stürzt der Mensch um, falls er sich nicht durch Zurücklegen des Körpers
                              									schützt oder irgendwo gegenstützt; das Zurücklehnen ist soweit angängig, als die
                              									Senkrechtabweichung der Mittelkraft der Reibungswinkel der Stiefelsohlen der Person
                              									am Fußboden nicht überschreitet; diesen kann man nach Skutsch zu 15° schätzen. Dementsprechend wäre eine Größtverzögerung
                              									zulässig, die sich ergibt aus:
                           
                              \mbox{tg }15^{\circ}=\frac{M\,.\,p}{M\,.\,g}
                              
                           p = g .
                              									tg 15° = rd 2,5 m/Sek.2.
                           Es fragt sich nun, ist der dieser Verzögerung entsprechende
                              									Trägheitsdruck, dessen Auftreten fast augenblicklich möglich ist, ohne Gefahr der
                              									Verletzung für die Reisenden zulässig oder liegt der Grenzwert tiefer und wie
                              									bestimmt er sich einwandfrei? Zu bemerken ist noch, daß der eben ermittelte
                              									Höchstwert für die Verzögerung annähernd mit dem übereinstimmt, den überhaupt mit
                              									einer Eisenbahnbremse zu erzeugen möglich ist.
                           Für die weitere Untersuchung soll ein Körpergewicht von 65 kg vorausgesetzt werden,
                              									für das die Massenkräfte die aus nachstehender Tabelle ersichtlichen Werte
                              									annehmen.
                           Die vom Reisenden subjektiv empfundene Wirkung dieser Massenkräfte kann nicht besser
                              									studiert werden, als wenn man am eignen Körper ihren Einfluß auf die eingene
                              									Standfestigkeit und das Wohlbefinden prüft und erprobt. Diese Versuche lassen sich
                              									im fahrenden Zuge systematisch kaum ausführen, da die gewünschten Verzögerungsstufen
                              									in unveränderlicher Größe von beliebiger Dauer nicht erzeugt werden können, die
                              									Versuchsperson vielmehr ständig wechselnden Verzögerungen unterworfen sein würde, so
                              									daß brauchbare Versuchsergebnisse nicht zu erwarten wären. Deshalb wurde die
                              									Wirkung der Massenkräfte an einer eigens zu diesem Zweck gebauten Vorrichtung
                              									beobachtet.
                           
                              
                                 Verzögerunginm/Sek2
                                 Verzögerungsdruck in
                                 Abweichung derMittelkraft vonder
                                    											Senkrechtenin Grad
                                 
                              
                                 kg
                                 BruchteilenvonKörpergewicht
                                 
                              
                                 0,4
                                   2,2
                                 
                                    \frac{1}{29,5}
                                    
                                   2
                                 
                              
                                 0,6
                                   3,9
                                 
                                    \frac{1}{16,7}
                                    
                                   4
                                 
                              
                                 0,8
                                   5,2
                                 
                                    \frac{1}{12,5}
                                    
                                   5
                                 
                              
                                 1,0
                                   6,5
                                 
                                    \frac{1}{10}
                                    
                                   6
                                 
                              
                                 1,2
                                   7,8
                                 
                                    \frac{1}{8,4}
                                    
                                   7
                                 
                              
                                 1,4
                                   9,1
                                 
                                    \frac{1}{7,2}
                                    
                                   8
                                 
                              
                                 1,6
                                 10,4
                                 
                                    \frac{1}{6,3}
                                    
                                   9
                                 
                              
                                 1,8
                                 11,7
                                 
                                    \frac{1}{5,6}
                                    
                                 10
                                 
                              
                                 2,0
                                 13,0
                                 
                                    \frac{1}{5,0}
                                    
                                 11
                                 
                              
                                 2,5
                                 16,3
                                 
                                    \frac{1}{4,0}
                                    
                                 15
                                 
                              
                           Auf einer 1,45 m über dem Fußboden in zwei Böcken gelagerten Welle ist ein
                              									Winkelhebel mit einem 740 mm langen wagerechten mit 370 mm langen senkrechten
                              									Schenkel drehbar angeordnet. Der Hebel ist bezüglich seines Eigengewichts
                              									ausgewuchtet. Auf dem wagerechten Schenkel ist ein Laufgewicht verschiebbar
                              									angeordnet, mittels dessen die Trägheitskräfte nachgeahmt werden. Das untere Ende
                              									des senkrechten Armes legt sich mit einem gerundeten Querstück in Schwerpunkthöhe an
                              									den Körper der Versuchsperson an. Der Winkelhebel ist in der Ruhelage an einer Kette
                              									aufgehängt, die entweder ruckartig ausgelöst oder allmählich nachgelassen werden
                              									kann.
                           
                              
                                 (Schluß folgt.)