| Titel: | Die Bedeutung der Wasserkräfte für die chemische Industrie. | 
| Fundstelle: | Band 325, Jahrgang 1910, S. 515 | 
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                        Die Bedeutung der Wasserkräfte für die chemische
                           								Industrie.
                        Vortrag gehalten auf der 23. Hauptversammlung des
                           									Vereins deutscher Chemiker in München 19.
                           								Mai 1910 von Prof. Dr. phil. Dr.-Ing. R. Camerer, München.
                        Die Bedeutung der Wasserkräfte für die chemische
                           								Industrie.
                        
                     
                        
                           Königliche Hoheit! Hochansehnliche Versammlung!
                           Lassen Sie mich mit Rücksicht auf den Umfang des vorliegenden Stoffes und mit
                              									Rücksicht auf die Kürze der mir zugemessenen Zeit gleich in den Mittelpunkt unserer
                              									Betrachtungen hineintreten und den Satz aufstellen, daß die Bedeutung der
                              									Wasserkräfte für die chemische Industrie einmal in dem großen Energiebedarf
                              									begründet ist, den wichtige und umfangreiche chemische Prozesse benötigen, dann aber
                              									in einer glücklichen Anpassungsfähigkeit dieser Prozesse an die im Wesen der
                              									Wasserkräfte liegenden Eigenarten und Beschränkungen, die es den Wasserkräften
                              									ermöglicht, ihre Energie billig genug abzugeben, um mit anderen Energiequellen und
                              									auch mit anderen chemischen Verfahren konkurrieren zu können.
                           Was nun den ersten Punkt:
                           
                        
                           1. den Energiebedarf der chemischen
                                 										Industrie
                           betrifft, so sind Sie, meine Herren, davon ja aufs beste
                              									unterrichtet. Ich erinnere nur an die Chromsäure-Industrie, die in Deutschland 25000
                              									PS, an die Ferrosilizium-Industrie, die 40000 PS verbraucht, vor allem aber an
                              									die in größtem Aufschwung befindliche Salpeter-Industrie. Um welche Zahlen es
                              									sich bei letzterer handelt, ergibt sich daraus, daß im Jahre 1906 in Deutschland
                              									rund 600000 t Chilesalpeter im Wert von fast 140 Millionen M eingeführt wurden, von
                              									denen die Landwirtschaft etwa ¾ verbrauchte, daß der deutsche Bedarf 1908 bereits
                              									800000 t betrug und daß dieser Bedarf mit der zunehmenden Bevölkerungsdichte noch
                              									erhebliche Steigerungen erfahren wird, während andererseits die natürlichen
                              									Salpeterlager in Chile – an anderen Orten der Erde ist abbauwürdiger Salpeter bisher
                              									nicht gefunden worden – nach den Angaben der Bad. Anilin-
                                 										und Sodafabrik einer verhältnismäßig raschen, vielleicht schon in 50 Jahren
                              									eintretenden Erschöpfung entgegengehen.
                           Da ist es volkswirtschaftlich vom allergrößten Interesse, Salpeter aus dem Stickstoff
                              									der Luft herzustellen, der mit dem Chilesalpeter an Qualität und Kosten konkurrieren
                              									und preisermäßigend wirken kann.
                           Nun liefern z.B. nach dem Verfahren der Bad. Anilin- und
                                 										Sodafabrik 2 PS im Jahr etwa 1 t Kalksalpeter. Nur den Bedarf Deutschland
                              									zu decken würden somit 1600000 PS benötigt werden und der Weltmarkt würde mehr als das
                              									dreifache brauchen können, von der voraussichtlichen Steigerung in einer späteren
                              									Zukunft ganz abgesehen.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 325, S. 516
                              Fig. 1. Zunahme der Dampf- und der Wasser-Pferdestärken in Preußen, der
                                 										Schweiz und den Vereinigten Staaten von Nordamerika.
                              
                           Es ist freilich nicht ausgeschlossen, daß die fortschreitende Wissenschaft noch
                              									andere Verfahren entdecken wird, die einen geringeren Kraftaufwand erfordern. So
                              									macht man Versuche, die Tatsache, daß Wasserstoff sich mit Stickstoff bei 200 at
                              									Druck und 500° Celsius verbinden, wobei eine 10 v. H. Ausbeute von Ammoniak erfolgt,
                              									für die Industrie zu verwerten. Dabei scheinen sich aber technisch so große
                              									Schwierigkeiten zu ergeben, daß man vorläufig nicht mit diesem Verfahren rechnen
                              									kann.
                           
                        
                           2. Die Energiequellen.
                           Zur Bestreitung des erwähnten, ganz gewaltigen Kraftbedarfs können, wenn uns nicht
                              									die Wissenschaft z.B. im Radium oder in der Umwandlung anderer Elemente neue
                              									Aussichten erschließt, praktisch nur zwei Energiequellen in Frage kommen: die
                              									chemische Energie der Brennstoffe, die in den Wärmekraftmaschinen (Dampfmaschinen
                              									und Verbrennungsmotoren) und die mechanische Energie der Wasserkräfte, die in den
                              									Wasserkraftmaschinen (Wasserturbinen) ausgenutzt wird.
                           Fig. 1 (nach Kammerer,
                              									Berlin) zeigt, in welcher Weise die Verwertung von Brennstoffenergie die der
                              									Wasserkräfte, die früher die allein maßgebende war, durch die Erfindung der
                              									Dampfmaschine überholt hat. Erst in neuester Zeit ist aus den später anzuführenden
                              									Gründen wieder, ein rasches Ansteigen der Wasserkraftausnutzung, besonders in
                              									Ländern, die an Kohle arm, an Wasserfällen reich sind, zu bemerken.
                           Vergleichen wir nun in einer näheren Betrachtung die beiden uns zu Gebote stehenden
                              									Energiequellen, so zeigen sich sowohl physikalisch und technisch als auch
                              									wirtschaftlich die allergrößten Unterschiede.
                           Der Vorrat unseres Erdballs an den wichtigsten Brennstoffen, z.B. an Kohle, geht, da
                              									ihre Erneuerung durch das Pflanzenwachstum viel langsamer geschieht als ihr Abbau,
                              									in absehbarer Zeit, die man auf einige hundert Jahre schätzt, der sicheren
                              									Erschöpfung entgegen.
                           Anders die Wasserkräfte; ihre Energie wird durch die verdunstende Sonnenwärme mit
                              									anschließender Regenbildung stetig erneut. Ja, sie kann
                              									nicht einmal rascher aufgezehrt werden, als dieser Erneuerung entspricht.
                           Dieser Vorteil schließt aber eine Erschwerung ihrer Verwertung ein, die für die
                              									Wärmekraftmaschinen nicht besteht. Die Freiheit in Abbau, Verschickung und
                              									Verwertung der Kohlenlager bringt es nämlich mit sich, daß die Wärmekraftmaschinen
                              									in fast beliebiger Größe und an fast beliebigen Orten aufgestellt werden und daß
                              									sie, was von besonderer Wichtigkeit ist, jeweils zu der
                              									Zeit in Betrieb genommen werden können, in der die Energie auch wirklich gebraucht
                              									wird.
                           Eine solche Freiheit nach Größe, Ort und Zeit besitzen die Wasserkraftmaschinen
                              									nicht. Sie sind nach Größe und Ort an die natürlichen Wasserläufe gebunden und die
                              									nach der Zeit oft ganz bedeutend schwankenden Wassermengen entsprechen im
                              									allgemeinen nicht dem Wechsel des Kraftbedarfs.
                           Die elektrische Energieübertragung war es, welche dieses Gebundensein der
                              									Wasserkräfte nach Größe und Ort in hohem Maße aufgehoben und damit ihrem Ausbau
                              									neuen Aufschwung gegeben hat. Sie ermöglicht die Energie von Wasserkraftmaschinen
                              									mit über 10000 PS, von Anlagen mit über 100000 PS aufzunehmen und an den Ort zu
                              									leiten, wo sie gebraucht wird. Ist eine Kraftübertragung auf weite Entfernung
                              									benötigt, so müssen freilich hohe Stromverluste und große Anlagekosten für die
                              									Fernleitung mit in Kauf genommen werden.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 325, S. 516
                              Fig. 2. Niederschlagsmenge in cub-Fuß i. d. Sek. auf die Quadratmeile des
                                 										Passaic-River aus Mead. Water Power.
                              
                           Noch weniger leicht sind aber meistens diejenigen Schwierigkeiten zu überwinden, die
                              									sich aus dem zeitlichen Gebundensein der Wasserkraftmaschinen an die wechselnden
                              									Größen des Wasserabflusses ergeben.
                           Man hat auf die mannigfachste Weise versucht, diesem Uebelstand abzuhelfen. Die
                              									in Frage kommenden Hilfsmittel verlangen aber alle größere oder kleinere
                              									Aufwendungen, und es ist Sache wirtschaftlicher Erwägungen, von Fall zu Fall zu
                              									entscheiden, bis zu welchem Maß sie angewendet werden können.
                           Bevor wir nun diesen wirtschaftlichen Fragen näher treten, dürfte es am Platze
                              									sein,
                           Tabelle 1.
                           
                              
                                 Jahr
                                 
                                    Regenhöhen im Monat
                                    
                                 
                              
                                 Januar
                                 Februar
                                 März
                                 April
                                 Mai
                                 Juni
                                 Juli
                                 August
                                 Septemb.
                                 Oktober
                                 November
                                 Dezember
                                 
                              
                                 1886
                                 4,83
                                 4,61
                                 3,68
                                 3,41
                                 6,10
                                 2,83
                                   3,81
                                 2,55
                                   1,36
                                 2,55
                                   4,92
                                 3,57
                                 
                              
                                 1887
                                 4,45
                                 5,10
                                 2,87
                                 2,53
                                 1,93
                                 6,65
                                   8,82
                                 1,27
                                   2,01
                                 2,14
                                   1,75
                                 5,72
                                 
                              
                                 1888
                                 5,77
                                 4,41
                                 6,68
                                 3,97
                                 6,09
                                 2,80
                                   7,98
                                 7,60
                                   8,06
                                 4,53
                                   4,09
                                 4,33
                                 
                              
                                 1889
                                 6,04
                                 2,41
                                 3,22
                                 6,34
                                 2,85
                                 3,43
                                 14,49
                                 4,49
                                 10,06
                                 3,06
                                 10,16
                                 2,14
                                 
                              
                                 1890
                                 2,69
                                 4,59
                                 6,03
                                 2,58
                                 4,39
                                 4,35
                                   6,14
                                 4,96
                                   4,07
                                 6,00
                                   0,75
                                 4,17
                                 
                              
                                 1891
                                 7,52
                                 4,55
                                 4,24
                                 2,30
                                 2,80
                                 1,86
                                   5,16
                                 5,72
                                   2,25
                                 2,50
                                   2,96
                                 1,73
                                 
                              
                                 1892
                                 5,38
                                 1,35
                                 4,79
                                 7,69
                                 4,92
                                 7,68
                                   3,27
                                 4,39
                                   2,17
                                 0,72
                                   6,84
                                 1,47
                                 
                              
                                 1893
                                 3,87
                                 6,35
                                 3,45
                                 4,59
                                 5,15
                                 3,60
                                   2,25
                                 7,26
                                   3,92
                                 4,59
                                   3,65
                                 3,85
                                 
                              
                           
                        
                           3. die geologischen und technischen
                                 										Grundlagen der Wasserkraftausnutzung
                           an Hand einiger Lichtbilder in raschem Flug in Augenschein zu
                              									nehmen.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 325, S. 517
                              Fig. 3. Wasserstandsbewegungen im Jahre 1900 (Rheingebiet).
                              
                           Die Grundlage für die Berechnung der Wassermenge bildet die sogen. Regenhöhe, d.h.
                              									die Höhe, um die die Erde nach einem Jahr mit Wasser bedeckt wäre, wenn nichts
                              									ablaufen und verdunsten würde. Diese Höhe beträgt in Deutschland im Mittel 660 mm,
                              									wechselt aber mit den Jahreszeiten und ist im Gebirge viel höher – bis 2500 mm – als
                              									im Flachland.
                           Diese Regenhöhen, multipliziert mit dem Niederschlagsgebiet eines Flusses
                              									ergeben, wenn man die Wasserverluste abzieht, die Abflußmenge im Flußlauf. Die
                              									größten Verluste entstehen durch die Verdunstung. Sie beträgt in Deutschland je nach
                              									Bodenbeschaffenheit 300 bis 600 mm, die von der Regenhöhe in Abzug kommen. Ihr
                              									Hauptanteil fällt naturgemäß auf die warme Jahreszeit, während im Winter ein Teil
                              									der Regenhöhe durch Frost im Gebirge zurückgehalten wird. Solche Unterschiede in
                              									monatlicher Regenhöhe und monatlichem Abfluß zeigt deutlich Fig. 2 und Tab 1 des in der Nähe von New-York
                              									befindlichen Passaic-Flusses.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 325, S. 517
                              Fig. 4. Wasserstandsbewegungen im Jahre 1900 (Donaugebiet).
                              
                           Die Fig. 3 und 4
                              									geben Pegelschwankungen, Fig. 5 Abflußmengen nach
                              									der Zeit und lassen den Einfluß der verschiedenen Niederschlagsgebiete erkennen.
                              									Mittelgebirge geben infolge der Schneeschmelze im Frühjahr, Hochgebirge im Sommer
                              									die größte Wasserspende. Eine Zusammenstellung von mittleren Niederwasser- (M. N.
                              									W.), Mittelwasser- (M. W.) und mittleren Hochwassermengen
                           
                           Tabelle 1 a. Abflußmengen in Sek.-l/qkm (nach Weyrauch).
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 325, S. 518
                              Type des Flusses; Fluß; Nebenfluß
                                 										von; Bodenart; Abfluß-Koeffizient; M. N. W.; M. W.; M. H. W.; N. W. : H. W.; N.
                                 										W. : H. W. Mittelwerte; Flachland-Flüsse; Hügelland-Flüsse;
                                 										Mittelgebirgs-Flüsse; Hochgebirgs-Flüsse; Drage; Memel; Hunte; Ferse; Saale;
                                 										Weser bei Hoya; Donau ober der Illermündung; Donau bei Wien; Iller; Oder bei
                                 										Kosel; Nolla bei Thusis; Rhein bei Thusis; Gletscherflächen b. voll.
                                 										Sonnenbestrahlung; mittlere Werte; Netze; Weser; Weichsel; Elbe; Donau; Sand;
                                 										viel Moor; Geschiebe-Mergel durchlässig; Alpenfluß; Wildbach.
                              
                           (M. H. W.) zeigen für verschiedene Flußgebiete nach Weyrauch Tab. la, wobei die Verhältnisse von H. W. zu
                              									N. W. besondere Beachtung verdienen. Der Abflußkoeffizient gibt an, welcher Teil der
                              									Regenhöhe zum Abfluß kommt.
                           Es ist aber nicht die Wassermenge allein, die die Energie ausmacht. Den zweiten
                              									Faktor in dem bekannten die Arbeit definierenden Produkt: Kraft mal Weg bildet das
                              									Gefälle als denjenigen Weg, den das Gewicht des Wassers, d.h. die Kraft, zurücklegen
                              									kann.
                           Die Größe einer Wasserkraft berechnet sich demnach als Produkt aus dem Gewicht der
                              									sekundlichen Wassermenge Q mal dem Gefälle H. Wird das Gewicht in kg, das Gefälle in m gemessen,
                              									so folgt die Leistung in mkg.
                           Meist wird die Wassermenge in cbm zu 1000 kg, die Leistung in PS zu 75 mkg
                              									gerechnet.
                           Es ist dann die absol. Leistung =\frac{1000\,.\,Q\,.\,H}{75} und
                              									die Nutzleistung an der Maschine unter der Annahme und Gesamt- Wirkungsgrades der
                              									Anlage von 75 v. H. Nutzleistung PS = 10 . Qcbm . Hm.
                           Es folgt hieraus, daß eine wesentliche Aufgabe der Wasserkraftausnutzung darin
                              									besteht, das Gefälle am Maschinenhaus zu konzentrieren. Dies geschieht durch
                              									Stauwerke, anschließend dann bei Niederdruckanlagen durch offene Kanäle, bei
                              									Hochdruckanlagen durch Rohrleitungen.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 325, S. 518
                              Fig. 5. Tägliche Abflußmengen im Oestertal in den Jahren 1899 und 1900.
                              a mittlerer täglicher Abfluß 26400
                                 										cbm. b mittlerer täglicher Abfluß 31600 cbm; Tägliche Abflußmenge in cbm.
                              
                           
                              
                                 (Fortsetzung folgt.)