| Titel: | Zur Frage der Hochschulreform. | 
| Autor: | A. Riedler | 
| Fundstelle: | Band 334, Jahrgang 1919, S. 149 | 
| Download: | XML | 
                     
                        Zur Frage der Hochschulreform.
                        Von Geheimen Regierungsrat Prof. Dr. A. Riedler.
                        [Zur Frage der Hochschulreform.]
                        
                     
                        
                           Dinglers polytechnisches Journal vom 14. 6. 19 bringt zur Hochschulfrage sehr
                              									bemerkenswerte Mitteilungen, die feststellen, daß Hochschulkreise zu einem großen
                              									Teil den Gedanken zustimmen müssen, die ich in einer Denkschrift „Zerfall und Neubau der Hochschule“ dem
                              									Ministerium gegenüber und vor der fachlichen Oeffentlichkeit ausgesprochen habe; daß
                              									meine Vorschläge Fragen betreffen, die von allen Einsichtigen und von der
                              									Lehrerschaft, also hoffentlich ganz allgemein, in ihrer Bedeutung längst anerkannt sind und daß wohl alle Hochschullehrer
                              									mir warm beistimmen. Weiter ist festgestellt, daß bei einer Besprechung in einem
                              									Kreise von Fachleuten der Industrie das gleiche ausgesprochen wurde, was ich
                              									erstrebe: die Erkenntnis zu vertiefen, den Wissensstoff
                              									zu kürzen, zusammenzufassen statt zu zersplittern, die
                              									allgemeinen Wissenschaftsgebiete bis ans Ende der Studienzeit auszudehnen usw. Es liegt also vollständige und allgemeine Zustimmung vor
                              									zu allem, was ich als wesentlich bezeichnet habe.
                           Unverständlich ist daher die Annahme Professor Dr. Gümbels, ich hätte schwere Vorwürfe nur erhoben, damit sich meine
                              									Reformgedanken auf einem hergerichteten Hintergrunde besser abheben, doch wohl
                              									abheben von dem herrschenden Zustande, der tatsächlich das Gegenteil dessen ist, was
                              									sich so vollständiger Zustimmung erfreut. Denn jetzt herrscht keine
                              									wissenschaftliche Vertiefung, der mathematische Unterricht hört sogar schon im
                              									ersten Studienjahre auf, der Wissensstoff wird nur zersplittert gelehrt, sowohl in
                              									den allgemeinen wie in den Fachwissenschaften. Der Studienplan, der doch die Studierenden beraten sollte, zählt zum Beispiel
                              									für Maschineningenieurwesen im dritten und vierten Studienjahr auf 20 Seiten über
                              									200 Fächer auf! Mathematik und Physik und ihre Zweige, die ein Wissenschaftsganzes bilden könnten, sind
                              									aufgelöst in Dutzende von Einzelfächern. Energiewirtschaft, das wichtigste Gebiet der Technik, ist zersplittert in
                              									20 Einzelfächer vier verschiedener Abteilungen. Aehnlich die Brennstoffwirtschaft, die Transporttechnik, das
                              										Siedlungswesen usw. Alles das sind Gebiete, die viel
                              									wichtiger sind als manche Sonderfächer.
                           Geschichtsschreiber der Technik werden sich einst wundern, daß selbst diese
                              									zersplitterten Gebiete nicht etwa die Technik behandeln, sondern nur einige Mittel der Technik, daß nur technische Wirkungen gelehrt werden, nicht aber die Wirkungen im großen,
                              									in der Wirtschaft des Landes und der Allgemeinheit. Richtung und Inhalt aller Lehre ist also
                              									wesentlich beschränkt auf Methodenlehre (Theorie) und
                              									Kenntnis einiger wichtiger Mittel der Technik
                              									(Fachlehre). Manches mag aus der Ueberlieferung erklärt werden, aus dem zufälligen
                              									Werden, die Zersplitterung liegt aber auch in neuesten Gebieten vor; sogar die Flugtechnik ist auf acht Lehrgebiete in drei Abteilungen
                              									zersplittert.
                           
                           Die tatsächlichen Zustände stehen offenbar in argem Widerspruch mit den neuen –
                              									allgemein anerkannten! – Forderungen. Es ist daher gar nicht notwendig, erst einen
                              									schwarzen Hintergrund zu schaffen, damit neue Forderungen sich genügend abheben.
                              									Zudem spricht die Tatsache vernehmlich mit, daß die Industrie seit etwa 15 Jahren
                              									immer zunehmend schwere Klagen gegen Schüler und Hochschulen erhebt und einige
                              									dieser Klagen berechtigt sind.
                           Wenn die Zustimmung zu meinen Vorschlägen so allgemein ist und im Lehrkörper alles zu
                              									der Reformbewegung drängt, was mir bisher unbekannt geblieben ist, warum war dieser
                              									Drang nicht früher wirksam, warum betätigt er sich noch immer nicht? Denn bisher
                              									sind nur Beratungen bekannt geworden, die zu keinem Ergebnis geführt haben,
                              									Beratungen insbesondere außerhalb der Hochschule in dem von der Maschinenindustrie
                              									eingesetzten Ausschuß, in den die Hochschulen ihre Vertreter entsandt haben, während
                              									sie selbst im eigenen Wirkungskreise bisher in der Reformbewegung gar nicht
                              									hervorgetreten sind.
                           Unter diesen Umständen ist es doch wohl notwendig, sich erst über Ziel und Weg und
                              									Mittel zu verständigen, um aus diesen unbefriedigenden Zuständen herauszukommen.
                              									Vorher haben Erörterungen über Einzelheiten, über Studienpläne und Prüfvorschriften
                              									keinen Wert. Die Grundsätze, über die man sich erst äußern und einigen müßte, sind
                              									in meiner Denkschrift ausgesprochen worden und begründet, und bisher sind sie nicht
                              									widerlegt worden. Ohne solche Einigung muß jede Erörterung unfruchtbar verlaufen.
                              									Wer in Schulfragen nicht über reiche Erfahrungen verfügt aus verschiedenen Bereichen
                              									der Lehre und der Vorbildung, wer nicht selbst schaffend und verantwortlich tätig
                              									ist, und wer nicht jeden Vorschlag in der Durchführung zu Ende denkt, der sollte auf
                              									Einzelheiten nicht eingehen.
                           Herr Gümbel verlangt zum Beispiel, daß die
                              									zusammenfassende fachwissenschaftliche Lehre an den Beginn des Studiums vorgeschoben
                              									werde, und verlangt zugleich, daß der grundlegende Unterricht gerade in den ersten
                              									Semestern nicht nur nicht beschnitten, sondern erweitert werde. Wie das wohl zu
                              									machen ist? Nachdem das erste Studienjahr jetzt schon den ungeübten Studierenden
                              									volle 45 Wochenstunden schwerer geistiger Arbeit aufbürdet! Die kaum einer
                              									vollständig leisten kann.
                           Statt solche unausführbaren Vorschläge zu machen, wäre es richtiger, erst die
                              									allgemeinen Vorschläge zu würdigen. Soll jedoch die Aufteilung der neuen Lehre
                              									gewertet werden, so ist zu berücksichtigen, daß sie das Ausmaß, des mathematischen
                              									Unterrichts nahezu verdoppeln, das des naturwissenschaftlichen mehr als verdoppeln
                              									will. Dies ist erreichbar, weil der zusammengefaßte
                              									Fachunterricht den notwendigen Spielraum schafft, und zwar so vollständig, daß die
                              									Belastung der Studierenden schon zu Anfang um ein Viertelsinkt und nach Durchführung der Neuerungen, insbesondere nach
                              									Schaffung neuer Lehrbehelfe, noch weiter sinken kann, so weit, daß sogar ein volles Studienjahr erspart werden kann.
                           Die Befürchtungen wegen des Wettbewerbs sind hinfällig,
                              									schon deshalb, weil von ihm die Lehre wie immer Vorteil
                              									ziehen wird. Das ist doch die Hauptsache. Haltlos ist auch die Sorge, die
                              									Studierenden würden das Vertrauen zur Lehrerschaft verlieren. Durch längst
                              									notwendige Reformen sicher nicht, wohl aber dann, wenn die Hochschule Jahrzehnte
                              									lang in einem zersplitterten, überlebten Zustande erhalten wird, wenn den
                              									Studierenden immer mehr Fachwissen aufgebürdet wird, das immer mehr ins Endlose
                              									wächst, während doch die Bildungsgelegenheiten längst nicht mehr allein zu Füßen der
                              									Lehrstühle zu finden sind. Die Zusammenfassung der Lehre,
                              									der Fachlehre insbesondere, ist dringend geboten und sollte gefördert werden, damit
                              									die Tat sichtbar und wirksam wird. Statt dessen verlangen
                              
                              									die Gegner erst den Stundenplan, den sie beurteilen
                              									wollen nach den jetzt herrschenden Gesichtspunkten; sie sehen nur die Verminderung
                              									der Lehre bei Beginn des Studiums und nicht die große Vermehrung nachher und fühlen
                              									sich verantwortlich für die jetzt schlecht beratenen Studierenden, ohne daß das
                              									Verantwortungsgefühl sich bisher bemerkbar gemacht hätte.