| Titel: | ELEKTRISCHE ZUGFÖRDERUNG. | 
| Fundstelle: | Band 327, Jahrgang 1912, S. 376 | 
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                        ELEKTRISCHE ZUGFÖRDERUNG.
                        Elektrische Zugförderung.
                        
                     
                        
                           Inhaltsübersicht.
                           Regierungsbaumeister a. D. Hans Michel
                              									hielt am 13. März im Sitzungssaal der AEG einen Vortrag über „Elektrische
                                 										Zugförderung“. Der Vortragende behandelte hauptsächlich die Fahrleitung und
                              									die Betriebsmittel für elektrische Vollbahnen.
                           ––––––––––
                           Nachdem hier bereits früherD. p. J. 1911 Bd.
                                    											326, Heft 39 und 41. über Freileitungen ausführlicher berichtet
                              									worden ist, beschränken wir uns im wesentlichen darauf, den Teil des Vortrages
                              									wiederzugeben, der sich mit den Betriebsmitteln beschäftigte. Hierüber führte der
                              									Vortragende u.a. folgendes aus:
                           Der Bau großer elektrischer Lokomotiven für Vollbahnen stellt nicht nur den
                              									Elektrotechniker hinsichtlich des Entwurfs der Bahnmotoren, der Transformatoren, der
                              									Steuerung usw., sondern in demselben Maße auch den Lokomotivkonstrukteur vor
                              									vollständig neue Aufgaben.
                           Weder die von den Straßenbahnen übernommene Anordnung von Zahnradmotoren, die
                              									einerseits federnd im Untergestell aufgehängt sind, andererseits mit Tatzenlagern um
                              									die Achsen greifen, noch auch der direkte Antrieb, bei dem die Anker der Motoren
                              									unmittelbar auf den Achsen sitzen, konnten für große Leistungen und
                              									Geschwindigkeiten dauernd in Frage kommen. Die schlechte Zugänglichkeit, die starke
                              									Beanspruchung des Oberbaues wegen der großen ungefederten Massen und die Begrenzung
                              									in Größe und Leistung der Motoren waren die hauptsächlichsten Gründe, die einer
                              									weiteren Verbreitung dieser Anordnung im Wege standen. Zwar hatten die Amerikaner
                              									den größten Uebelstand – die schädlichen Stöße auf das Gleis – bei den
                              									Achsmotoren durch Zwischenschaltung von Federn abzuschwächen gesucht und eine Reihe
                              									derartiger Lokomotiven gebaut. Es ist aber offensichtlich, daß diese Maschinen wegen
                              									ihrer tiefen Schwerpunktslage für große Geschwindigkeiten zu ernsten Bedenken
                              									Veranlassung geben.
                           Die aus dem Dampflokomotivbau schon bekannten Forderungen hoher Schwerpunktslage
                              									sowie der Verwendung des Parallelkurbelgetriebes wurden vom Geh. Oberbaurat Wittfeld, der sich bekanntlich um die Entwicklung und
                              									Einführung der elektrischen Zugförderung auf Hauptbahnen hervorragend verdient
                              									gemacht hat, bereits im Jahre 1902 auch für elektrische Lokomotiven geltend gemacht
                              									und haben inzwischen allgemeine Anerkennung gefunden. Hochgelegene Massen sind das
                              									beste Mittel zur Vermeidung der für den Oberbau so gefährlichen Seitenstöße und die
                              									sicherste Gewähr für einen ruhigen Lauf der Maschine. Die Anordnung eines
                              									Parallelkurbelgetriebes ermöglicht in einfachster Weise die Lagerung der Motoren im
                              									Rahmen, die gute Zugänglichkeit und Ausführung derselben in offener Bauart und gibt
                              									die größtmögliche Freiheit bezüglich der Achsenanordnung sowie der
                              									Gewichtsverteilung. Um das Federspiel auszugleichen, läßt man heute allgemein die
                              									Treibstangen auf eine in Höhe der Achsmitten im Rahmen gelagerte Blindwelle arbeiten
                              									und von ihr mittels wagerechter Kuppelstangen das Drehmoment auf die Achsen
                              									übertragen. Allerdings verlangt der Blindwellenantrieb eine sorgfältige Lagerung und
                              									genaueste Einstellung, da im Gegensatz zur Dampflokomotive jedes elastische
                              									Zwischenglied fehlt
                           
                           und die geringste Ungenauigkeit in der Montage zu Heißlaufen Veranlassung geben
                              									kann. Doch haben die seitherigen Betriebsergebnisse in Bitterfeld bewiesen, daß bei
                              									aufmerksamer Wartung diese Verhältnisse sich anstandlos beherrschen lassen. Auch das
                              									Schleifkurbelgetriebe ist bei elektrischen Lokomotiven schon häufig mit Erfolg
                              									ausgeführt worden und erscheint insbesondere bei Verwendung von zwei federnd im
                              									Rahmen gelagerten Motoren und Kraftübertragung auf eine der Kuppelachsen durch einen
                              									Kandorahmen recht vorteilhaft, weil es zweifellos gegenüber dem reinen
                              									Blindwellenantrieb eine Gewichtsersparnis bedeutet. Neuerdings scheinen die
                              									kombinierten Antriebe, nämlich Zahnradvorgelege mit Parallelkurbel- oder
                              									Schleifkurbelantrieb, mehr in den Vordergrund zu treten, weil durch sie die
                              									Verwendung hochgelegener, raschlaufender Zahnradmotoren und damit eine nicht
                              									unbedeutende Preis- und Gewichtsersparnis ermöglicht wird. Wenn aber auch diese
                              									kombinierten Antriebe große Aussicht haben, für Personen- und Güterzuglokomotiven
                              									allgemeinere Verwendung zu finden, so darf doch andererseits als sicher gelten, daß
                              									auch in Zukunft bei Lokomotiven für große Geschwindigkeiten nur der direkte
                              									Parallel- bezw. Schleifkurbelantrieb mit langsamlaufenden hochliegenden Motoren in
                              									Frage kommen kann.
                           Eine Anzahl neuerer AEG-Lokomotiven möge die eben für den mechanischen Aufbau der
                              									Lokomotiven angegebenen Grundsätze näher erläutern.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 327, S. 377
                              Fig. 1. 1–D–1-Lokomotive für die Rhätische Bahn.
                              
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 327, S. 377
                              Fig. 2. 1–C–Güterzuglokomotive für die Mittenwaldbahn.
                              
                           Fig. 1 stellt eine für die Rhätische Bahn zurzeit im
                              									Bau begriffene 1–D–1-Lokomotive dar. Mit Rücksicht auf den geringen quer zur
                              									Lokomotivlängsachse für die Motoren zur Verfügung stehenden Raum – die Maschine ist
                              									für 1 m Spur gebaut – wurde hier der kombinierte Antrieb, Zahnrad mit Blindwelle und
                              									Kuppelstangen, gewählt. Die beiden hochgelegenen Zahnradmotoren von je 350 PS
                              									Stundenleistung bei einer Geschwindigkeit von 28 km/Std. treiben eine
                              									gemeinschaftliche Vorgelegewelle an, von der aus die Kraftübertragung durch
                              									Parallelkurbelgetriebe mittels einer in Höhe der Achsen gelagerten Blindwelle
                              									erfolgt. Die größte Geschwindigkeit dieser Lokomotive beträgt 50 km/Std., die größte
                              									Zugkraft 13000 kg.
                           Für die Mittenwaldbahn sind der AEG zurzeit neun 1–C-Güterzuglokomotiven in
                              									Auftrag gegeben. Eine schematische Skizze der Lokomotive, aus der die
                              									Achsenanordnung und die Unterbringung von Motor und Leistungstransformator
                              									ersichtlich sind, enthält Fig. 2. Die
                              									Stundenleistung der Maschine beträgt 800 PS bei 30 km/Std., die größte
                              									Geschwindigkeit 40 km und die größte Anfahrzugkraft 9500 kg. Eine Gesamtansicht der
                              									ersten vor kurzem fertiggestellten Lokomotive, die gegenwärtig auf der Strecke
                              									Dessau-Bitterfeld Probefahrten ausführt, bietet Fig.
                                 										2a. Drei Maschinen der gleichen Type sind zurzeit für die Strecke
                              									Wien-Preßburg im Bau.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 327, S. 378
                              Fig. 2a. Ansicht der 1–C-Lokomotive für die Mittenwaldbahn.
                              
                           Die 1–D–1-Schnell-, Personen- und Güterzuglokomotive für Lauban-Königszelt (Fig. 3) ist deshalb besonders bemerkenswert, weil sie
                              									infolge der Anordnung von nur einer Blindwelle, auf die die beiden hochgelegenen
                              									Motoren arbeiten, eine sehr gute Gewichtsverteilung mit Transformator und zwei
                              									Motoren in Lokomotivmitte ergibt und die Lager und Zapfendrücke verhältnismäßig
                              									klein ausfallen. Die Stundenleistung dieser Maschine beträgt 1600 PS bei 50 km/Std.,
                              									die größte Geschwindigkeit 110 km, die größte Zugkraft 12000 kg und das
                              									Gesamtgewicht rd. 99 t. Die erste und dritte sowie die vierte und sechste Achse sind
                              									zu einem Krauß-Helmholtz-Drehgestell vereinigt. Da
                              									sich bei dem Bitterfelder Versuchsbetrieb gezeigt hat, daß eine gute Luftführung im
                              									Innern der Maschine für die Kühlung der Motoren und Transformatoren geradezu eine
                              									Lebensfrage ist, wurde bei dieser Maschine ganz besonderer Wert auf die Erfüllung
                              									dieser Forderung gelegt und wurden rechts und links von den Führerständen zwei etwa
                              									500 mm breite Lüftungskanäle vorgesehen, die durch die ganze Maschine hindurchgehen
                              									und während der Fahrt einen kräftigen Luftstrom an den Motoren und dem
                              									Leistungstransformator vorbeiführen.
                           Noch weiter kann man gehen, indem man die Lokomotiven in vollständig offener Bauart
                              									ausführt, Fig. 4 zeigt die Gesamtansicht einer
                              									D-Lokomotive, die nach diesen Grundsätzen entworfen ist. Sie hat nur einen
                              									Führerstand. Transformator und Motor stehen vollständig frei. Letzterer ist regen-
                              									und staubdicht gekapselt und wird durch einen besonderen, elektrisch angetriebenen
                              									Ventilator künstlich gekühlt. Die Lokomotive hat bei einer Geschwindigkeit von 25
                              									km/Std. eine Stundenleistung von 800 PS, ihr Gesamtgewicht beträgt 67 t.
                           Die in Bitterfeld durchgeführten Versuchsfahrten lassen es als sicher erscheinen, daß
                              									man bei elektrischer Zugförderung mit wesentlich weniger Lokomotivgattungen auskommen
                              									wird als bei Dampfbetrieb, weil die Lauffähigkeit der elektrischen Lokomotiven im
                              									Vergleich mit Dampflokomotiven gleicher Achsenanordnung weitaus günstiger ist. Dies
                              									ist in der Hauptsache in dem Fehlen der hin- und hergehenden Massen sowie darin
                              									begründet, daß die bei den elektrischen Lokomotiven ausschließlich vorhandenen
                              									rotierenden Triebwerksteile einen vollständigen Massenausgleich ermöglichen. Die
                              									Kgl. Preuß. Staatseisenbahnverwaltung hat deshalb für den Ausbau der Strecke
                              									Magdeburg–Leipzig–Halle nur zwei Lokomotivtypen, eine 1–C–1-Schnellzuglokomotive und
                              									eine D-Güterzug- und Personenzuglokomotive, vorgesehen.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 327, S. 379
                              Fig. 3. 1–D–1-Schnell-, Personen- und Güterzuglokomotive für die Kgl. Preuß.
                                 										Staatseisenbahnverwaltung.
                              
                           Der Vortragende schloß mit folgenden Ausführungen:
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 327, S. 379
                              Fig. 4. D-Lokomotive offener Bauart (Entwurf).
                              
                           Die Wirtschaftlichkeit der elektrischen Zugförderung kann heute schon zweifellos als
                              									dem Dampfbetrieb überlegen betrachtet werden. In erster Linie kommen hierbei in
                              									Betracht die bessere Ausnutzungsfähigkeit und Betriebsbereitschaft elektrischer
                              									Lokomotiven, ferner die größere Schonung des Oberbaues wegen ihrer besseren
                              									Lauffähigkeit und die Möglichkeit einer Erhöhung der Reisegeschwindigkeit der Züge
                              									durch schnelleres Anfahren und längeres Beschleunigen derselben.
                           Durch die Zusammenfassung in wenigen großen Kraftwerken werden die
                              									Gestehungskosten der Energieerzeugung naturgemäß wesentlich niedriger als bei
                              									Dampflokomotiven. Die Möglichkeit, in diesen Kraftwerken geringwertige Brennstoffe
                              									wie Braunkohle und Torf zu verfeuern, läßt die Einführung der elektrischen
                              									Zugförderung selbst da wirtschaftlich erscheinen, wo nicht, wie in der Schweiz,
                              									Bayern und Baden, natürliche Wasserkräfte als billige Energiequellen zur Verfügung
                              									stehen.
                           Für die Kgl. Preuß. Staatseisenbahnverwaltung waren diese Gründe mitbestimmend, als
                              									erste der zu elektrisierenden Vollbahnstrecken die Linie Magdeburg-Leipzig- Halle,
                              									die mitten durch das sächsische Braunkohlenrevier hindurchgeht, zu wählen. Mit dem
                              									vollständigen Ausbau dieser Strecke ist man zurzeit beschäftigt. Gleichzeitig wird
                              									die Elektrisierung der rd. 130 km langen schlesischen Gebirgsstrecke
                              									Lauban–Dittersbach–Königszelt mit den Abzweigungen Hirschberg–Grüntal,
                              									Niedersalzbrunn–Halbstadt und Ruhbank–Liebau in Angriff genommen.
                           
                           Als nächste größere Aufgabe hat sich die Kgl. Preuß. Staatseisenbahn Verwaltung,
                              									wie bekannt, die Einführung der elektrischen Zugförderung auf den Berliner Stadt-,
                              									Ring- und Vorortbahnen gestellt, für die bereits die ersten Mittel in dem
                              									diesjährigen Etat angefordert worden sind.
                           Was das übrige Deutschland betrifft, so arbeitet Bayern zurzeit an der Verwirklichung
                              									der großzügigen Pläne zur Ausnutzung seiner reichen Wasserkräfte und wird
                              									voraussichtlich im Laufe des nächsten Jahres auf den beiden Hauptbahnstrecken
                              									Freilassing–Reichenhall und Garmisch–Partenkirchen – dem bayerischen Teil der
                              									Mittenwaldbahn – den elektrischen Betrieb eröffnen können. Der österreichische Teil
                              									dieser Bahn, für den die gesamte elektrische Einrichtung ebenso wie für
                              									Wien–Preßburg von der AEG geliefert wird, wird schon im Laufe dieses Sommers dem
                              									Verkehr übergeben werden. Auch die von der badischen Staatseisenbahnverwaltung mit
                              									Einphasen-Wechselstrom projektierte Wiesentalbahn ist im Bau schon recht weit
                              									vorangeschritten und wird wahrscheinlich Ende dieses Jahres eröffnet werden.
                           Es wäre zu wünschen, daß der deutschen elektrotechnischen Industrie, die der großen
                              									Aufgabe vollgerüstet gegenübersteht, recht bald Gelegenheit gegeben würde, in
                              									größerem Maße durch den Ausbau weiterer Strecken neue Proben ihrer
                              									Leistungsfähigkeit zu geben.