| Titel: | Mathematische Forschung und Technik. | 
| Autor: | E. Jahnke | 
| Fundstelle: | Band 325, Jahrgang 1910, S. 554 | 
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                        Mathematische Forschung und Technik.
                        Von E. Jahnke in
                           								Berlin.
                        (Schluß von S. 522 d. Bd.)
                        Mathematische Forschung und Technik.
                        
                     
                        
                           Was der mathematischen Behandlung von Problemen eine besondere Wichtigkeit
                              									verleiht, ist ihr umfassender Charakter. Eine mathematische Theorie, die über die
                              									Schwingungen eines Pendels unter der Einwirkung einer periodischen Störung Auskunft
                              									gibt, bleibt bestehen, mag der oszillierende Körper eine Panzerplatte oder ein
                              									Wasserstoffatom oder ein Elektron sein, mag die störende Kraft die Welle des
                              									Atlantik oder der elektrische Stoßimpuls sein, der in einer Sekunde Billionen mal
                              									auftrifft. Dabei zeigt sich eine Erscheinung, die zuerst in der Akustik
                              									beobachtet worden ist und von da ihren Namen erhalten hat, die Resonanz.
                              									Wohlbekannt ist der Versuch mit den beiden Stimmgabeln, die auf denselben Ton
                              									abgestimmt sind. Schlage ich die eine an, so wird die andere, falls sie in der Nähe
                              									steht, mitschwingen und anfangen zu tönen. Derselbe fundamentale Gedanke findet sich
                              									in der Mondtheorie wieder, in dem Ausdruck, der die als Evektion bekannte Störung
                              									wiedergibt. Der Grund, weshalb die Metalle in der Sonnenatmosphäre durch Absorption
                              									dunkle Linien im Spektrum geben, ist wieder derselbe. Nach dem Kirchhoffschen Gesetz absorbiert das Gas aus dem Aether
                              									Wellen derselben Periode, die es fähig ist dem Aether mitzuteilen.Vergl. auch Hopkinson, The relation of mathematics to engineering. Nature 50,
                                    											42–46 (1894).
                           Diese Umdeutung einer und derselben mathematischen Aussage auf die Lösung mehrerer
                              									physikalischer und technischer Probleme, die scheinbar nichts miteinander gemein
                              									haben, kommt häufig in den Anwendungen der mathematischen Analyse vor. Fourier ließ sich nicht träumen, daß seine Analysis des
                              									Wärmeproblems gerade das sein würde, was man auch braucht, um festzustellen, wie
                              									schnell Signale durch ein atlantisches Kabel gesandt werden können. Es ergibt sich
                              									dieselbe partielle Differentialgleichung, ob ich nun die Ausbreitung der Wärme in
                              									einem Stabe untersuche, oder nach der Ausbreitung einer elektrischen Störung in
                              									einem Kabel frage. Als das erste Kabel durch den Atlantik gelegt werden sollte, war
                              									es eine eminent praktische Frage zu wissen, wieviel Worte in einer Minute durch ein
                              									solches Kabel geschickt werden können. Ausgehend von der genannten
                              									Differentialgleichung berechnete Lord Kelvin, noch ehe
                              									das Atlantikkabel gelegt war, die Zeit, die ein Signal von einem Ufer bis zum
                              									anderen brauchen, und um wieviel die Intensität des Signals bei der Uebertragung
                              									vermindert würde. Und dieselbe Differentialgleichung liefert auch die Theorie der
                              									Uebertragung telephonischer Meldungen durch Kabel. Diese Theorie lehrt, daß der
                              									Betrag, um den sich die Amplitude der Wellen mit der Entfernung vermindert, zunimmt
                              									mit dem Widerstand, mit der Kapazität und der Frequenz. Schon Heaviside und Silvanus
                                 										Thompson haben darauf hingewiesen, wie sich die Lautübertragung verbessern
                              									ließe, wenn man beachtete, daß die Kapazität der Kabel bei Fortleitung von
                              									Gesprächen auf langen Strecken durch eine absichtlich eingefügte Selbstinduktion
                              									verringert und dadurch die Distanz der Kraftwirkung vergrößert wird. Aber eine
                              									praktische Verwendung dieser Methode ergab sich erst, als Pupin aus der Theorie auch die Abstände abgelesen hatte, in denen
                              									Drahtspulen mit hoher Selbstinduktion anzubringen sind. Die Einschaltung solcher Pupin-Spulen führt nämlich nur dann eine Verminderung
                              									der Dämpfung herbei, wenn der Spulenabstand einen rationalen Bruchteil der
                              									Wellenlänge des über den Wellenleiter fortzupflanzenden Wechselstroms beträgt. Und
                              									die ersten Versuche im großen, die an einem zwischen Berlin und Potsdam verlegten,
                              									32,5 km langen Fernsprechkabel von Siemens & Halske angestellt wurden, haben eine glänzende
                              									Bestätigung der Theorie erbracht.Vergl. J. Dolezalek und A.
                                       												Ebeling, Untersuchungen über telephonische Fernleitungen Pupinschen Systems. Elektrotech. Zeitschr.
                                    											1902, S. 1059 ff. und Archiv Math. u. Phys. (3) 6, 26–35.
                           Die Elektrotechnik überhaupt, dieses gewaltige Gebiet technischen Schaffens, ist
                              									entstanden aus der Wechselwirkung zwischen physikalischer Einsicht, mathematischer
                              									Forschung und technischem Geschick und technischer Tatkraft. So hat die drahtlose
                              									Telegraphie ihren Ursprung in den tiefen mathematischen Forschungen von Maxwell und in den physikalischen Entdeckungen von Heinrich Hertz. Man wende nicht ein, daß Hertz seinerzeit auf die Frage, ob man mit seinen
                              									Wellen telegraphieren könne, ein glattes Nein als Antwort gab. Vom Standpunkte
                              									seiner Zeit hatte er vollkommen recht, denn noch war der Cohärer von Branly nicht entdeckt. Und schließlich mußte das
                              									technische Genie eines Marconi hinzutreten, um jene
                              									Entdeckungen in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen.
                           Ebenso hat die Verwendung des Wechselstroms für die Technik einen erheblichen
                              									mathematischen Apparat im Gefolge gehabt, der sich für das Verständnis der
                              									Erscheinungen notwendig erwies. Und umgekehrt, hat die vermehrte Aufmerksamkeit,
                              									welche den in Frage kommenden Methoden von seiten der Technik geschenkt worden ist,
                              									die Mathematiker zur weiteren Ausbildung dieser Methoden angespornt. Ich begnüge
                              									mich, außer der harmonischen Analyse noch die Methoden der Vektor-Analysis hier
                              									hervorzuheben, deren Siegeszug durch die Elektrodynamik nicht mehr aufzuhalten ist.
                              									Von Mathematikern wie Möbius, Großmann und Hamilton begründet, von Physikern wie Maxwell und Heaviside
                              									weiter ausgebildet, haben die vektoranalytischen Begriffe und Operationen, besonders
                              									durch die Schriften von Föppl, eine wachsende
                              									Verbreitung unter den Technikern gefunden.
                           Ja, selbst die Chemie entnimmt ihre tiefsten Untersuchungen gegenwärtig dem Gebiet
                              									der mathematischen Analyse. In seinem ungemein interessanten Werke „Der Werdegang
                                 										einer Wissenschaft“Akad. Verlagsanstalt
                                    											m. b. H. 1909. spricht Ostwald von
                              									der mathematischen Chemie, die durch die bahnbrechenden Arbeiten von Willard Gibbs auf die gleiche Stufe der Exaktheit und
                              									der Mannigfaltigkeit gehoben worden sei, wie sie die mathematische Physik seit mehr
                              									als einem Jahrhundert eingenommen hat.
                           Diesem Zusammenarbeiten von Wissenschaft und Technik ist es zweifellos zu danken, daß
                              									es der deutschen Industrie gelungen ist, nicht bloß neben der englischen auf dem
                              									Weltmarkt einen ehrenvollen Platz zu erobern, sondern auf mehreren Gebieten, wie der
                              									Elektrotechnik, der metallurgischen und chemischen Technik und in der Wärmetechnik,
                              									den unbestrittenen Vorrang einzunehmen.So wird
                                    											in der Mitteilung Nr. 9 dieses Jahres der Maschinenfabrik Nürnberg-Augsburg
                                    											die führende Stellung Deutschlands im Gasmaschinenbau durch ein schönes
                                    											Diagramm überzeugend veranschaulicht. Danach kommen auf Deutschland 46,5 v.
                                    											H. aller PSe-Großgasmaschinen, während auf
                                    											Amerika, Frankreich, Belgien, Oesterreich und England nur 32,5; 5,4; 4,6;
                                    											2,4;. 2,4 v. H. entfallen.
                           Daneben ist zuzugeben, daß es zu Zeiten Techniker gegeben hat, die allein auf dem
                              									Wege des wissenschaftlichen Experiments zu mancher ihrer Entdeckungen gekommen sind.
                              									Ich erinnere an Watt und Hirn, die ihre Resultate über Kondensation und Ueberhitzung experimentell
                              									gewonnen haben, an Siemens, der auch auf diesem Wege
                              									das Prinzip der Dynamomaschine erkannt hat. Faraday und
                              									die beiden Stephensons standen gleichfalls den Methoden
                              									der mathematischen Analyse fern und schufen sich ihre eigene Formelsprache.
                           Desgleichen darf unbedenklich zugestanden werden, daß es wichtige Gebiete der Technik
                              									gibt, wo das Experiment, das heißt das planmäßige, von wissenschaftlichen
                              									Gesichtspunkten geleitete Experiment einstweilen im Vordergrund steht.
                           Das gilt in erster Linie von dem Teile der Technik, der die Beanspruchung der
                              									technischen Materialien zu untersuchen hat. Das Experiment hat zu entscheiden bei
                              									der Frage, ob eine stählerne Panzergranate von 445 kg Gewicht, die aus der Kruppschen 30,5 cm-Küstenkanone mit 820 m/Sek.
                              									Anfangsgeschwindigkeit verfeuert wird, imstande ist, eine Panzerplatte aus
                              									Schmiedeeisen von 140 cm Dicke zu durchschlagen. In der äußeren wie inneren
                              									Ballistik spielt vorläufig das Experiment, mit richtiger Beurteilung des Fehlers,
                              									die führende Rolle, wenn es auch zurzeit schon möglich ist, aus
                              									Anfangsgeschwindigkeit, Abgangswinkel, Masse und Form des Geschosses die Schußweite
                              									einer Flugbahn zum Beispiel gleich 7773 m bis auf 52 m genau vorher zu
                              									berechnen.
                           Noch heute kennt man kein besseres Verfahren, den Schiffswiderstand, den die
                              									Reibung des Wassers an den Schiffswänden hervorruft, zu bestimmen, als die Versuche
                              									an Modellen in Schleppbassins, Auch die Frage nach der Geschwindigkeit von Schiffen
                              									und der zugehörigen Antriebskraft werden in solchen Modellschleppanstalten
                              									untersucht, mittels einer Methode, die bereits vor 50 Jahren der Engländer Froude vorgeschlagen hat. Aus den experimentell
                              									gefundenen Zahlenwerten ließ mathematische Ueberlegung einfache gesetzmäßige
                              									Zusammenhänge ableiten: Korrespondierende Geschwindigkeiten ähnlicher Körper
                              									verhalten sich wie die Quadratwurzeln aus den linearen Abmessungen. Und: Ist W der Formwiderstand des Modells bei der
                              									Geschwindigkeit v, so hat der ähnliche Schiffskörper
                              									von n mal so großen Abmessungen bei der Geschwindigkeit
                              										v √n den Widerstand
                              										n3
                              									W.
                           Aehnlich liegen die Verhältnisse beim Bergbau, wenn ich von den Hilfswissenschaften
                              									der Maschinen- und Markscheidekunde absehe, die ja des mathematischen Apparats nicht
                              									mehr entraten können. Welcher Wert für die Bruchbelastung eines Förderseils im
                              									gegebenen Fall anzusetzen ist, läßt sich einstweilen nur auf Grund des angesammelten
                              									Erfahrungsmaterials vermuten. Um den Einfluß der Schwingungen eines nach unten
                              									verjüngten Drahtseils auf die Beanspruchung zu beurteilen, um die Frage zu
                              									beantworten, ob den verjüngten Seilen in Verbindung mit Spiralkörben für größere
                              									Teufen, bei elektrisch betriebener Fördermaschine, die Zukunft gehört, um über die
                              									Größe der zulässigen Fördergeschwindigkeit und die Zahl der erforderlichen
                              									Pferdestärken im Einzelfall eine Entscheidung zu treffen, ist man vorläufig auf das
                              									Experiment angewiesen. Immerhin ist es auch hier gelungen, durch Heranziehung der
                              									mathematischen Analyse gesetzmäßige Zusammenhänge aufzudecken. Diese Ansätze gehen
                              									hauptsächlich auf HauerJ. v. Hauer, Die Fördermaschinen
                                       												der Bergwerke. Dritte Aufl. Leipzig 1885, A. Felix. von
                              									der Bergakademie zu Leoben und auf Haton de la
                                 											GoupillièreAnnales des
                                       												Mines (8), I, III, V., inspecteur général des mines in
                              									Paris, zurück. Die Arbeiten dieser Bergleute behandeln unter anderem das Profil der
                              									Fördertrommel bei Seilausgleichung in Schächten, die Abhängigkeit der Dimensionen
                              									des verjüngten Förderseils einer Bobine von Tot- und Nutzlast, die Seilausgleichung
                              									durch veränderliches Bahngefälle bei Förderung auf geneigter Ebene, die
                              									Wirkungsweise einer Spiraltrommel für das Kabel gleichen Widerstandes, das sogen.
                              									logarithmische Kabel. Auch die verschiedenen Typen des statisch wie bautechnisch
                              									interessanten Seilscheibengerüsts sind vielfach durchgerechnet worden.
                           Selbst an dem modernsten Zweige der Schiffahrt, der Motorluftschiffahrt und dem
                              									mechanischen Fluge, kann man sehen, wie in der ganzen Entwicklung je länger je mehr
                              									sorgfältige physikalische und mechanische Ueberlegungen zur Geltung kommen. Graf Zeppelin ebenso wie Herr von
                                 										Parseval haben es als notwendig erkannt, sich mit einem Stabe von
                              									Fachspezialisten zu umgeben. In Göttingen ist eine Modellversuchsstation der
                              									Motorluftschiff-Studiengesellschaft erbaut worden, die ähnliche Zwecke verfolgt, wie
                              									die schon bestehenden Schiffsmodellversuchsanstalten.F. Klein, Die
                                    											Einrichtungen zur Förderung der Luftschiffahrt an der Universität Göttingen.
                                    											Illustrierte aeronautische Mitteilungen. Heft 5, 1909. So ist, um
                              									ein Einzelresultat herauszuheben, die Torpedo- oder Zigarrenform des Lenkballons,
                              									wie sie Renard in seinem Motorballon „La France“
                              									in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts angewandt hat, von ihm durch
                              									Rechnung als die beste gefunden worden, das heißt als diejenige, die der Luft den
                              									geringsten Widerstand entgegensetzt. Eingehende Versuche von Prandtl in Göttingen haben neuerdings das Ergebnis der
                              									Rechnung bestätigt.
                           Und endlich, auch die Schlicksche Erfindung des
                              									Schiffskreisels, sowie die allerneueste Vorführung der Einschienenbahn durch Scherl und Brennan zeigen,
                              									wie zweckmäßig es ist, wenn der Praktiker die Mitarbeit des Mathematikers nicht
                              									verschmäht. Aus den wenigen Mitteilungen, die hierüber bisher an die Oeffentlichkeit
                              									gelangt sind, läßt sich entnehmen, daß der Anteil des mathematisch durchgebildeten
                              									Technikers an der Herstellung des Gyrowagens recht bedeutend gewesen ist. Wird aber
                              									die Notwendigkeit zugestanden, die Ergebnisse mathematischer Forschung in immer
                              									steigendem Maße den Zwecken der Technik dienstbar zu machen, dann kann man wohl
                              									sagen, daß es die Technik unterstützen heißt, wenn man für unsere
                              									Unterrichtsanstalten, insbesondere auch für die Mittelschulen eine stärkere Betonung
                              									der allgemeinen mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung verlangt. Nun ist ja um
                              									das Jahr 1900 ein frischer Zug in die Entwicklung dieser höheren Lehranstalten
                              									dadurch gebracht worden, daß den verschiedenen Typen wie Gymnasium, Realgymnasium
                              									und Oberrealschule Gleichberechtigung zuerkannt worden ist. Indessen kann nicht
                              									geleugnet werden, daß die Reformbewegung über die ersten Anfänge kaum hinausgekommen
                              									ist. Hauptforderung wäre Abkehr von dem System der sogen. allgemeinen Bildung,
                              									Zurückdrängung des humanistischen Bildungsideals aus seiner dominierenden Stellung
                              									und Aufrichtung eines modernen Bildungsideals, das sich zur Aufgabe stellt: den
                              									Schüler in das Verständnis der modernen Geschichte unseres Volkes, in das
                              									Verständnis der Kultur der Gegenwart einzuführen. Und eine solche Reform wird und
                              									muß kommen. Sie wird gebieterisch gefordert durch die Verschiebungen im Kulturbilde
                              									der Gegenwart. Die Zeiten, wo man die Deutschen teils bewundernd, teils mitleidig,
                              									bloß als das Volk der Denker und Dichter preisen durfte, sind glücklicherweise
                              									vorüber. Der beispiellose Aufschwung unseres Handels, unserer Industrie und Technik
                              									hat den Wohlstand unseres Volkes gehoben; immer weitere Volksschichten verlangen
                              									nach Teilnahme an den Errungenschaften der Kultur, nach Bildung auf allen Gebieten
                              									und nicht zuletzt auf dem mathematischen, in der klar ausgesprochenen Absicht,
                              									bessere Lebensbedingungen für sich zu erringen. Und diesem Rufe kann sich die
                              									Schule, können sich insbesondere die Mittelschulen auf die Dauer nicht entziehen. Es
                              									muß endlich einmal aufgeräumt werden mit der humanistischen Schablone, mit der
                              									Meinung einer weltfremden Gelehrsamkeit, die in der Verfolgung praktischer Ziele
                              									eine Herabwürdigung der Wissenschaft sieht, die denen Utilitarismus vorwirft, welche
                              									anstelle der toten Sprachen das Naturerkennen als die vornehmste Aufgabe der
                              									Jugenderziehung anerkannt wissen wollen. Die Griechen und Römer sind selber
                              									ausgeprägte Utilitarier gewesen. Weshalb wollen wir nicht auch endlich den Mut
                              									haben, als Aufgabe der Schule zu proklamieren: Erziehung der Schüler zu modernen
                              									Menschen, die fähig sind zur Mitarbeit an der modernen Kultur?
                           Wir stehen am Beginne einer neuen Zeit, die ihr Gepräge von der Technik erhält, einer
                              									Zeit, die dem Deutschen Museum für Meisterwerke der Wissenschaft und Technik
                              									begeistertes Verständnis entgegenbringt. Neben den klassischen Schönheitsbegriff des
                              									Künstlers stellt sich ein neuer, den Griechen und Römern unbekannter
                              									Schönheitsbegriff, der des Technikers. Neben den herrlichen Madonnen von Fra Filippo Lippi bewundern wir die künstlerische
                              									Arbeit des Technikers in dem Walzwerk zu Rheinhausen öder in der Eisenkonstruktion
                              									des Wertheimschen Warenhauspalastes von Messel.
                              									„Solche Ingenieurwerke bilden einen zwingenden Beweis dafür, daß die
                                 										konstruktive Arbeit im Grunde genommen mit der künstlerischen Tätigkeit weit
                                 										mehr innere Verwandtschaft besitzt als mit der nur wissenschaftlichen“.O. Kammerer, Die
                                    											Technik der Lastenförderung einst und jetzt. München 1907, R. Oldenbourg, S.
                                    											243.
                           Natürlich erwächst hieraus auch für den mathematischen Unterricht die Notwendigkeit
                              									einer Reform im Sinne einer stärkeren Berücksichtigung der Naturwissenschaften und
                              									der Technik.Vergl. F. Klein, Elementarmathematik vom höheren
                                    											Standpunkte aus. Leipzig 1908 und 1909, B. G. Teubner. Der
                              									mathematische Unterricht muß mit der Euklidschen
                              									Methode brechen, insoweit als sie für das Durchschnittsgehirn eines Quartaners als
                              									durchaus unbrauchbar bezeichnet werden muß. Das Ziel des mathematischen Unterrichts
                              									ist eben nicht bloß unter dem Gesichtspunkte der logischen Disziplin zu betrachten;
                              									in den unteren Klassen hat dieser Gesichtspunkt zu Gunsten der Entwicklung des
                              									Anschauungsvermögens zurückzutreten; „bildet doch auch die Anschauung in letzter
                                 										Instanz immer den Keim, aus dem alle großen Fortschritte der Mathematik
                                 										entspringen“.A. Voß, Ueber das Wesen der Mathematik. Leipzig
                                    											1908, B. G. Teubner.
                              									Euklid selber würde vermutlich im höchsten Grade
                              									verwundert sein über den Mißbrauch, den man mit seinen Elementen getrieben hat. Sind sie doch eine Zusammenfassung alles dessen,
                              									was Babylonier, Aegypter und Griechen in jahrtausendelanger Arbeit geschaffen haben,
                              									eine Darstellung, die in ihrer Kürze unübertroffen, in ihrer logischen Schärfe und
                              									Klarheit ein Vorbild für alle Zeiten bleiben wird. Euklids
                                 										Elemente Kindern als Nahrung zumuten, heißt nichts anderes, als Quartaner
                              									in ein mathematisches Kolleg einer Hochschule schicken.
                           Es muß anerkannt werden, daß im mathematischen Unterricht der Gegenwart die
                              									Reformbewegung, dank der energischen Initiative von Felix Klein, lebhaft eingesetzt hat, daß man auf dem Wege ist, die
                              									Ausübung der Euklidschen Methode in den unteren Klassen
                              									der Mittelschulen mehr und mehr zurückzudrängen, daß man bemüht ist, der Anschauung
                              									ihren berechtigten Platz einzuräumen, den Funktionsbegriff stärker heranzuziehen,
                              									die graphische Darstellung und analytische Geometrie ausgiebig zu verwenden und die
                              									Anfänge der Infinitesimalrechnung schon in der Prima vorzutragen, um ein besseres
                              									Verständnis der Naturerscheinungen anzubahnen, um eine Vorstellung von dem
                              									vorzubereiten, was das heroische Zeitalter von Descartes über Newton und Leibniz hin bis zu Laplace
                              									Unvergängliches geschaffen hat.Vergl. W. Wirtinger, Ueber die Entwicklung einiger
                                    											mathematischer Begriffe in neuerer Zeit. Wien 1906. Ich zweifle
                              									nicht, daß eine Reform unserer Mittelschulen im angedeuteten Sinne dazu beitragen
                              									wird, das Interesse an den Arbeiten der idealen und uneigennützigen Forschung weiter
                              									zu steigern.
                           Pflicht der Hochschule aber ist es, nichts zu unterlassen, was dazu beitragen kann,
                              									das harmonische Zusammenwirken mathematischer Forschung mit der Technik zu
                              										fördernVergl. F. Klein, Wissenschaft und Technik. Jahresber.
                                    											D. M. V. 17, 375–382, 1908. und die Ueberzeugung verbreiten zu
                              									helfen, „daß mit der exakten und idealen Forschung, welche unbekümmert um den
                                 										direkten praktischen Nutzen auch den unscheinbarsten Problemen die Antwort
                                 										sucht, zugleich die Quelle versiegt, deren auch noch die so mächtig erblühte
                                 										Technik bedarf“.O. Lummer, Die Ziele der Leuchttechnik. München
                                    											1903, R. Oldenbourg. – Vergl. auch M. Planck,
                                    											Acht Vorlesungen über theoretische Physik, gehalten an der Columbia
                                    											University. Leipzig 1910, S. Hirzel.