| Titel: | DIE KNICKSICHERHEIT VON KOLBENSTANGEN. | 
| Autor: | Otto Mies | 
| Fundstelle: | Band 327, Jahrgang 1912, S. 273 | 
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                        DIE KNICKSICHERHEIT VON
                           								KOLBENSTANGEN.
                        Von Otto Mies,
                           									Charlottenburg.
                        MIES: Knicksicherheit von Kolbenstangen.
                        
                     
                        
                           Inhaltsübersicht.
                           Es wird mit Hilfe eines früher3)
                              									entwickelten Verfahrens die Knicksicherheit von Kolbenstangen bestimmt, welche nicht
                              									nur an den Enden belastet und geführt sind, auf die sich daher die übliche Eulersche Knickformel nicht anwenden läßt. Durch
                              									Nachrechnung ausgeführter Konstruktionen wird gezeigt, daß nach der üblichen
                              									Rechnung die Knicksicherheit im Mittel um das Dreifache überschätzt wird.
                           Den Sicherheitsgrad von Kolbenstangen gegen Knicken pflegt man mit Hilfe der sogen.
                              										Eulerschen Knickformel
                           P_k=\frakfamily{s}\,.\,P=\pi^2\,\frac{E\,J}{l^2}
                              									. . . . . 1)
                           zu berechnenHütte, 21.
                                    											Aufl., I. Bd., S. 918, v. Bach, Die
                                    											Maschinenelemente, 10 Aufl., S. 742., wo bedeuten
                           Pk die
                              									Knickbelastung,
                           P die im normalen Betrieb wirkende
                              									Belastung (Kolbenkraft),
                           \frakfamily{s} den Sicherheitsgrad gegen
                              									Knicken,
                           E den Elastizitätsmodul des
                              									Stangenmaterials,
                           J das äuquatoriale Trägheitsmoment des
                              									Stangenquerschnittes für eine Schwerpunktsachse,
                           l die Stangenlänge, gemessen von der
                              									Mittelebene n des Kolbens bis zur Achse des
                              									Kreuzkopfzapfens.
                           Die angeführte Formel gibt bekanntlich die Größe der Knickbelastung eines Stabes an,
                              									dessen Enden drehbar und in der ursprünglichen Richtung der Stabachse verschieblich
                              									gelagert sind und an dem Druckkräfte nur an den Enden angreifen. Man darf dieselbe
                              									aber nicht ohne weiteres auf Stäbe übertragen, bei denen auch andere als die
                              									Endpunkte gelagert und belastet sind, wie es bei manchen Kolbenstangenkonstruktionen
                              									der Fall ist. An der Richtigkeit der für solche Kolbenstangen berechneten
                              									Sicherheitsgrade wird man also berechtigte Zweifel haben dürfen, Zweifel, in denen
                              									man noch bestärkt wird durch die hohen Werte der Sicherheitsgrade, welche einerseits
                              									die HandbücherHütte, 21. Aufl., I.
                                    											Bd., S. 918, v. Bach, Die Maschinenelemente, 10
                                    											Aufl., S. 742. zur Bestimmung der Kolbenstangendimensionen
                              									empfehlen, und die sich andererseits bei der Nachrechnung ausgeführter
                              									Kolbenstangen mit Hilfe der Eulerschen Formel ergeben.
                              									Zwanzig- bis dreißigfache Knicksicherheit wird empfohlen und ausgeführt, auch da, wo
                              									nicht Biegung oder andere Beanspruchungen für die Dimensionierung der Stange
                              									maßgebend sind, ohne daß unmittelbar einzusehen wäre, warum man gerade hier so hoch
                              									über die sonst im Maschinenbau übliche Sicherheit hinausgehen muß. Die Werte der
                              									üblichen Sicherheitsgrade sind sogar meistens so groß, daß, sollten sie tatsächlich
                              									vorhanden sein, die Knickung im unelastischen Dehnungsbereich der Stange vor sich
                              									gehen müßte, für den jedoch die angeführte Formel ungültig ist. Kurz, es zeigen sich
                              									Unklarheiten und Widersprüche genug, eine genauere Untersuchung der Knickung solcher
                              									Kolbenstangen zu motivieren.
                           Schon früher ist von HugueninG. Huguenin,
                                    											Untersuchung der Knickfestigkeit von Kolbenstangen. Schweizerische
                                    											Bauzeitung 1900, Bd. 35, S. 85. darauf hingewiesen worden, daß
                              									man die genannte Eulersche Formel nicht zur Berechnung
                              									der Kolbenstangen von Tandemmaschinen verwenden darf. Leider fehlt in den
                              									maßgebenden Handbüchern ein Hinweis auf diese Arbeit, so daß dieselbe nur wenig
                              									bekannt geworden zu sein scheint; auch mir kam dieselbe erst nach Abschluß der
                              									vorliegenden Untersuchungen zu Gesicht, welch letztere unter etwas abweichenden
                              									Voraussetzungen und in mehr allgemeiner Weise durchgeführt sind. Das praktische
                              									Ergebnis derselben ist die Feststellung, daß die Sicherheit bei der Berechnung mit
                              									Hilfe der Eulerschen Formel stets ganz erheblich
                              									überschätzt wird, so daß die Fälle nicht selten sind, in denen man statt etwa
                              									zwanzigfacher Sicherheit bei genauerer Rechnung nur fünf- oder sechsfache Sicherheit
                              									feststellt, und daß selbst bei Maschinen von gedrungener Bauart, wie z.B. bei
                              									stehenden Dampfmaschinen oder bei liegenden Maschinen, deren großes Kolbengewicht
                              									einen großen Kolbenstangendurchmesser nötig macht, die Gefahr der Knickung nicht
                              									gerade so weit aus dem Bereich der Möglichkeit gerückt erscheint, als es nach der Berechnung
                              									mit Hilfe der Eulerschen Formel den Anschein hat.
                           1. Um einen Ueberblick über diejenigen Kolbenstangenkonstruktionen zu erlangen,
                              									welche eine genauere Untersuchung erfordern, sollen die gebräuchlichsten
                              									Konstruktionen kurz aufgeführt werden. Dieselben unterscheiden sich mit Hinsicht auf
                              									die Knickung durch Anzahl und Lage der Angriffspunkte der Druckkräfte
                              									(Kolbenkräfte), sowie derjenigen Stangenpunkte, welche in irgend einer Weise
                              									gelagert und geführt sind.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 327, S. 274
                              Fig. 1. Dampfmaschine ohne Kolbenstangenführung.
                              
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 327, S. 274
                              Fig. 2. Stehende Schiffsmaschine mit fester Führung.
                              
                           Auf die Kolbenstange einer Einzylindermaschine, wie sie in
                              										Fig. 1 dargestellt ist, läßt sich natürlich die
                              										Eulersche Formel (Gleichung 1) anwenden, da in bezug
                              									auf Kräftewirkung und Lagerung hier die derselben zugrundeliegenden Voraussetzungen
                              									erfüllt sind. Bei besonders geführten Stangen von Einzylindermaschinen wird die
                              									Führung am hinteren bezw. oberen Ende entweder durch eine feststehende
                              									Führungskonstruktion (Fig. 2), oder bei schweren
                              									liegenden Maschinen durch hin- und hergehenden Schlitten bewirkt (Fig. 3). Für die Berechnung sind beide Konstruktionen
                              									gleichwertig; nur ist bei der ersteren das Verhältnis der in Frage kommenden Längen
                              									der Stangenteile veränderlich, während es bei letzterer konstant ist.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 327, S. 274
                              Fig. 3. Großmaschine mit Schlittenführung.
                              
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 327, S. 274
                              Fig. 4. Tandemgasmaschine mit fester Führung.
                              
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 327, S. 274
                              Fig. 5. Tandemdampfmaschine mit zwei festen Führungen.
                              
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 327, S. 274
                              Fig. 6. Tandemdampfmaschine mit Schlittenführung.
                              
                           Bei Kolbenstangen von Tandemmaschinen, welche zwei Kolben
                              									tragen, wird vielfach für nicht allzuschwere Maschinen nur eine feststehende Führung
                              									zwischen den beiden. Kolben ausgeführt, während der hintere Kolben sich am
                              									Stangenende befindet (Fig. 4). Nur eine Führung am
                              									hinteren Ende der Stange wird bei der heute üblichen Größe der Kolbenkräfte und
                              									Kolbengewichte wohl nicht mehr ausgeführt, weil die Durchbiegungen der Stange zu
                              									groß werden. Genügt eine einzige Führung nicht, so führt man die Stange sowohl
                              									zwischen den beiden Kolben als auch am Ende (Fig.
                                 									5). Bei schweren Tandemmaschinen wird jeder Kolben auf einer besonderen Stange
                              									angeordnet, die beiderseits durch Schlitten geführt ist (Fig. 6). Der mittlere Schlitten dient dabei beiden Stangen gleichzeitig
                              									als Führung. Dieselbe Konstruktion wird auch beim Antrieb von Gebläsen, Kompressoren
                              									und Pumpen durch Kolbenmaschinen verwendet.
                           Manchmal werden auch Tandemmaschinen, ähnlich wie die in Fig. 1 dargestellte Einzylindermaschine, ganz ohne besondere Führung der
                              									Kolbenstange ausgeführt. Es sind sogar Maschinen mit drei hintereinander liegenden
                              									Zylindern in dieser Art konstruiert worden. Die Kolben müssen sich dabei natürlich
                              									vollständig selbst tragen und auch die Führung und Stützung der Stange übernehmen. Solche
                              									Konstruktionen sind nur in besonderen Fällen zweckmäßig, nämlich dann, wenn man es
                              									in der Hand hat, die Stangen so stark zu machen, daß sie sich nur außerordentlich
                              									wenig durchbiegen, da sonst: die Kolben ecken würden. Dann ist aber die Knickgefahr
                              									so gut wie ausgeschlossen. Die Berechnung derselben ist deshalb schwer möglich, weil
                              									sich bei der Unsicherheit der ganzen Lagerung nicht mit einiger Bestimmtheit angeben
                              									läßt, wie sich die Knickung abspielen wird, d.h. welcher Kolben klemmen, welcher
                              									nachgeben wird und wie weit die Stopfbüchsen etwa zur Stützung herangezogen
                              									werden.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 327, S. 275
                              Schema. 1 Einzylindermaschine mit
                                 										fester Führung; 2 Einzylindermaschine mit Schlittenführung; 3 Tandemmaschine mit
                                 										fester Führung; 4 Tandemmaschine mit Schlittenführung; 5 Vordere Kolbenstange
                                 										der Tandemmaschine mit Schlittenführung
                              
                           Von den angeführten Konstruktionen sollen insbesondere die im obigen Schema
                              									zusammengestellten behandelt werden, da sie die üblichsten Ausführungsformen
                              									darstellen. Die unter 1 und 2 angeführten Konstruktionen sind für die Untersuchung,
                              									wie bereits erwähnt, übereinstimmend. Bei der Konstruktion für Tandemmaschinen nach
                              									Nr. 4 des Schemas kann jede Kolbenstange für sich behandelt werden. Beide Stangen
                              									stimmen in der Konstruktion mit der unter Nr. 2 überein, die hintere auch in der
                              									Belastung. Bei der vorderen kommt noch die in der Führung ausgeübte Kraft des
                              									hinteren Kolbens zur Wirkung, wie in Nr. 5 des Schemas dargestellt ist. Es sind
                              									demnach nur drei verschiedene Fälle in dem Schema enthalten, nämlich Nr. 2, 3 und 5.
                              									Von diesen ist Fall 3 der allgemeinste; aus ihm folgt Fall 5, indem man c = 0 setzt,
                              									der seinerseits in Fall 2 übergeht, wenn P2 = 0
                              									wird.
                           2. Der Anwendung der früher entwickelten Rechnungsverfahrens. Mies, Ueber das
                                    											Ausknicken stabförmiger Körper, D. p. J. S. 177 d. B. sollen zur
                              									Bestimmung der Knicksicherheit von Kolbenstangen folgende Annahmen über die
                              									Wirkung der Kräfte und Lagerungen zugrunde gelegt werden:
                           a. Nach den früher gegebenen Erläuterungen kann bei Ermittlung der Knickbedingung
                              									ohne Beeinträchtigung der allgemeinen Gültigkeit von vornherein angenommen werden,
                              									daß die Stangenachse im unbelasteten Zustande vollkommen gerade ist und die
                              									Kolbenkräfte ursprünglich in die Richtung der Stangenachse fallen. Ebenso kann man
                              									von der Berücksichtigung senkrecht zur Stangenachse wirkender konstanter Belastungen
                              									absehen.
                           b. Die durch die Stopfbüchsen auf die Stangenachse übertragenen Kräfte bleiben
                              									unberücksichtigt, da sie im Vergleich zu den übrigen Kräften klein sind. Diese
                              									Annahme ist um so mehr berechtigt, als es sich Hier besonders um die Berechnung von
                              									Kolbenstangen großer Maschinen handelt, deren Stopfbüchsen durchweg beweglich sind.
                              									Dementsprechend ist auch angenommen, daß die Stange sich in der Stopfbüchse
                              									unbehindert durchbiegen kann.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 327, S. 275
                              Fig. 7.
                              
                           c. Da, die Stirnflächen des Kolbens auch bei der Verbiegung der Kolbenstange
                              									annähernd senkrecht zur Stabachse bleiben werden, so kann man annehmen, daß die
                              									Kolbenkraft stets parallel zur Tangente an die elastische Linie der Kolbenstange
                              									gerichtet ist, wie Fig. 7 veranschaulicht. Man denke
                              									sich dieselbe in Komponenten parallel und senkrecht zur Zylinderachse zerlegt. Falls
                              									die Kolbenringe rings an der Zylinderwand anliegen, wird die erste der beiden
                              									Komponenten, die mit P bezeichnet sei, mit der
                              									Zylinderachse zusammenfallen, und zwar ist
                              										P=p\,.\,\frac{D^2\,\pi}{4}, wenn p die Differenz der Drucke auf beiden Zylinderseiten und D den Zylinderdurchmesser bedeuten. Die zur
                              									Zylinderachse senkrechte Komponente ist gleich P tg φ,
                              									wenn φ den Winkel zwischen der Zylinderachse und der
                              									Richtung der Kolbenkraft bezeichnet.
                           d. Etwaige Einspannungsmomente, die durch die Führungen auf die Stange übertragen
                              									werden, bleiben unberücksichtigtVergl. Bach, Frage der Einspannung eines Stabes,
                                    											Elastizität und Festigkeit, 4. Aufl., § 53..
                           
                              (Fortsetzung folgt.)