| Titel: | Bremsung bei Zügen mit Hochgeschwindigkeiten. | 
| Autor: | Hans A. Martens | 
| Fundstelle: | Band 325, Jahrgang 1910, S. 309 | 
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                        Bremsung bei Zügen mit
                           								Hochgeschwindigkeiten.
                        Von Eisenbahn-Bauinspektor Dr.-Ing. Hans A.
                                 										Martens.
                        (Schluß von S. 295 d. Bd.)
                        Bremsung bei Zügen mit Hochgeschwindigkeiten.
                        
                     
                        
                           Die Versuche wurden nun so ausgeführt, daß die Versuchsperson – an erster Stelle
                              									der Verfasser selbst – in zwangloser Stellung vor der Vorrichtung sich aufstellte,
                              									so daß sie in Schwerpunkthöhe von dem Querstück des senkrechten Winkelarmes, ohne
                              									Druck zu empfinden, leicht berührt wurde. Während einer beliebigen Unterhaltung – um
                              									die Versuchsperson möglichst unbefangen zu halten – wurde dann unerwartet der
                              									Winkelhebel ausgelöst und die Wirkung der in Nachahmung erzeugten Trägheitskraft
                              									beobachtet. Die Versuche, die an einer so verhältnismäßig einfachen Vorrichtung
                              									angestellt wurden, können natürlich die Entwicklungsdauer der Verzögerung nach
                              									Bruchteilen von Sekunden genau nicht berücksichtigen, hatten jedoch ein recht
                              									befriedigendes Ergebnis, indem sie den Zusammenhang zwischen Bremsverzögerung und
                              									dem Verhältnis der Trägheitskraft zum Körpergewicht erkennen ließen, dessen für die
                              									Bemessung der Höchstverzögerung grundlegende Bedeutung sich in Uebereinstimmung an
                              									mehreren Personen zeigte. Von den Versuchswerten seien die nachstehenden als
                              									besonders bemerkenswert genannt.
                           Zu 1, die Wirkung war unmerklich. Zu 2, der Druck wird zwar empfunden, ist aber weder
                              									unangenehm noch gefährlich. Zu 3, der Druck wird bei allmählichem Wachsen leicht
                              									aufgenommen und ausgeglichen. Bei plötzlichem Auftreten kann er schon den
                              									Menschen bei ungünstiger Stellung zu Falle bringen. Obwohl der Druck beginnt
                              									unangenehm empfunden zu werden, ist er doch nicht gefährlich zu nennen. Zu 4, bei
                              									augenblicklicher Wirkung kann Umstürzen eintreten; der ruhende Druck wirkt lästig.
                              									Zu 5, der ruhende Druck wirkt stark belästigend, da er starken Gegendruck zum
                              									Ausgleich erfordert. Bei Augenblickswirkung tritt Fortstoßen ein.
                           
                              
                                 NummerdesVersuchs
                                 Verzögerunginm/Sek2
                                 Verzögerungsdruck in
                                 Abweichung derMittelkraft vonder
                                    											Senkrechten
                                 
                              
                                 kg
                                 BruchteilenvomKörpergewicht
                                 
                              
                                 1
                                   0,23
                                 1,5
                                 
                                    \frac{1}{44,3}
                                    
                                      1° 20'
                                 
                              
                                 2
                                   0,39
                                 2,5
                                 
                                    \frac{1}{26}
                                    
                                      2° 10'
                                 
                              
                                 3
                                   0,54
                                 3,5
                                 
                                    \frac{1}{18,6}
                                    
                                      3° 10'
                                 
                              
                                 4
                                 0,7
                                 4,5
                                 
                                    \frac{1}{14,4}
                                    
                                 4°
                                 
                              
                                 5
                                 1,0
                                 6,5
                                 
                                    \frac{1}{10}
                                    
                                 5°
                                 
                              
                           
                           Die Versuche bestätigen in Uebereinstimmung mit den wirklichen Vorgängen im
                              									Zuge, daß bei einer Verzögerung von 0,7 m/Sek.2 Gefahr und
                              									Gefühl der Unbequemlichkeit für die Reisenden in die Erscheinung zu treten beginnen.
                              									Wenn das Publikum sich an diesen hohen Verzögerungswert gewöhnt hat, und wenn er
                              									namentlich bei Betriebsbremsungen allmählich erreicht wird, so darf mit diesem Wert
                              									bei scharfen Betriebsbremsungen gerechnet werden. Lassen die sonstigen
                              									Betriebsverhältnisse es zu, so sollten Verzögerungen von 0,6 m/Sek.2 die Regel sein. Für Gefahrbremsungen wird der
                              									Höchstwert der Verzögerung von der Forderung abhängig zu machen sein, daß die
                              									Bremsbauart einfach bleibt. Aus der Zusammenstellung der Bremswege ist zu entnehmen,
                              									daß mit den ebengenannten Verzögerungswerten schon recht viel gewonnen ist im
                              									Vergleich zu den heute üblichen Verzögerungen. Hierzu ist zu bemerken, daß die
                              									Bremsprozente in den neuen Technischen Vereinbarungen des Vereins Deutscher
                              									Eisenbahnverwaltungen, nach den Beschlüssen der Vereinsversammlung vom 3. bis 5.
                              									September 1908 zu Amsterdam, unter Voraussetzung eines größten Bremsweges von 700 m
                              									berechnet sind. Dementsprechend wären die Bremsverzögerungen aus
                           
                              
                                 90
                                 km/Std.
                                 rund
                                 0,45
                                 m/Sek.2,
                                 
                              
                                 100
                                 „
                                 „
                                 0,55
                                 „
                                 
                              
                                 110
                                 „
                                 „
                                 0,7
                                 „
                                 
                              
                                 120
                                 „
                                 „
                                 0,8
                                 „
                                 
                              
                           anzunehmen. Ist es angängig, einen Notbremsweg von 700 m
                              									zuzulassen und das Signalwesen demgemäß auszubilden, so dürfte die konstruktive
                              									Ausbildung der Bremse auch für die Einhaltung genannter Verzögerungen bei
                              									Hochgeschwindigkeiten bis zu 120 km/Std. nicht allzu schwierig sein. Betriebssicherer
                              									erscheint es, den Notbremsweg mit Rücksicht auf plötzlich auftretende Gefahrstellen
                              									(Schienenbruch, Dammrutsch) auf rund 500 m herabzudrücken, wozu bei 120 km/Std. wenig mehr
                              									als 1,0 m/Sek.2 Verzögerung nötig ist.
                           Die Beanspruchung des Oberbaues, der Radreifen und Bremsklötze und der Festigkeit der
                              									Fahrzeuge durch hohe Verzögerungsdrucke ist noch keineswegs durch Erfahrungen
                              									geklärt; sie darf jedenfalls nicht außer acht gelassen werden. Auch die sichere
                              									Lagerung größerer Gepäckstücke in den Gepäcknetzen scheint bei deren gegenwärtigen,
                              									schwerlich zu ändernden Form ernstlich bedroht zu sein. Immerhin bedürfte auch diese
                              									Frage eingehender Prüfung.
                           Die vorstehenden Betrachtungen haben zu dem Ergebnis geführt, daß die theoretisch
                              									größtmögliche Verzögerung mit Rücksicht auf die Reisenden nicht angewendet werden
                              									darf; der zulässige Höchstwert ist etwa zwischen 1,0 und 1,2 m/Sek.2 anzunehmen. Die nachfolgenden Ueberlegungen
                              									sollen zeigen, in welcher Weise dieser Wert der Verzögerung erreicht werden
                              									kann.
                           Voraussetzung ist, daß bei Schnellzügen mit Hochgeschwindigkeiten alle laufenden
                              									Achsen Bremsachsen sind.
                           Eine vollkommene Bremsung ist eine solche, bei der die Bremsung augenblicklich mit
                              									Vollwirkung eintritt und der Klotzdruck so groß ist, daß die geringste Vergrößerung
                              									desselben Feststellen der Räder bewirken würde; d.h. die größte Bremsleistung tritt
                              									ein, wenn die infolge des Achsdruckes mögliche abbremsbare Kraft gleich der durch
                              									den Bremsklotzdruck erzeugten abbremsenden Kraft ist.
                           Es sei:
                           
                              
                                 G =
                                 Gesamtraddruck eines Wagens (Eigengewicht).
                                 
                              
                                 Q =
                                 Gesamtbremsdruck an einem Wagen.
                                 
                              
                                 fs =
                                 Wertziffer
                                 für
                                 die
                                 Reibung
                                 zwischen
                                 Rad
                                 und Schiene,
                                 
                              
                                 fk =
                                 „
                                 „
                                 „
                                 „
                                 „
                                 „
                                 u. Bremsklotz,
                                 
                              
                           P = abbremsbare
                              									Gesamtkraft,
                           R = abbremsende Gesamtkraft.
                           Die Bedingung für die vollkommene Bremsung lautet:
                           
                              R = P,
                              
                           fk .
                              										Q = fs . G,
                           woraus
                           
                              Q=\frac{f_s}{f_k}\,.\,G.
                              
                           Die Reibungswertziffern sind aus den Versuchen von Wiehert und Galton zu entnehmen; neuere
                              									Versuche sind bisher nicht bekannt geworden. Wird für fs ein mittlerer Wert von 0,19 angenommen,
                              									so ist der Bremsdruck als eine Abhängige von fk zu ermitteln.
                           Die konstante Verzögerung beträgt 1,9 m/Sek.2.
                           Für den Fall unveränderlichen Bremsdrucks muß dieser so bemessen werden, daß
                              									Schleifen der Räder in keinem Augenblick der Bremsung eintritt. Dies wird
                              									verhindert, wenn der konstante Bremsdruck höchstens den Wert erreicht, der zu
                              									ermitteln ist aus der Gleichung:
                           
                              f_{k_0}\,.\,Q=f_s\,.\,G,
                              
                           
                              Q=\frac{f_s}{f_{k_0}}\,.\,G=\mbox{ konstant}.
                              
                           f_{k_0} ist die Reibungswertziffer im
                              									Zustande der Ruhe zwischen Rad mit Bremsklotz. Um nichtzuverlässigem Arbeiten des
                              									Bremsdruckreglers bei Leitungsbremsen, welches nicht vorschriftsmäßigen, höheren
                              									Leitungsdruck erzeugt, Rechnung zu tragen, ist die Ermäßigung des berechneten
                              									konstanten Bremsdruckes um 10 v. H. zweckmäßig. Dadurch wird dann mit Sicherheit
                              									Schleifen der Räder (Festbremsen) gegen Ende der Bremsung kurz vor dem Stillstand
                              									vermieden.
                           Die Verzögerung ist während des ganzen Bremsweges veränderlich und läßt sich
                              									berechnen aus:
                           
                              Q=\frac{f_s}{f_{k_0}}\,.\,G,
                              
                           
                              p=\frac{R}{M}=\frac{f_k\,.\,Q\,.\,g}{G}=\frac{g}{f_{k_0}}\,.\,f_k\,.\,f_s.
                              
                           Je höher nun die Anfangsgeschwindigkeiten sind, aus denen gebremst wird, um so
                              									schlechter wird die Bremswirkung, da für das im quadratischen Verhältnis der
                              									Geschwindigkeit wachsende Arbeitsvermögen
                              										\left(\frac{M\,v^2}{2}\right) immer nur der gleiche,
                              									konstante Bremsdruck zur Vernichtung verfügbar ist. Die Bremswege werden daher bei
                              									Hochgeschwindigkeiten so groß, daß die Betriebssicherheit nicht mehr gewährleistet
                              									ist. Ueber die Versuchsergebnisse mit den sog. Schnellbahnbremsen wurde weiter oben
                              									berichtet. Die Aufgabe, den Bremsdruck nach der theoretischen Linie für vollkommene
                              									Bremsung selbsttätig abfallen zu lassen, ist ungeheuer schwierig, wenn man bedenkt,
                              									wie vielen Zufälligkeiten der Bremslauf des Zuges ausgesetzt ist. Amerikanische
                              									Fachleute vertreten daher vorzugsweise die Anschauung, durch eine Annäherung an die
                              									theoretisch vollkommene Bremsung die Lösung zu suchen: Die Bremsung wird in zwei
                              									Stufen mit gleichbleibendem Bremsdruck vorgenommen; in der Oberstufe wirkt der
                              									höhere Bremsdruck, der aus den Reibungsverhältnissen der Grenze zu berechnen ist,
                              									während in der Unterstufe der übliche Niederdruck von der Grenze bis zum
                              									Zugstillstand beibehalten wird. Bei Verzichtleistung auf selbsttätigen Druckabfall
                              									an der Grenze wird die konstruktive Ausführung einfacher sein, als wenn der
                              									Druckabfall bei Erreichen der Grenzgeschwindigkeit selbsttätig erfolgen soll. Jedoch
                              									ist die Vornahme der Druckerniedrigung von Hand durch den Lokomotivführer nicht unbedenklich, indem
                              									es der erfahrungsmäßigen Auffassung des Bremsenden widerspricht, eine Verbesserung
                              									der Bremswirkung durch Erniedrigung des Klotzdruckes, d.h. also durch teilweises
                              									Lösen der Bremse einzuleiten. Eher ereignet sich das Umgekehrte: Der Führer sucht
                              									bei zu geringer Bremswirkung den Bremsdruck zu verstärken, wodurch dann das
                              									Schleifen der Räder im unteren Geschwindigkeitsbereich unausbleiblich wäre. Doch
                              									würde der tatsächliche Erfolg einer vorschriftsmäßigen Handhabung der
                              									Zweistufendruckbremse diese selbst bald zur Gewohnheit werden lassen. Auch könnte
                              									eine geschickte Bauart des Führerbremshebels – Umlegen des Hebels zur
                              									Druckermäßigung in der Unterstufe in der gleichen Richtung wie beim Anziehen der
                              									Bremse in der Oberstufe – viel zu jener gewohnheitsmäßigen richtigen Handhabung
                              									beitragen, deren Erlernen ja eigentlich nur anfangs Schwierigkeiten bereiten könnte.
                              									Das Nachlassen des Bremsdruckes wäre natürlich nur möglich unter Zuhilfenahme eines
                              									Geschwindigkeitsmessers, an dem die Stufengrenze abzulesen wäre; letztere liegt
                              									zweckmäßig bei 30 km/Std. nach den Versuchen auf der amerikanischen New
                                 										Jersey-Zentral-Bahn.
                           Der Bremshochdruck für die Oberstufe ergibt sich aus:
                           
                              f_{k_30}\,.\,Q_0=f_s\,.\,G,
                              
                           
                              Q_0=\frac{f_s}{f_{k_30}}=\mbox{ konstant}.
                              
                           Für die Unterstufe bleibt der übliche Bremsdruck:
                           
                              Q_u=\frac{f_s}{f_{k_0}}\,.\,G=\mbox{ konstant.
                              
                           Für die Oberstufe wird die Verzögerung:
                           
                              p_0=\frac{g}{f_{k_30}}\,.\,f_k\,.\,f_s.
                              
                           Für die Unterstufe ist sie, wie schon ermittelt:
                           
                              p_\mu=\frac{g}{f_{k_0}}\,.\,f_k\,.\,f_s.
                              
                           Der Hochdruck kann auf zweierlei Weise erzeugt werden, entweder durch Erhöhung des
                              									Leitungsdruckes oder durch Anwendung von Zusatzbremszylindern, die mit dem normalen
                              									Luftdruck einen zusätzlichen Bremsdruck schaffen. Die erste Art scheint bisher auf
                              									Schwierigkeiten gestoßen zu sein, da die Kupplungsschläuche gegen den hohen Druck
                              									nicht ausreichend stark genug sind. Die zweite Art ist bei den Schnellbahnbremsen
                              									benutzt worden.
                           Die drei Bremsungen lassen sich am besten an Hand der mit ihnen erzielten Bremswege
                              									vergleichen und beurteilen. Nachstehende Zusammenstellung ist mit Hilfe des von KramerElektrische Bahnen und Betriebe, 1906. Kramer. Das Versagen der Straßenbahnbremsen.
                              									abgeleiteten allgemeinen Ausdrucks für einen unendlich kleinen Weg im Bremslauf
                           
                              d\,s=\frac{G}{g}\,\frac{d\,v\,(2\,v_1-d\,v)}{2\,f_k\,.\,Q}
                              
                           berechnet worden.
                           Aus dem Vergleich dieser Werte folgt die Ueberlegenheit der Zweistufendruckbremse
                              									über die Einstufendruckbremse. Da die Bremsdrucke vollwirkend vom ersten Augenblick
                              									des Bremsens angenommen sind, und der Wirkungsgrad des Bremsgestänges nicht
                              									berücksichtigt ist, so müssen alle Werte entsprechend erhöht werden; ein
                              									Gesamtwirkungsgrad von 0,8 darf als zulässig erachtet werden, so daß sich die Werte
                              									der Bremswege im umgekehrten Verhältnis derselben erhöhen. Auch dann gibt die
                              									Zweistufendruckbremse noch Bremswege, die für den Schnellzugsdienst annehmbar
                              									erscheinen, während die normale Bremse zu Bremswegen führt, die betriebsgefährlich
                              									genannt werden müssen, weil ihnen das Signalwesen nicht mehr gerecht zu werden
                              									vermag. Da die Zweistufendruckbremse ohne Zweifel einfachere Bauart als die Bremse
                              									mit selbsttätig ständig abfallendem Bremsdruck aufweisen wird, so darf es als ratsam
                              									hingestellt werden, Bauart und Betrieb der Zweistufendruckbremse eingehenden Studien
                              									zu unterwerfen, um sie vielleicht als neuzeitliche Schnellbahnbremse
                              									auszubilden.
                           
                              
                                 Gesamt-Bremsweg
                                 
                              
                                 aus Fahr-geschwindigkeitin km/Std.
                                 vollkommenerBremsung
                                 in m beiBremsung mit kon-stantem
                                    											Bremsdruck
                                 Zweistufen-Druckbremsung
                                 
                              
                                 120
                                 295
                                 958
                                 510
                                 
                              
                                 110
                                 248
                                 782
                                 420
                                 
                              
                                 100
                                 205
                                 627
                                 340
                                 
                              
                                   90
                                 166
                                 490
                                 269
                                 
                              
                                   80
                                 131
                                 372
                                 209
                                 
                              
                                   70
                                 100
                                 271
                                 157
                                 
                              
                                   60
                                   73
                                 189
                                 115
                                 
                              
                                   50
                                   50
                                 122
                                   81
                                 
                              
                                   40
                                   32
                                   72
                                   55
                                 
                              
                                   30
                                   18
                                   37
                                   37
                                 
                              
                                   20
                                     8
                                   14
                                   14
                                 
                              
                                   10
                                     2
                                     3
                                     3
                                 
                              
                           Ein weiteres Mittel, die Bremsung kräftig zu gestalten, liegt im Sanden der Schienen.
                              									Während man auf die Durchbildung der Bremse ganz außerordentliche Sorgfalt verwendet
                              									und hohe Kosten für den Probebau der geistreich erdachten Bremseinrichtungen sowie
                              									für ihre Erprobung in besonders zusammengestellten Versuchszügen nicht gescheut hat,
                              									ist eine Hilfseinrichtung der Lokomotive fast gänzlich in Vergessenheit geraten,
                              									wodurch man sich ihrer schätzenswerten Unterstützung beim Bremsen begeben hat: Es
                              									ist der Lokomotivsandstreuer. Trotz guter Durchbildung als Preßluft- und
                              									Dampfsandstreuer findet er für gewöhnlich nur selten Anwendung. Die Erfahrung lehrt,
                              									daß andauernde Schienenglätte oder Gefahr im Verzüge sein muß, damit der
                              									Lokomotivführer zum Sander greift. In der Regel wird der Sander beim Bremsen nicht
                              									benutzt. Die kräftige Bremswirkung auf den englischen Bahnen glaubt Verfasser auf
                              									den gewohnheitsmäßigen Gebrauch des Sanders zurückführen zu müssen, da er wiederholt
                              									beobachten konnte, daß wenige Sekunden vor der Betriebsbremsung bei der Einfahrt in
                              									einen Bahnhof gesandet wurde. Dadurch werden die Räder der Wagen auch leicht
                              									gesandet, so daß sich die Reibungswertziffer für alle Zugelemente erhöht. Der
                              									Vorteil ständigen Sandens bringt auch den guten Zustand des Sanders mit sich.
                           Der Gedanke der Einzelsandung jedes Fahrzeugs ist von der Gesellschaft für Adhäsionsapparate in Bern aufgegriffen und in die Tat
                              									umgesetzt worden. Ein an jedem Fahrzeug angebrachter Sandbehälter wird selbsttätig
                              									bei Notbremsung durch die Luftdruckbremse geöffnet, indem die Druckluft ein
                              									Sandauslaßventil mittels eines Kolbens steuert. Der Einzelsander soll auch so
                              									ausgebildet werden, daß er unabhängig von der Luftdruckbremse benutzt werden kann.
                              									Versuche auf der Thunerseebahn und der Bern-Neuenburg-Bahn haben, allerdings bei nur geringen
                              									Fahrgeschwindigkeiten, günstige Ergebnisse gehabt. Bei Bremsungen aus 50 km/Std. mit acht
                              									Wagen zu zwei Achsen, von denen nur fünf mit Sandern ausgerüstet waren, betrugen die
                              									Bremswege bei Schnellbremsung ohne Sandung:
                           125 m; mittlere Bremsverzögerung = 0,77 m/Sek2,
                           bei Schnellbremsung mit Sandung:
                           
                           85 m; mittlere Bremsverzögerung = 1,13 m/Sek.2.
                           Das bedeutet eine Verzögerung des Bremsweges um 32 v. H.
                           Wäre die Verkürzung des Bremsweges auch nur um 25 v. H. erreichbar, so müßte man sie
                              									schon als einen beachtenswerten Erfolg mit einer so verhältnismäßig einfachen
                              									Einrichtung bezeichnen.
                           Für Ueberschlagsrechnungen sind nach Kramer die durch
                              									kräftiges Sanden eintretenden Erhöhungen der Reibungswertziffern anzunehmen wie
                              									folgt:
                           
                              
                                 Schienenbeschaffenheit:
                                 natürlicher Zustand:
                                 mit Sanden:
                                 
                              
                                 trocken
                                 
                                         f
                                    s
                                    
                                         f
                                    k
                                    
                                    3 fs   2 fk
                                 
                              
                                 schlüpfrig
                                 0,5 fs0,56 fk
                                 1,6 fs1,2 fk
                                 
                              
                           Hierbei ist zu bemerken, daß diese Werte aus Versuchen mit geringen
                              									Fahrgeschwindigkeiten gewonnen sind; für hohe Geschwindigkeiten ist die Giltigkeit
                              									der Werte bisher nicht nachgewiesen worden.
                           Es liegt demnach alle Ursache vor, die Zugsandung mehr als bisher zum Gegenstand
                              									eingehender Studien zu machen; auch bei der Erziehung und Unterweisung des
                              									Lokomotivpersonals wird die Wichtigkeit des Sanders für die Bremswirkung mehr zu
                              									betonen sein: Der Sander soll nicht nur im Gefahrfalle, sondern bei allen
                              									Betriebsbremsungen aus hohen Geschwindigkeiten gebraucht werden.
                           Da bei Hochgeschwindigkeiten größere Bremswege unvermeidlich werden, so drängt sich
                              									die Frage auf, ob die richtige Abschätzung der Entfernung für den Bremsweg von 900
                              									bis 1000 m bei Betriebsbremsungen möglich sein wird. Man kann beobachten, daß
                              									eingefahrene Lokomotivführer mit größter Gleichartigkeit die Vorbereitungen zum
                              									Anhalten des Zuges immer an derselben Stelle vor den Bahnhöfen treffen, wobei sie in
                              									der Regel ihre Merkmale in Gestalt von Brücken, Durchlässen, Wärterbuden, Signalen
                              									oder auch bahnfremden, an der Strecke stehenden Gegenständen haben. Es ist
                              									natürlich, daß solche Merkmale auch für das Ansetzen der Bremse aus
                              									Hochgeschwindigkeiten sich herausbilden werden. Schwieriger wird zweifellos das
                              									Zurechtfinden bei unsichtigem Wetter vom Zuge, der mit Hochgeschwindigkeit gefahren
                              									wird, werden. Es wird dann keine bessere und einfachere Unterstützung für den
                              									Lokomotivführer geben, als eine bestimmte Entfernung vor dem Hauptsignal durch ein
                              									auffälliges Zeichen zu kennzeichnen; würde an dieser Stelle eine kräftige
                              									Betriebsbremsung in üblicher Weise einsetzen, so würde der Zug mit Sicherheit vor
                              									dem Signal zum Stillstand gebracht werden. An diesem Bremsmerkzeichen wäre auch mit
                              									der Bremsung zu beginnen, sofern zweideutige oder nicht erkennbare Signale die
                              									Weiterfahrt mit Streckengeschwindigkeit als gefahrvoll erscheinen lassen. Es
                              									kann der eingangs erwähnte Signalankündiger mit dem Bremsmerkzeichen verbunden
                              									werden. Versuche mit diesem vereinigten Signalankündiger und Bremsmerkzeichen sind
                              									empfehlenswert; da die Errichtung der Sichtwand nennenswerte Kosten nicht bereitet,
                              									so sind Versuche um so leichter in größerem Umfange durchzuführen. Die Entfernung
                              									des Merkzeichens vor dem Hauptsignal mag zu 1000 m angenommen werden.
                           Die Erörterungen über die Bremsung bei Zügen mit Hochgeschwindigkeiten lassen sich
                              									zusammenfassen:
                           
                              1. Bremstechnik und Signaltechnik müssen sich gegenseitig
                                 										unterstützen; eine einseitige Anspannung der Forderungen auf dem einen oder
                                 										anderen Gebiet kann dem Fortschritt unter Umständen nur hinderlich sein. Das
                                 										Handinhandarbeiten auf brems- und signaltechnischem Gebiete ist daher durchaus
                                 										notwendig zu einer gedeihlichen Entwicklung der Betriebssicherheit.
                              2. Bei den Haupt- und Vorsignalen ist durch Ausbildung der
                                 										Signalbilder und Wahl des Standorts auf größtmögliche Fernsichtbarkeit
                                 										hinzuwirken.
                              3. Die Scheiben-Vorsignale mit minderwertiger Fernsichtbarkeit
                                 										sind zu ersetzen durch Flügel-Vorsignale, deren Tagsignalbild sich deutlich und
                                 										fernsichtbar vom Tagsignalbild des Flügel-Hauptsignals unterscheiden muß. (Die
                                 										Unterscheidung der Dunkelsignale bietet keine besonderen
                                 										Schwierigkeiten.)
                              4. Es sind Versuche empfehlenswert, auf die Haupt- und
                                 										Vorsignale durch besondere Signalankündiger, die gleichzeitig als
                                 										Bremsmerkzeichen dienen, vorzubereiten.
                              5. Die Verbesserung der Bremswirkung darf die Einfachheit der
                                 										Bremsbauart nicht außer Acht lassen.
                              6. Es erscheint aussichtsvoll, die Zweistufendruckbremsung
                                 										durch Versuche zu einer praktisch brauchbaren Bremsart zu entwickeln.
                              7. Es ist dringend notwendig, die Vorteile der Zugsandung bei
                                 										Verbesserung der Bremswirkung zu beachten. Versuche mit der Einzelsandung der
                                 										Zugelemente sollten den Einfluß auf die Bremswirkung ermitteln.
                              8. Der Höchstwert der Bremsverzögerung ist mit Rücksicht auf
                                 										die Reisenden zu 1–1,2 m/Sek2
                                 										anzunehmen.
                              9. Bei Betriebsbremsungen aus 120 km/Std. werden 900–1000 m, bei Gefahrbremsungen 700
                                 										m Bremsweg zu rechnen sein. Das Signalwesen wird unter Zugrundelegung dieser
                                 										Werte auszubilden sein.