| Titel: | Mathematische Forschung und Technik. | 
| Autor: | E. Jahnke | 
| Fundstelle: | Band 325, Jahrgang 1910, S. 519 | 
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                        Mathematische Forschung und Technik.
                        Von E. Jahnke in
                           									Berlin.Aus der Festrede
                                 										des Verfassers zur Feier des Geburtstages Sr. Majestät des Kaisers und Königs,
                                 										gehalten am 27. Januar 1910 in der Aula der Kgl. Bergakademie
                                 								Berlin.
                        Mathematische Forschung und Technik.
                        
                     
                        
                           Die Beziehungen zwischen mathematischer Forschung und Technik, allgemeiner die
                              									Beziehungen zwischen wissenschaftlicher Forschung und Technik, bilden das Fundament
                              									der Technischen Hochschulen, denen auch die Bergakademien zuzuzählen sind. Die
                              									Technischen Hochschulen sind hervorgegangen aus der Ueberzeugung, daß wahrer
                              									Fortschritt, daß durchgreifende technische Verbesserungen nur durch ernstes Studium
                              									der Naturwissenschaften und Mathematik möglich sind, daß die wissenschaftliche
                              									Forschung die Grundlage aller Industrie und Technik ist.
                           Nun hat das Verhältnis zwischen Mathematik und Technik im Laufe der Jahrhunderte
                              									mannigfache Wandlungen erfahren. Noch Euler umfaßte
                              									nicht bloß das mathematische Wissen seiner Zeit, dessen Grenzen er gewaltig
                              									erweiterte. Wer dem Baseler gerecht werden will, muß auch seiner großen Leistungen
                              									um die wissenschaftliche Technik gedenken. Allerdings, da sich in deutschen Landen
                              									zu jener Zeit erst schwache Ansätze von Technik und Industrie regten, haben seine
                              									Zeitgenossen die Tragweite dieser Untersuchungen nicht erkannt. Ein Menschenalter
                              									später vermag noch das gottbegnadete Genie eines Gauß
                              									Mathematik und Physik, Astronomie und Geodäsie zu umspannen. Aber schon bei ihm
                              									zeigen sich die Anfänge einer Abkehr von technischen Problemen, die in einer
                              									Bevorzugung astronomischer Fragen zum Ausdruck kommt; und diese Abkehr findet ihren
                              									prägnanten Ausdruck in Lagranges Mécanique analytique!
                              									Vollends die späteren Mathematiker haben gerade genug zu tun, das gewaltige Gebäude
                              									auszubauen, das Euler, Gauß und Lagrange aufgeführt haben. Und wie in der Mathematik, so war es auf allen
                              									Gebieten der exakten Wissenschaften. Eine Fülle der merkwürdigsten und
                              									interessantesten Resultate sammelte sich an, neue, bisher ungeahnte Naturkräfte
                              									wurden aufgedeckt, die Grenzen unseres Naturerkennens mehr und mehr erweitert. Das
                              									neunzehnte Jahrhundert steht unter dem Eindruck einer Gigantenfülle anstürmenden
                              									Tatsachenmaterials, wie sie das Menschengeschlecht in geschichtlicher Zeit noch
                              									nicht erlebt hat.
                           Die Folge dieses ins Ungeheure angewachsenen Materials war eine Zersplitterung der
                              									Kräfte, welche die Verständigung der verschiedenen Berufsarten immer schwieriger
                              									machte.
                           Insbesondere bildete sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts zwischen Mathematik
                              									und den Gebieten ihrer Anwendung ein mehr oder minder schroffer Gegensatz heraus. Er
                              									wird verständlich, wenn man bedenkt, wie viele und welche Mannigfaltigkeit von
                              									mathematischen Gebieten in kurzer Frist der Forschung erschlossen wurden, wie viele
                              									Probleme aber noch ihrer Durcharbeitung harrten, so daß zur Bewältigung der
                              									schwierigen analytischen Aufgaben, „die dem neunzehnten Jahrhundert zur Lösung
                                 										anheimfielen“, alle Kräfte herangezogen werden mußten. Es ist begreiflich,
                              									daß man im Jubel über die Schönheiten der neu entdeckten mathematischen Provinzen
                              									vielfach die Grenzen des Erlaubten überschritt und, nach immer weiteren Schönheiten
                              									forschend, die Anwendungen auf die Praxis stark vernachlässigte. Auf der anderen
                              									Seite wurde der Techniker durch die rauhe Wirklichkeit vor Fragen gestellt, die
                              									dringend Beantwortung heischten. Die mathematischen Theorien entsprachen den
                              									tatsächlichen Verhältnissen im allgemeinen nicht. Und so sah er sich auf das
                              									Experiment verwiesen und gewöhnte sich, in ihm allein die Quelle allen technischen
                              									Fortschritts zu erblicken. Eine recht bemerkbare Kluft zwischen mathematischer
                              									Forschung und Technik tat sich auf. Wenigstens was die Analysis betrifft! Und sie
                              									ist ja immer gemeint, wenn es sich um den Gegensatz zwischen Technik und Mathematik
                              									handelt. Denn in den geometrischen Methoden hatte man – wenigstens vom Ende des
                              									achtzehnten Jahrhunderts an – den Zusammenhang mit der Praxis nie aus den Augen
                              									verloren. Die von Monge geschaffene Géométrie
                              									descriptive, die von Poinsot und Chasles, gewissermaßen als Reaktion gegen die
                              									einseitige analytische Richtung, geschaffene geometrische Mechanik und die von Culman als Wissenschaft begründete Graphische Statik
                              									gehören schon seit langem zum Rüstzeug eines jeden Technikers.
                           Endlich war es den Analytikern gelungen, die neuen mathematischen Provinzen zu
                              									durchforschen; die Theorie der elliptischen und Abelschen Funktionen, sowie die allgemeine Funktionentheorie, die Theorie der
                              									Differentialgleichungen und die höhere Algebra waren zu einem gewissen Abschluß
                              									gebracht. Der Sinn für die Anwendungen mathematischer Forschung erwachte wieder.
                              									Verdankt sie doch den Problemen der Praxis nicht bloß ihre Entstehung, sondern auch
                              									Befruchtung mit neuen Ideen, die den Anstoß zur Formulierung neuer Begriffe, zur
                              									Aufstellung neuer Algorithmen gegeben haben. Mit wachsendem Nachdruck trat der
                              									Wunsch hervor, sich den Anforderungen von Physik und Technik zu nähern, und
                              									begegnete sich mit Bestrebungen der modernen Technik, die schon längst auf stärkere
                              									Heranziehung der mathematischen Methoden hindrängten.
                           Demgegenüber machten sich auf technischer Seite Strömungen geltend, die auf eine
                              									Einschränkung der grundlegenden, insbesondere auch der mathematischen Studien
                              									hinzielen. Diese Strömungen entspringen einer Stimmung, aus welcher heraus noch
                              									heute weite Kreise unseres Volkes der Mathematik eine Stellung zuweisen möchten, die
                              									man mit einem modernen Wort als splendid isolation bezeichnen kann.
                           Sicher sind die Tage vorüber, wo es nötig war, Angriffen auf die mathematischen
                              									Studien und insbesondere auf die Analysis ernsthaft zu begegnen, wie sie von dem
                              									Metaphysiker Hamilton und nach ihm von dem Philosophen
                              										Schopenhauer erhoben worden sind. Ebenso wie wir
                              									nicht zu befürchten brauchen, ein zweites Mal so überschwengliche Lobpreisungen der
                              									Mathematik und ihrer Vertreter zu hören wie aus dem Munde des Dichters Novalis. Der Romantiker hält die Mathematiker für
                              									Menschen aus anderem Holze, für die einzig glücklichen Wesen, denen es nicht möglich
                              									ist, einen Schnitzer zu machen: „Reine Mathematik ist Religion.“Vergl. A.
                                       												Pringsheim, Wert und Unwert der Mathematik. Münch. Ak. Ber.
                                    											1904.
                           An diese Vorstellung des Romantikers klingt auch ein WortWie Herr Senator Blaserna die Güte hatte mir mitzuteilen, rührt das Diktum von dem
                                    											Philosophen und Staatsmann Vincenzo Gioberti
                                    											(1801–1852) her und lautet genauer so: „A ogni modo, io reputo beate le
                                       												matematiche, dove i dilettanti non riescono.“ Vergl. Gioberti, Introduz. allo studio della
                                    											filosofia, t. 1 (opere edite e inedite, vol. 1). Brüssel 1844, S.
                                    										6. an, das jüngst der römische Senator Blaserna, der Präsident der Accademia dei Lincei, bei einer Wasserfahrt in
                              									la Bella Venezia zum Fürsten Bülow zitierte:
                              										„Benedette le matematiche, perchè non hanno dilettanti!“, nachdem Fürst Bülow aus Rousseaus
                              									„Confessions“ das auf ein venezianisches Erlebnis bezügliche Wort:
                              										„Lasciate la donna e studiate la matematica“ angeführt hatte.
                           Man kann vielleicht sagen, daß die Kurve, die den Umschwung zur gerechten Würdigung
                              									der Mathematik graphisch veranschaulicht, beständig, wenn auch schwach, ansteigt.
                              									Zum Beweise dafür sei es mir erlaubt, auf die Journalistik zu verweisen. Es ist
                              									heute nicht weiter auffällig, wenn während der Tagung der Deutschen
                              									Naturforscher-Versammlung führende Zeitungen von den Sitzungen der mathematischen
                              									Sektion Notiz nehmen. Witzblätter dürfen es hin und wieder wagen, ihren Lesern
                              									mathematische Scheinbeweise, wie die bekannten Beweise dafür, daß 0 = 1 sei,
                              									vorzusetzen. Bei Gelegenheit der Beratung über die Erbschaftsteuer rechnete ein
                              									Witzblatt unserem Finanzminister die gewaltige Summe heraus, die ihm ein einziger
                              									Pfennig an Zinseszins eingebracht haben würde, wenn er ihn um Christi Geburt zu 4 v.
                              									H. angelegt hätte. Und neuerdings treten große Tageszeitungen in Konkurrenz mit
                              									mathematischen Zeitschriften, indem sie Beweise des sogen. letzten Fermatschen Satzes zum Abdruck bringen, allerdings
                              									Beweise, die sämtlich für diese Welt zu schön, also nach einem Steinerschen Schluß falsch sind. Es ist bemerkenswert,
                              									wie die Vertreter der allerverschiedensten Berufe sich an diese Aufgabe heranwagen.
                              									Unter den Verfassern der Manuskripte, die mir in meiner Eigenschaft als Redakteur
                              									des Archivs der Mathematik und Physik zugegangen sind, finden sich ein Buchhalter,
                              									Postexpeditor, Chemiker, ein Pastor, Bergingenieur, Oberbauinspektor, ein Apotheker,
                              									Assessor, Regierungsrat, Major, Oberstleutnant und sogar ein ehemaliger Minister.
                              									Der Eifer aller dieser Herren, denen sich neuerdings auch das weibliche Geschlecht
                              									zugesellt, wird allerdings erklärlich, wenn man erfährt, daß auf den wirklichen
                              									Beweis der Fermatschen Behauptung ein Preis von 100000
                              									M ausgesetzt ist.Ein richtiger Beweis
                                    											ist auch heute noch nicht erbracht.
                           Wenn man also hiernach wohl sagen darf, daß die frühere starre Ablehnung der
                              									Mathematik von Seiten des großen Publikums einer milden Duldung gewichen ist, so
                              									gibt es unter den Praktikern weite Kreise, die in der Mathematik nichts weiter als
                              									eine Maschine sehen, eine Maschine, die ihn mit den einfachsten Formeln und
                              									Rechenregeln und, wo nur möglich, mit numerischen Tafeln zu versehen hat. Nach der
                              									Ansicht dieser KreiseVergl. Forsyth, Address. Brit Ass. 1897,
                                    										541–549. hat die Mathematik ihre Schuldigkeit getan, wenn sie einen
                              									Packesel der praktischen Wissenschaften abgibt. Diese Auffassung hat sicher insofern
                              									Berechtigung, als der Praktiker Resultate braucht und keine Methoden. Auch läßt sich
                              									nicht bestreiten, daß dem Praktiker durch Zuschärfung der mathematischen Methoden
                              									auf praktische Aufgaben viel Zeit erspart werden kann und muß, wollen wir anders dem
                              										Machschen Gesetz von der Oekonomie geistiger Arbeit
                              									gerecht werden. Und wo dies geschehen kann, sei es durch Rechnungen, die vom
                              									Mathematiker durchgeführt werden müssen, um ein praktisches Resultat
                              									sicherzustellen, sei es durch Umwandlung des Integrals einer Bewegungsgleichung in
                              									eine für die numerische Auswertung bequeme Form, sei es durch Ausbildung von
                              									Approximationsmethoden, die im Minimum an Zeit zu einem praktischen Optimum an
                              									Genauigkeit in den Resultaten führen, in allen solchen Fällen wird auch der
                              									Mathematiker bereit sein, berechtigten Wünschen entgegenzukommen. Es wäre falsch zu
                              									meinen, daß der Praktiker, der von uns die Lösung einer Aufgabe verlangt, uns damit
                              									eine Last auferlege. Im Gegenteil, wir haben uns, nach dem Ausspruch eines der
                              									größten Mathematiker der Gegenwart, Henri
                                 										Poincaré, bei ihm dafür zu bedanken.
                           Man darf aber nicht vom Mathematiker erwarten, daß er seine höchste Aufgabe erfüllt
                              									zu haben glaubt, wenn er den jeweiligen Anforderungen in Physik und Technik gerecht
                              									wird, wenn er den Praktiker mit dem nötigen Rüstzeug und mit Darstellungen versieht,
                              									die geeignet sind, ihn schnell in das besondere Gebiet einzuführen, das ihn
                              									interessiert. Denn die Mathematik ist doch nicht bloß eine gute Dienerin, sie ist
                              									auch eine gute Lehrmeisterin, die dem Ingenieur schon manches unerwartete Resultat
                              									als einfache Schlußfolgerung aus mathematischen Ansätzen geliefert hat, die durch
                              									Aufdeckung der gesetzmäßigen Zusammenhänge zum tieferen Verständnis der Wirklichkeit
                              									wesentlich beigetragen und auf diese Weise zu neuen Erscheinungen geführt hat.
                              										„Wer auf die analytischen Entwicklungen verzichten wollte, würde das
                                 										schärfste und zuverlässigste Werkzeug zur Verarbeitung der Beobachtungstatsachen
                                 										aus der Hand geben“.A. Föppl, Vorlesungen über technische Mechanik.
                                    											Dritter Band: Festigkeitslehre. 2. Aufl., S. VII.
                           Die wunderbare Erscheinung, daß die Krümmung der Erdoberfläche, die eine
                              									Fortpflanzung des Lichtes hindert, für die Ausbreitung der Wellen der drahtlosen
                              									Telegraphie kein Hindernis darstellt, daß diese vielmehr auf der Erdoberfläche von
                              									Europa bis Amerika zu laufen vermögen, findet ihre Erklärung erst durch Betrachtung
                              									der partiellen Differentialgleichungen des Problems. Zwar ist es wohl bekannt, daß
                              									diese Wellen eine viel größere Länge haben als die Lichtwellen. Doch kann diese
                              									Tatsache jene Erscheinung nicht erklären,Vergl.
                                    												H. Poincaré. Sechs Vorträge aus der reinen
                                    											Mathematik und mathematischen Physik. S. 23–31, Leipzig 1910, B. G.
                                    											Teubner. da es doch immer nur auf das Verhältnis der Wellenlänge
                              									zum Krümmungsradius des zu überwindenden Hindernisses ankommt. Erst die
                              									Differentialgleichungen lehren, wie neuerdings Herr SommerfeldSitzungsber.
                                       												Münch. Ak. vom 9. 1. 09. gezeigt hat, daß es sich bei
                              									den Wellen der drahtlosen Telegraphie in der Hauptsache um ein Analogon zu den Hertzschen Draht wellen handelt, indem sich aus den vom
                              									Sender ausgehenden Wellen in größerer Entfernung vorzugsweise der schon von Uller und Zenneck
                              									studierte Typ von Oberflächenwellen ausbildet, so daß die Erde die
                              									Wellenfortpflanzung wesentlich mitbestimmt.
                           Eine solche Unterstützung der Technik durch die mathematische Forschung ist aber nur
                              									dadurch möglich, daß die Mathematik ihren eigenen Zielen, ihren eigenen Aufgaben
                              									nachgegangen ist und nachgeht, unbekümmert um mögliche Verwendbarkeit der Ergebnisse
                              									für die Praxis.
                           Der Utilitarismus ist für den Fortschritt der Wissenschaft weder der beste Anreiz
                              									noch der wirksamste Führer zu gesicherten Resultaten. Häufig – das ist zuzugeben –
                              									ist er der einzig mögliche Führer. Auf diese Weise haben viele Gebiete der
                              									mathematischen Physik und Technik begonnen – ich erinnere nur an die Thermodynamik
                              									–, und ihre Entwicklung hat zu neuen Zweigen der reinen Mathematik den Grund gelegt.
                              									So ist die Theorie der Fourierschen Reihen entstanden,
                              									die auf die Ausbildung der Reihentheorie überhaupt entscheidenden Einfluß ausgeübt
                              									hat. Diese neuen Provinzen der Mathematik haben sich dankbar erwiesen, indem sie die
                              									Quelle, der sie entsprangen, neu belebten und ihre Ergiebigkeit mehrten.
                           Aber vielfach ist der Steg des praktischen Nutzens zu schmal und auch zu
                              									unregelmäßig, als daß er weit führen könnte. Und wenn nicht alle Zeichen trügen, bereitet sich schon
                              									ein Wechsel in den Anschauungen jener Praktiker vor, den Lord Kelvin in die Worte kleidet; „that there is no
                                 										useful mathematical weapon, which an engineer may not learn to use.“
                              									Rankine,Preface
                                       												to Applied Mechanics, London 1898, Ch. Griff in and Co. 15.
                                       											Aufl. dem das Verdienst gebührt, das Interesse für
                              									theoretische Behandlung technischer Probleme auch in England geweckt zu haben,
                              									präzisiert den Unterschied des Ingenieurs vom Mathematiker etwa so: The question for
                              									the Engineer is – what am I to do? And he must decide immediately. For the
                              									Mathematician the question is – what am I to think? And he can take an unlimited
                              									time.
                           Die steigenden Anforderungen, die in der Praxis an den Beruf des Ingenieurs gestellt
                              									werden, zwingen zu einer Vertiefung seiner mathematischen Vorbildung und zu einer
                              									Schulung in der reinen Mathematik, um ihm die erforderliche Sicherheit in ihrer
                              									selbstständigen Anwendung zu geben. Ein Blick in die Handbücher, die er zu Rate
                              									zieht, lehrt, daß ein Techniker von heute ein mathematisches Rüstzeug und ein
                              									mathematisches Wissen besitzen muß, wie man solches – vor noch nicht gar so langer
                              									Zeit – nicht bei allen Berufsmathematikern finden konnte. In diesem Sinne bereitet
                              									sich auch in Nordamerika ein bedeutsamer Umschwung in der Erziehung der Ingenieure
                              										vor.Vergl. Siegmund Müller, Die Technischen Hochschulen in
                                    											Nordamerika. Leipzig 1908. B. G. Teubner.
                           Und in dem Maße, wie dieser Wandel sich vollzieht, wird auch die allgemeine Wertung
                              									des mathematischen Wissens in die Höhe gehen, nach dem Vorgange Frankreichs, wo die
                              									von dem großen Napoleon gegründete Ecole Polytechnique schon längst in weiten
                              									Kreisen des Volkes eine Ahnung von der Bedeutung der mathematischen Forschung
                              									geweckt hat, wobei andererseits zugegeben werden muß, daß die einseitige Betonung
                              									der Mathematik in der Ausbildung der französischen Ingenieure mit Schuld daran ist,
                              									wenn z.B. die Elektrotechnik in Frankreich gegenüber der deutschen stark ins
                              									Hintertreffen geraten ist.
                           Einen schlagenden Beleg für meine Anschauung sehe ich in dem Vorgehen des
                              									Elektrotechnischen Vereins zu Berlin. Von der Erkenntnis ausgehend, daß es
                              									mannigfache Hindernisse zu beseitigen gibt, die sich der Annäherung und
                              									Verständigung zwischen dem Mathematiker und dem Techniker in den Weg stellen, hat er
                              									in den letzten Semestern Mathematiker und mathematisch geschulte Techniker
                              									herangezogen, welche Vorlesungen zur Einführung in die Vektoranalysis und über Maxwells elektromagnetische Theorie gehalten und
                              									Referate über den Stand der Theorie in den einzelnen Gebieten der Elektrotechnik
                              									erstattet haben.In diesem
                                    											Zusammenhang wäre noch auf die von Herrn Kneser
                                    											und mir im Jahre 1901 gegründete Berliner Mathematische Gesellschaft
                                    											hinzuweisen, die den Vorzug genießt, eine ganze Reihe von Technikern zu
                                    											ihren Mitgliedern zu zählen. Und Reiter auf die von mir seit 1908
                                    											herausgegebene Sammlung: Mathematisch-Physikalische Schriften für Ingenieure
                                    											und Studierende. Leipzig, B. G. Teubner.
                           Allerdings wird es auch Sache der Mathematiker sein, eine in neuerer Zeit bemerkbare
                              									Neigung zur Scholastik einzudämmen und, statt sich in formalen Verallgemeinerungen
                              									und in unfruchtbarer Ueberkritik zu ergehen, zu der manchmal ganz vergessen
                              									scheinenden Aufgabe der Mathematik zurückzukehren, konkrete Probleme zu lösen.Vergl. hierzu auch P.
                                       												Stachel, Jahresber. Deutsch. Math. Ver. 17, 363–375.
                                    										1908. Es ist interessant zu beobachten, daß gerade die amerikanischen
                              									Mathematiker, also die Vertreter eines Landes, dem wir nur zu geneigt sind,
                              									ideales Streben abzusprechen, gewissermaßen als Reaktion gegen die nur praktischen
                              									Zielen zugewandte Betätigung ihrer Landsleute, in ihren Zeitschriften zum großen
                              									Teil Gebiete bearbeiten, die von einer möglichen Anwendbarkeit auf konkrete
                              									Probleme, vorläufig wenigstens, noch weltenfern sind.
                           Aus der Geschichte der Technik können wir lernen, daß die Mathematik wirksame Hilfe
                              									nur bieten kann und wird, wenn sie in ihrer systematischen Entwicklung die Grenzen
                              									von Nutzen und Anwendung überschreiten darf, daß sie für eine gedeihliche
                              									Entwicklung frei sein muß von allen Beschränkungen, die ihr ein falsch verstandener
                              									Utilitarismus aufzwingen möchte.
                           Es sei mir gestattet, einige Beispiele zu Hilfe zu rufen, um darzulegen, welche
                              									wichtigen Resultate nur aus der engen Verbindung von Technik und mathematischer
                              									Forschung hervorgehen konnten, und um die Stellung ins rechte Licht zu rücken, die
                              									neben der Technik die Mathematik zu beanspruchen ein volles Anrecht hat, um zu
                              									zeigen, wie unverständig die Mathematiker handeln würden, wollten sie den
                              									praktischen Erfolg als den einzigen Führer für die Wahl und die Ausdehnung ihrer
                              									Untersuchungen akzeptieren.Vergl. auch Forsyth, Brit. Ass. 1897,
                                    									541–549.
                           Die Mathematik ist begonnen worden von Technikern, denn sicherlich, Geometrie ist das
                              									Werk der Feld- und Landmesser. Aber nachdem das geometrische Gebäude, dessen erste
                              									Bausteine aus Babylon und Aegypten stammen, durch Euklid und Apollonias von Pergae eine
                              									klassische Darstellung gefunden hatte, haben die Techniker bis zum Beginn des
                              									siebzehnten Jahrhunderts nicht mehr viel hinzugefügt. Sie haben sich begnügt, aus
                              									dem mathematischen Handwerkskasten das handlichste Werkzeug herauszusuchen, aber
                              									wenig getan, das geliehene Werkzeug zu verfeinern.
                           Die Brennpunktseigenschaften der Kegelschnitte waren den Griechen bereits im vierten
                              									und dritten Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung wohl bekannt, aber sie
                              									blieben an die 2000 Jahre ungenutzt liegen, bis Kepler
                              									in ihnen auf Grund von Beobachtungen die Lösung des uralten Rätsels unseres
                              									Planetensystems fand.
                           Ein weiterer großer Fortschritt war es, als es Newton
                              									gelang, die Planetenbewegung auf die Wirkung von Kräften zurückzuführen, die mit
                              									großer Annäherung einem einfachen Gesetze folgen. Diese mechanische Erklärung gewann
                              									einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, als sie erlaubte, noch eine Reihe von
                              									Erscheinungen, die über die Keplerschen Gesetze
                              									hinausgehen, in Uebereinstimmung mit der Erfahrung vorauszusagen. Und das ist ja das
                              									Kennzeichen eines wahren Fortschritts in der Theorie, wenn er die Richtschnur für
                              									die Auffindung neuer Beobachtungstatsachen abgibt.
                           Ein anderes Resultat mathematischer Forschung, das gleichfalls auf allgemeineres
                              									Verständnis rechnen darf, ist die Entdeckung des Planeten Neptun durch Leverrier, der seinen Rechnungen Beobachtungen über
                              									Störungen der Uranusbahn zugrunde legte. Es war ein Triumph menschlicher
                              									Geisteskraft, als es dem Astronomen Galle gelang, die
                              									Existenz des neuen Planeten nicht weit von dem durch Leverrier vorhergesagten Orte festzustellen.
                           Ebenso waren es scharfsinnige analytische und geometrische Ueberlegungen über die
                              									Eigenschaften der Wellenfläche, die Sir W. R. Hamilton
                              									die Existenz der konischen Refraktion am optisch zweiachsigen Arragonit enthüllten,
                              									bevor ein menschliches Auge die Erscheinung geschaut hatte.
                           
                           Solcher eklatanten Beispiele, wo die mathematische Deduktion zur Auffindung
                              									einer Naturerscheinung geführt hat, gibt es allerdings nicht viele. In den
                              									gewöhnlich auftretenden Fällen liegen die Verhältnisse bei weitem verwickelter.
                              									Meist ist die Empirie vorangegangen, worauf dann die mathematischen Methoden erlaubt
                              									haben, aus dem vorliegenden Erfahrungsmaterial gesetzmäßige Zusammenhänge zu
                              									erschließen. Und darin liegt ja auch die eigentliche Bedeutung des mathematischen
                              									Kalküls für die Technik! Denn natürlich – und das kann nicht oft genug betont werden
                              									– wir können aus der mathematischen Mühle nicht mehr herausholen als wir hineingetan
                              									haben; aber wohl können wir es in einer Form gewinnen, die für die Zwecke unserer
                              									Erkenntnis unendlich viel nützlicher ist.
                           Poncelet ist ein Ingenieur, der, aus der Ecole
                              									Polytechnique hervorgegangen, mit den Machtmitteln der mathematischen Analyse
                              									ausgerüstet war. Er gilt als der eigentliche Schöpfer der heutigen technischen
                              									Mechanik. Der von Coriolis eingeführte Begriff der
                              									mechanischen Arbeit, der in seiner Uebertragung auf alle Energiegrößen eine so
                              									hervorragende Rolle spielt, wurde zuerst von Poncelet
                              									auf konkrete Maschinenprobleme angewandt. Seine Schriften enthalten bereits die
                              									Begriffe der Energiewanderung und Energieaufspeicherung in einem Schwungrade, sowie
                              									eine klare Erkenntnis der Beziehungen zwischen Regulator und Schwungrad. Seine
                              									Theorie der Festigkeit elastischer Körper bildet noch heute die Grundlage zur
                              									Berechnung der mehrfach beanspruchten Maschinenelemente. Daneben hat Poncelet als Mathematiker Gewaltiges geleistet: Unter
                              									den Begründern der synthetischen Geometrie muß sein Name mit an erster Stelle
                              									genannt werden. Nach ihm hat besonders Redtenbacher,
                              									dem ebenfalls eine beträchtliche mathematische Durchbildung zur Seite stand, den
                              									Maschinenbau erheblich gefördert, u.a. durch Behandlung des Problems der
                              									oszillatorischen Bewegung der Lokomotive während der Fahrt. Nach Redtenbacher haben Radinger und andere deutsche Techniker auf diesem Gebiete mit Erfolg
                              									weiter gearbeitet. Und diese spekulativen Forschungen – von denen sich England lange
                              									Zeit ferngehalten hat, weil ihr Erfolg in der Technik nicht unmittelbar in die Augen
                              									sprang – haben inzwischen reiche Früchte getragen und den Ruhm des deutschen
                              									Maschinenbaus begründen helfen.Vergl. K. Heun, Die kinetischen Probleme der
                                    											wissenschaftlichen Technik. Leipzig 1900, B. G. Teubner. – A. Föppl, Die Mechanik im neunzehnten
                                    											Jahrhundert. München 1902, E. Reinhardt.
                           Abbe ist der Typus eines Mannes, bei dem exakte
                              									physikalische Beobachtung mit mathematischer Durchführung der beobachteten
                              									Erscheinungen Hand in Hand geht. Indem er sich mit dem Praktiker Karl Zeiß zusammentat, hat er die Jenenser Werkstätten
                              									geschaffen, die den Bau der optischen Instrumente auf eine neue Basis stellten und
                              									Deutschland unbestritten die führende Rolle auf diesem Gebiete sicherten. Die
                              									Methode, deren sich Abbe und seine Mitarbeiter
                              									bedienten, und die jetzt in Deutschland weite Verbreitung gefunden hat, ist die der
                              									rechnerischen Empirie. Ihr verdankt Deutschland die großen Erfolge in der
                              									wissenschaftlichen Optik. Auf rechnerischer Grundlage allein war es möglich, mit dem
                              									vorhandenen Material die bestmögliche Leistung zu erzielen und neue Anforderungen an
                              									das Material zu formulieren.
                           Aehnlich ist es mit den neueren Methoden der Festigkeitslehre und der Statik der
                              									Baukonstruktionen, wie sie von Castigliano, Mohr und
                              										Müller-Breslau mit so großem Erfolge entwickelt
                              									worden sind. Ihre Begründung finden sie in den Gesetzen der Mechanik, unter denen
                              									das Gesetz der virtuellen Verschiebungen und der Satz von der Formänderungsarbeit
                              									grundlegende Bedeutung beanspruchen.
                           Bei dieser Gelegenheit verdient ein Ergebnis der neuesten historischen ForschungVergl. Eugen
                                       												Meyer-Charlottenburg, Zur Geschichte der Anwendungen der
                                    											Festigkeitslehre im Maschinenbau: Hat Watt sich
                                    											zur Bemessung seiner Maschinenteile der Festigkeitslehre bedient? Beiträge
                                    											zur Geschichte der Technik und Industrie. Jahrbuch des Vereins Deutscher
                                    											Ingenieure. Erster Band. Herausgegeben von C.
                                       												Matschoss. Berlin 1909, J. Springer. S. 108. erwähnt zu
                              									werden, nämlich daß schon James Watt die wichtigsten
                              									Abmessungen der auf Festigkeit beanspruchten Teile seiner Maschinen auf Grund von
                              									Festigkeitsrechnungen gewählt hat.
                           
                              
                                 (Schluß folgt.)