| Titel: | Grundlagen, Grenzen und Gefahren der Normalisierung. | 
| Autor: | W. Speiser | 
| Fundstelle: | Band 332, Jahrgang 1917, S. 345 | 
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                        Grundlagen, Grenzen und Gefahren der
                           								Normalisierung.
                        Von Dipl.-Ing. W. Speiser, Kladno (Böhmen).
                        SPEISER: Grundlagen, Grenzen und Gefahren der
                           								Normalisierung.
                        
                     
                        
                           Allenthalben hat heute der Gedanke erfreulich festen Fuß gefaßt, daß für eine
                              									gesunde und kräftige Weilerentwicklung unserer Industrie nach dem Kriege weit
                              									größerer Wert als bisher gelegt werden muß auf eine weitgehende Normalisierung in
                              									allen Arbeits- und Erzeugungsgebieten, die einer solchen überhaupt zugänglich sind.
                              									Ueberall regt es sich in den Kreisen der Industrie, um teils in streng
                              									abgeschlossenen Sondergebieten, teils in weitschauender Umfassung großer
                              									Erzeugungsgruppen Normen auszuarbeiten, die eine Vereinfachung und Verbilligung und
                              									dabei gleichzeitig eine Erhöhung der Brauchbarkeit der Erzeugung bezwecken. Die
                              									Vereinigung des Vereines deutscher Ingenieure mit dem königlichen Fabrikationsbüro
                              									in Spandau zur Schaffung von „Normalien für den deutschen Maschinenbau“Z. d. V. d. I. 1917 S. 809. dürften
                              									zu den umfassendsten und bedeutungsvollsten Maßnahmen in diesem Sinne gehören.
                           
                        
                           Grundlagen.
                           Der Vorgang bei der Aufstellung von Normalien jeder Art ist recht sehr verwickelt, er
                              									ist an bestimmte, in seinem eigenen Wesen liegende Grenzen gebunden und birgt
                              									mancherlei Gefahren in sich, die der eigenen Absicht des Normalisierens selbst
                              									entgegen zu wirken vermögen und deshalb bei jedem Versuch einer Normalisierung ganz
                              									besonders im Auge zu behalten sind.
                           Bei der Vornahme einer Normalisierung können zwei grundsätzlich verschiedene Wege
                              									beschritten werden. Der häufigste ist der, daß sich im Laufe der Zeit in irgend
                              									einem Betrieb oder einem Fachgebiet unter den ganz willkürlich und zufällig einmal
                              									gewählten Formen eine bestimmte Anzahl immer wiederholt, weil eben kein Grund
                              									vorliegt, die vorhandene und „bewährte“ Form zu verlassen. Wenn das Gußmodell
                              									für ein Handrad einmal mit 317 mm ø ausgeführt ist, so ist ja für die allermeisten
                              									Fälle ganz gleichgiltig, ob ein neu herzustellendes Rad gerade 300 mm oder 320 mm ø
                              									hat; so wird naturgemäß das bereits vorhandene Modell gewählt, vorausgesetzt
                              									allerdings, daß der entwerfende Techniker überhaupt Kenntnis von seinem
                              									Vorhandensein hat. Es wäre zwecklos, daneben Handräder mit wenig abweichenden
                              									Durchmessern herzustellen, und erst wenn ein wirkliches Bedürfnis für eine größere
                              									Abweichung vorliegt, wird der Konstrukteur ein neues Modell schaffen, nachdem er
                              									sich überzeugt hat, ob nicht in seinem Betriebe bereits ein größeres Modell
                              									vorhanden ist, das seinem Zwecke ebenfalls dienen kann. Ja, er wird sich, wenn
                              									die Frage öfters an ihn herantritt, eine Liste der vorhandenen Modelle
                              									zusammenstellen, nach der er seine Auswahl treffen kann
                           Eine „Normalientafel“ ist damit entstanden. Sie ist gekennzeichnet dadurch,
                              									daß die einzelnen Glieder der Reihe durch Zufall entstanden sind, daß ihre
                              									Abmessungen untereinander keinen Zusammenhang haben und daß die Reihe lückenhaft
                              									sein wird, indem die Abstände in den Abmessungen der einzelnen Glieder bald größer,
                              									bald kleiner sein werden. Da bedeutet es dann schon einen erheblichen Schritt
                              									vorwärts, wenn bei der Herstellung einer neuen Form angestrebt wird, sie so in die
                              									Reihe der bereits vorhandenen einzupassen, daß sie wirklich eine Lücke ausfüllt, daß
                              									also, um beim Beispiel der Handräder zu bleiben, zwichen 300 und 400 nun nicht etwa
                              									210 oder 390 eingeschoben, sondern etwa 350 gewählt wird. Der vorausschauende
                              									Konstrukteur wird in seiner Normalientafel bestimmte Größen, die ihm zur planmäßigen
                              									Vervollständigung seiner Reihe noch fehlen, im voraus festlegen und im Bedarfsfalle
                              									eben diese festgelegten Größen, aber auch nur diese, ausführen. Er wird ferner auch
                              									bestrebt sein, von zwei durch den Zufall des Gewordenen besonders nahe und
                              									überflüssig nahe zusammenliegenden Formen der Reihe die eine als entbehrlich
                              									allmählich auszumerzen und durch die andere zu ersetzen, und zwar wird er natürlich
                              									die bestehen lassen, die besser in den Aufbau, in das Größengesetz seiner Reihe
                              
                              									hineinpaßt. Ja, es kann so weit kommen, daß Formen, gegen die an sich nichts
                              									einzuwenden wäre, verlassen werden, um eben das Gesetz der Reihe einzuhalten oder
                              									genauer zum Ausdruck zu bringen. Rücksichten der Herstellung und auch der Schönheit
                              									können dabei mitsprechen.
                           Kurz, der Weg dieser ersten und allgemeinsten Art der Normalisierung ist der Aufbau auf dem Gewordenen, die Beibehaltung willkürlich
                              									entwickelter Formen, die bestenfalls nach methodischen Grundsätzen geordnet, auch
                              									gesichtet und ergänzt werden.
                           Wenn auch häufig auf dem Bisherigen fußend, so steht doch in einem gewissen
                              									grundsätzlichen Gegensatz dazu das andere mögliche Verfahren, nämlich die Festlegung der einzelnen Formen von vorn herein vor der
                              									Ausführung auf Grund einer vorausschauenden, systematisch aufbauenden Ueberlegung.
                              									Man wird namentlich dann, wenn es gilt, ein neues Gebiet auszubauen, im voraus die
                              									einzelnen Möglichkeiten überdenken und die erforderlichen Formen in Reihen ordnendie irgend eine
                              									Gesetzmäßigkeit des Baues von vornherein erhalten werden. Es soll damit eben der
                              									zufälligen Entstehung plan- und gesetzloser Formen vorgebeugt werden.
                           Und hier entsteht nun jedesmal die weitere grundsätzlich bedeutungsvolle Frage: Ist
                              									schon irgend ein Anhalt vorhanden für diese Gesetzmäßigkeit, ja auch nur für die
                              									Ausgestaltung einer oder mehrerer Einzelformen, um die dann die ganze Reihe
                              									herumkristallisiert werden kann. In sehr vielen Fällen werden solche Anhaltspunkte
                              									bestehen, meistens in der Art, daß in dem betreffenden Gebiet schon irgend welche
                              									vereinzelte Ausführungen da sind, die aber noch zu sehr zerstreut sind, als daß man
                              									eine vollständige Normalisierung auf diesem Gerippe aufbauen könnte. Es wird sich
                              									dann also fragen, was von diesem Vorhandenen ist brauchbar und was ist wichtig
                              									genug, um darauf weiter zu bauen, daran anzuschließen, oder aber ist etwa alles
                              									Vorhandene aus grundsätzlichen Ueberlegungen nicht geeignet für den Ausbau zu einer
                              									systematischen Reihe, so daß das Vorhandene verlassen werden muß, um Geeigneteres an
                              									seine Stelle zu setzen. Dieser Fall könnte zum Beispiel eintreten, wenn zu einem
                              									bisher nur in einer Größe hergestellten Gegenstand, der fortan in einer
                              									fortlaufenden Reihe verschiedener Größen erzeugt werden soll, ein Werkzeug, etwa für
                              									eine Bohrung, in Zollmaß vorhanden ist, während die neue Reihenherstellung
                              									naturgemäß auf Millimetermaß eingerichtet werden muß.
                           Bisweilen wird der Versuch, sich an Vorhandenes anzulehnen, zu keinem Ziel führen,
                              									weil eben noch nichts Benutzbares vorhanden ist; sehr viel häufiger noch wird das
                              									Ergebnis unbefriedigend sein, weil das Vorhandene sich in keine folgerecht
                              									zusammenhängende Form bringen lassen will. In diesen Fällen bleibt dem Organisator
                              									einer Normalisierung nichts anderes übrig, als durchaus von Anfang an mit der Form
                              									auch das System der Reihe von sich aus festzulegen; die edelste aber auch
                              									verantwortungsvollste Normalisierungstätigkeit. Hier kommt es jetzt darauf an, von
                              									Anfang an alle Möglichkeiten zu überblicken, namentlich auch die einer zukünftigen
                              									Entwicklung, und zugleich die Forderungen möglichst restloser Zweckmäßigkeit mit
                              									denen der Folgerichtigkeit, der Gesetzmäßigkeit zu vereinigen. Vor allem aber müssen
                              									die Anforderungen verschiedener Gebiete, auch solcher, die abseits vom eigenen Acker
                              									liegen, berücksichtigt werden, damit die aufzustellenden Normen einen möglichst
                              									weiten Wirkungsbereich erlangen und damit nicht auf verwandten oder Nachbargebieten
                              									alsbald dieselbe Sache von neuem normalisiert – und dann natürlich in anderem Sinne
                              									und anderer Form normalisiert werden muß, weil die Normen des einen Gebietes auf das
                              									andere nicht übertragen werden können. Gerade diese Rücksichtnahme auf andere
                              									Gebiete ist von tief einschneidender Bedeutung und gerade hierin ist leider bei
                              									vielen Normalisierungen häufig gesündigt worden. Freilich setzt sie außer dem guten
                              									Willen und dem Darandenken nicht nur eine weitreichende Kenntnis des Organisators
                              									und eine Anpassungsfähigkeit an die Eigenart fremder Betriebe voraus, sondern sie
                              									erschwert durch den Widerspruch der einzelnen Forderungen gegeneinander häufig die
                              
                              									Arbeit auf einem Gebiet so sehr, daß man schließlich dazu geführt wird, die
                              									Normalisierung auf ein Einzelgebiet zu beschränken, ohne Rücksicht auf die
                              									Forderungen der Nachbarn. Auch das bedeutet ja in vielen Fällen schon einen
                              									Fortschritt, wenn wenigstens auf einem Gebiet Ordnung geschaffen wird, wenn schon
                              									das Durcheinander umher einstweilen bestehen bleiben muß; das gute Beispiel kann
                              									unter Umständen doch auch dorthin wirken.
                           Die Vielheit der von verschiedenen Seiten gestellten Anforderungen bildet immer
                              
                              									eine. Hauptschwierigkeit für jede Normalisierung. Jede Stelle, die von einer
                              									Normalisierung erfaßt werden soll, meint gemeiniglich, von den durch die Gewohnheit
                              									geheiligten Formen nicht abgehen zu können, nichts davon aufgeben zu dürfen. Eine
                              									Vorausfestlegung von Formen, die dann bei eintretendem Bedarf verwendet werden
                              									müssen, ohne die Wahl kleinerer Abweichungen zu haben, scheint vielen immer wieder
                              									unmöglich. Je größer das Gebiet ist, das umfaßt werden soll, desto größer werden
                              									diese Schwierigkeiten.
                           
                        
                           Grenzen.
                           Um in der Parteien Haß und Gunst nun überhaupt einen gangbaren Mittelweg zu finden,
                              									wird man häufig darauf verzichten müssen, überhaupt auf die Stimme des Einzelnen zu
                              									hören, denn wo der Eine das alleinige Heil sieht, wo der Eine unbedingt nur die Form
                              									zulassen zu können meint, die gerade in seinen Kram paßt, findet zweifellos irgend
                              									ein anderer, daß aus zwingenden Gründen gerade diese Form gänzlich unbrauchbar sei
                              									und nur die von ihm mit ebenso zwingenden Gründen verteidigte die alleinige
                              									Daseinsberechtigung habe.
                           Niemand wird für die Ewigkeit normalisieren wollen, aber die Aufstellung einer
                              									Normalreihe hat doch nur Sinn, wenn sie für eine recht große Zeitspanne gedacht ist.
                              									Der Wunsch nach Unbegrenztheit des Wirkungsbereichs und der Wirkungsdauer sollte an
                              									der Wiege jeder Normalisierung stehen. Und deshalb muß es vermieden werden, daß,
                              									nachdem die Reihe festgelegt ist, jederzeit oder auch nur jemals irgend jemand
                              									kommen kann und mit Gründen, deren Stichhaltigkeit zu denen der ersten Reihe in
                              									Vergleich gestellt werden kann, neue Formen nach einem anderen System als mehr
                              									berechtigt fordern.
                           Eine zweckdienliche Begrenzung in der Wahl der Grundlagen ist also geboten. Es ist
                              									demnach zu fragen, durch welche Grenzen die Grundlagen für eine Normalisierung
                              									beschränkt sind, die nach Möglichkeit frei sein soll von Willkürlichkeiten
                              									einzelner, vielmehr auf Grundlagen aufgebaut werden, die allgemeine Anerkennung
                              									fordern dürfen mit Ausschluß aller Einzelstimmen. Solche Grundlagen sind dadurch zu
                              									gewinnen, daß man sich von vornherein klar wird über die Systeme unserer
                              									Ordnungsmethoden überhaupt. Wir haben heute gewisse bestimmte Wege zur Bewältigung
                              
                              									gewisser Vorstellungsreihen, zur Ordnung und Sonderung vieler Dinge, die allgemein
                              									im täglichen Leben häufig und immer wieder der Ordnung bedürfen. Diese Wege unserer
                              									heutigen Kulturwelt weichen von denen älterer und auch gleichartiger. Kulturen
                              									bisweilen ab, sie sind aber für uns von so selbstverständlicher Bedeutung, daß wir
                              									uns eine Organisierung ohne sie überhaupt kaum mehr vorstellen können oder vielmehr
                              									als das Gegenteil der Organisierung empfinden würden. Es sind das unsere Zahlen- und
                              									Maßsysteme, und wenn es auch durchaus selbstverständlich klingt, so muß doch mit
                              									allem Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß bei jeder Normalisierung, die
                              									Anspruch auf Dauerbestand machen will, auf die Eigentümlichkeiten unserer Zählweise
                              									und auf unsere allgemein anerkannten Maße Rücksicht genommen werden muß.
                           Zunächst unser Zahlensystem. Nach dem ganzen Aufbau unserer Zahlenbegriffe und bei
                              									der Selbstverständlichkeit, mit der uns heute das Dezimalsystem vertraut ist, ist es
                              									uns gemeinhin sehr schwer vorstellbar, daß es Völker, Kulturen gegeben hat, die mit
                              									anderen Zahlsystemen gerechnet haben, wie zum Beispiel die Babylonier nach dem
                              									Sechzigersystem; gerade dem Techniker, der in seinem Beruf andauernd und viel mit
                              									Zahlen umzugehen hat, scheint es unbegreiflich, wie ein Volk wie das englische, das doch bis
                              									1914 auch in den Kreis der Kulturvölker gerechnet werden konnte, in seinem Maß- und
                              									Geldsystem mit einer Zwölfereinteilung arbeiten kann. Und wenn auch nicht verkannt
                              									werden darf, daß schließlich auch das Dezimalsystem nur eine augenblicklich unserer
                              									Vorstellungsgewohnheit entsprechende Art der Anschauung, der Ordnungshilfe ist, die
                              									vielleicht durch noch rationellere Methoden übertroffen werden kann und wird, so
                              									wäre es doch unter den gegenwärtigen Umständen ganz sinnlos, irgend eine
                              									Größenanordnung nicht auf der Grundlage unseres gegenwärtigen Zahlensystems und mit
                              									Rücksicht auf das Dezimalsystem aufbauen zu wollen.
                           Ebenso hat die Entwicklung unserer Kultur, d.h. des Kulturkreises, in dem wir nun
                              									einmal drinstecken und über den wir nur schwer hinaussehen können, zu einer ganz
                              									bestimmten Festlegung in bezug auf Maße geführt. Was seinerzeit die französische
                              									Meterkommission festgelegt hat, ist tatsächlich so sehr Allgemeingut der Menschheit
                              									geworden, daß auch das Außenstehen des Kulturvolkes England nichts daran hat ändern
                              									können. Auf dem Grunde der metrischen Normalien aber sind dann im Laufe der Zeit
                              									eine große Zahl wissenschaftlicher Maßsysteme und Meßverfahren aufgetaut worden, die
                              									Fundamente unserer ganzen wissenschaftlichen Maß- und Zahlenangaben sind darin
                              									verankert, so daß auch hier eine Abweichung für praktische Zwecke undenkbar
                              									erscheint. Und wenn wir uns auch darüber klar sind, daß die Meternorm eine
                              									eigentliche innere Berechtigung nicht hat, ja wenn wir weitergehend finden, daß auch
                              									an den Grundlagen des ganzen wissenschaftlichen Maß- und Gewichtssystems, des
                              									Zentimeter- Gramm- Sekundensystems, an mehr als einer Stelle aus theoretischen
                              									Ueberlegungen gerüttelt werden kann, so müssen wir uns doch sagen, daß mindestens
                              									gegenwärtig es ein totgeborener Gedanke wäre, sich aus diesem System heraus, sich
                              									daneben stellen zu wollen.
                           Die beiden genannten Rücksichten, die Anpassung an das vorhandene Zahlensystem und
                              									die Einordnung in die wissenschaftlich gebräuchlichen Maßsysteme sind offenbar die
                              									hauptsächlichsten, nahezu selbstverständlichen Grenzen für die Grundlagen einer
                              									Normalisierung. Weitere Grundlagen werden sich von Fall zu Fall ergeben, häufig mit
                              									so sicherer Selbstverständlichkeit, daß ein Zweifel nicht möglich ist (wie zum
                              									Beispiel die Rechteckform für die Normalisierung von Papierformaten), andere so, daß
                              									sie auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinen, aber doch bei
                              									verschiedenartiger Betrachtungsweise verschiedene Möglichkeiten zulassen. Hier die
                              									richtigen und ausschlaggebenden herauszusuchen ist die schwierige und
                              									verantwortungsvolle Aufgabe des Normalisators.
                           
                        
                           Gefahren.
                           Damit kommen wir zu den Gefahren, die mit jeder Normalisierung verbunden sind.
                           Nur allzuhäufig wird eine Norm oder gar eine Normenreihe aufgebaut, ohne daß alle
                              									Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Grenzen genügend durchdacht sind, etwas Unreifes
                              									wird zur Norm erhoben. Wenn dann im Laufe der Entwicklung die zugrunde liegenden
                              									Gedanken weiter ausreifen, so ist natürlich das Durchsetzen dieser reiferen Frucht
                              									sehr erschwert, weil ja bereits anderes als Norm festgelegt ist. Und das muß ja das
                              									Bestreben und der stets leitende Grundgedanke bei der Aufstellung und Benutzung von
                              									Normalien sein, daß sie so selten wie eben möglich geändert werden dürfen, weil sie
                              									ja sonst ihren Beruf als Normen verfehlen. Ganz besonders in bezug auf die
                              									Anwendungsmöglichkeit in benachbarten oder weiterab liegenden Sachgebieten
                              									zeigt sich sehr häufig die mangelnde Reife der zum Gesetz erhobenen Norm:
                              									Erschwernis auf dieser Seite steht dann der beabsichtigten und auf der anderen Seite
                              									wohl auch erzielten Energieersparnis gegenüber. Ganz besonders bedauerlich ist es,
                              									wenn, was auch nicht eben selten geschieht, in zwei verschiedenen Gebieten
                              									gleichzeitig normalisiert und in dem einen das zur unumstößlichen Norm erhoben wird,
                              									was im andern grundsätzlich verworfen wird. Gegensätze können hier entstehen und
                              									Fehden, die den Glaubenskämpfen des Mittelalters an Erbitterung nicht
                              									nachstehen.
                           Die bedauerliche Erscheinung, daß Unreifes zur Norm erhoben wird, und die dadurch
                              									entstehenden Schäden werden sich im allgemeinen zunächst auf begrenzten
                              									Sondergebieten bemerkbar machen, so daß ihre Wirkung Hemmungen des
                              									Gesamtfortschritts nur an einzelnen Stellen zeitigt. Je größer aber das Sachgebiet
                              									ist, das ein Normensystem sich erobert, desto größer ist auch die Wirkung auf den
                              									Gesamtfortschritt der Kultur und desto größer auch die Gefahr, daß dieser geschädigt
                              									wird durch ein Normalisieren im falschen Sinne. Die großen Normenkomplexe, die wir
                              									bereits besitzen, gewinnen immer größere Wucht durch Angliederung weiterer
                              									Sachgebiete; wenn einer diese Komplexe auf falschen oder
                              									zweckwidrigen Voraussetzungen beruht, so wird natürlich durch Anwachsen weiterer
                              									Normengebiete an denselben Stamm die etwaige Beseitigung des falschen Gedankens
                              									immer mehr erschwert. Je weiter sich das Einflußgebiet einer Norm – ob richtig, ob
                              									falsch – Anerkennung schafft, um so schwerer ist es wieder aus der Welt zu
                              									schaffen.
                           Nun kann wohl keines unserer Normensysteme, auch nicht die verbreitetsten, auch die
                              									Zahlen- und Maßsysteme nicht, einen Anspruch auf restlose Folgerichtigkeit machen,
                              									denn als Werkzeuge des Denkens sind auch diese Hilfsmittel entwicklungsfähig, und
                              									wie oben bereits ausgeführt wurde, ist wohl vorstellbar, daß einst selbst an die
                              									Stelle unserer allergebräuchlichsten Ordnungsmittel andere, folgerechtere Systeme
                              									treten werden. Man denke zum Beispiel an unser Winkelmeßsystem oder an unsere
                              									Zeitmessung. Trotzdem wäre es natürlich falsch, abgeleitete oder angelehnte
                              									Normensysteme nun nicht auf die bestehenden Grundpfeiler der Normierung aufzubauen,
                              									selbst wenn deren Fehler erkannt sind. Selbst wenn wir uns etwa darüber klar werden,
                              									daß zum Beispiel das Zentimeter, auf dem ein sehr großer Teil unserer ganzen
                              									wissenschaftlichen Maßlehre ruht, infolge eines bis dahin nicht genügend beachteten
                              									Gesetzes in unserer Zahlenhandhabung denkrichtig nicht als Grundeinheit zu benutzen
                              									wäre, sondern eigentlich entweder dem Meter oder dem Millimeter zu weichen
                              										hätteW. Porstmann, Normenlehre, Leipzig 1917.,
                              									so wäre es doch verfehlt, wenn man nun irgend eine neu aufzustellende Normenreihe,
                              									die gleichwertig zwischen anderen wesensgleichen stehen soll, aus diesem Grunde
                              									nicht auf dem Zentimeter aufbauen wollte. Das eben sind Grenzen für die gegenwärtige
                              									Normalisierung, daß wir über gewisse, allgemein anerkannte oder doch allgemein
                              									gebrauchte Hauptnormen nicht hinweggehen dürfen. Erst wenn man einmal daran gehen
                              									sollte, die Grundlagen der großen Systeme umzugestalten, dann würden die kleineren
                              									angeschlossenen, gewissermaßen sekundären Normenreihen automatisch mitgehen. Bis
                              									dahin aber liegt es im Sinne der steten, gleichmäßigen Fortentwicklung, daß sich
                              									zunächst ohne Nachprüfung der inneren Berechtigung die sekundären Einheiten an die
                              									Grundkristalle angliedern, damit sich wenige übersichtliche Komplexe
                              									herauskristallisieren, deren Wesensart und mit ihr ihre Daseinsberechtigung dann um
                              									so übersichtlicher geprüft werden kann.
                           Nur in ganz seltenen Fällen wird man sich bei der Aufstellung neuer Normen auf den
                              									Boden vollkommener Voraussetzungslosigkeit stellen können. Fast immer wird der
                              									Normalisator eine ganze Anzahl von verschiedenen Bedingungen auf ihre mehr oder
                              									minder grundsätzliche Bedeutung zu prüfen haben. Die endgiltige Entscheidung wird
                              									sich immer auf einer längeren Ueberlegung aufbauen, auf dem Anhören und Durchdenken
                              									von Gründen und Gegengründen. Für die kritische Beurteilung einer Normenreihe ist
                              									die Kenntnis dieser Gedankengänge, die zu ihrer Aufstellung geführt haben, natürlich
                              									von äußerster Wichtigkeit, und namentlich dann, wenn Zweifel an ihrer
                              									Daseinsberechtigung auftauchen, sollte es, bevor diese ausgesprochen werden,
                              									selbstverständliche Pflicht sein, die Berechtigung an Hand der Ueberlegungen zu
                              									prüfen, die zu diesem Dasein führten. Aus diesem Grunde wäre es sehr zu begrüßen,
                              									wenn bei allen Normalisierungen größeren Umfangs, sei es nun, daß sie von einzelnen
                              									Industriewerken, Vereinen oder Behörden vorgenommen werden, nicht nur die
                              									Ergebnisse, sondern möglichst ausführlich auch die bestimmenden Erwägungen
                              									veröffentlicht würden, die zur Festlegung gerade dieser Normen und vielleicht zur
                              									Verwerfung anderer Vorschläge geführt haben. Man veröffentlicht ja doch auch bei
                              									Gesetzen diese bestimmenden Grundlagen und Vorarbeiten. Bei der weitreichenden
                              									Bedeutung, die zum Beispiel die gegenwärtigen Normalisierungsbestrebungen des
                              									Vereines deutscher Ingenieure unzweifelhaft erlangen werden, ist eine möglichst
                              									ausführliche Veröffentlichung nicht nur der Normen selbst, sondern auch der
                              									Ausschußverhandlungen dringend zu wünschen, sei es nun in der Zeitschrift oder in
                              									einer besonderen Druckschrift. Die vom Verein herausgegebenen „Forschungsarbeiten
                                 										auf dem Gebiete des Ingenieurwesens“ wären zum Beispiel ein durchaus
                              									geeigneter Ort dafür, da eine gründliche, durchdringende Erfassung der Grundlagen,
                              									Grenzen und Gefahren der Normalisierung ganz zweifellos eine erhebliche
                              									Forschungsarbeit auf dem Gebiete des Ingenieurwesens erfordert.
                           
                        
                           Zusammenfassung.
                           Für die Aufstellung von Normalien kommen zwei grundsätzlich verschiedene Wege in
                              									Betracht: Die Benutzung zufällig entstandener Formen, die geordnet, gesichtet und
                              									ergänzt werden, oder die Festlegung von vornherein auf Grund sachdienlicher
                              									Ueberlegung. Die Grenzen für eine voraussetzungsfreie Normalisierung liegen im
                              									richtigen Anschluß an die allgemein gebräuchlichen Zahlen- und Maßsysteme sowie in
                              									der Rücksicht, auf benachbarte Sachgebiete. Jede Normalisierung zeitigt Gefahren
                              									durch die Möglichkeit, daß Unreifes zur Norm erhoben wird; die gedeihliche
                              									Fortentwicklung zum Ausgereiften kann dadurch erschwert werden. Es ist
                              									wünschenswert, daß bei Normalisierungen größerer Bedeutung die zugrunde liegenden
                              									Gedankengänge veröffentlicht werden.