| Titel: | Eine englische Lehrwerkstatt. | 
| Autor: | Wernekke | 
| Fundstelle: | Band 334, Jahrgang 1919, S. 245 | 
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                        Eine englische Lehrwerkstatt.
                        Von Geh. Regierungsrat Wernekke, Zehlendorf.
                        [Eine englische Lehrwerkstatt.]
                        
                     
                        
                           In Heft 16, Bd. 334 von Dinglers Polytechnischem Journal tritt Professor
                              									Dr.-Ing. Gümbel für eine gründlichere und sachgemäßere
                              									Ausbildung der Hochschultechniker in der praktischen Seite ihres Berufs durch eine
                              									Regelung ihrer Tätigkeit als Lehrling in der Werkstatt ein und erhebt damit eine
                              									Forderung, deren Berechtigung in weiten Kreisen anerkannt werden wird. Die
                              									Erkenntnis, daß es zur Ausbildung in mechanischen Werkstätten besonderer
                              									Vorkehrungen bedarf, daß es nicht genügt, wenn die Lehrlinge, seien es nun
                              									zukünftige Arbeiter oder Akademiker, sozusagen nur nebenher ausgebildet werden, ist
                              									alt und hat schon an zahlreichen Stellen zur Einrichtung von Lehrlingswerkstätten
                              									geführt. Namentlich bei den preußischen Staatsbahnen ist dem Lehrlingswesen, der
                              									Ausbildung des Nachwuchses für die Arbeiter in den Werkstätten die weitestgehende
                              									Aufmerksamkeit gewidmet worden. Auch bei unseren Feinden ist man sich darüber klar,
                              									welche Bedeutung für die Leistungsfähigkeit einer mechanischen Werkstatt eine gute
                              									Ausbildung der Arbeiter hat; diese Erkenntnis brach sich in England namentlich Bahn,
                              									als es im Kriege darauf ankam, die nötigen Arbeiter zu stellen, um zahlreiche neue
                              									Fabriken gründen und mit Hochdruck betreiben zu können. Sie führte u.a. zur Gründung
                              									einer Lehrwerkstatt oder vielmehr einer Lehrfabrik, die uns zeigt, mit welcher
                              									Zielbewußtheit der Engländer den Krieg geführt hat; aber abgesehen davon, bietet sie
                              									auch vom rein technischen Standpunkt Interesse, und sie sei deshalb hier kurz
                              									beschrieben.
                           In Loughborough wurde im Winter 1915 im Anschluß an eine dort bestehende Technische
                              									Schule eine Lehrwerkstatt gegründet. Eine im Entstehen begriffene Munitionsfabrik in
                              									der Nähe wendete sich an jene Schule mit der Bitte, ihr weibliche Arbeiter
                              									auszubilden. Die Schule beschaffte zu diesem Zwecke etwa 20 gebrauchte
                              									Drehbänke und richtete im Anschluß an eine kleine Werkstatt, die sie bereits
                              									besaß, Ausbildungsgänge für Munitionsarbeiterinnen ein, in denen gleichzeitig je 60
                              									Frauen in zwei Schichten in der Bearbeitung von Granaten unterwiesen wurden.
                              									Insgesamt wurden in dieser Lehrwerkstatt etwa 400 Frauen ausgebildet. Die Leitung
                              									der Schule nahm von vornherein den Standpunkt ein, daß es sich nicht um eine
                              									gründliche, sondern um eine schnelle Ausbildung zahlreicher Arbeitskräfte handeln
                              									müsse und daß diese Ausbildung ganz auf die Bedürfnisse der Praxis zugeschnitten
                              									werden müsse. An diesem Grundsatz wurde beim Ausbau der Lehrwerkstatt zu einer
                              									Lehrfabrik festgehalten. Maßgebend für diese Erweiterung war eine Anregung des
                              									Munitionsministeriums, Arbeiter zur Herstellung von Lehren auszubilden, und dieser
                              									Zweig der Werkstattechnik hat denn eine wichtige Rolle gespielt. Es wurde für ihn
                              									eine besondere Abteilung eingerichtet; daneben bestand aber auch eine Gießerei, eine
                              									Modelltischlerei, eine Sägemühle, eine Automatenwerkstatt und Zeichensäle. Die Zahl
                              									der Schüler nahm beständig zu und gab Anlaß zur Einrichtung weiterer Werkstätten; so
                              									wurden in neuen Gebäuden eine Schleiferei, eine Fräserei, eine Schmiede und eine
                              									Schweißerei eingerichtet, und besondere Lehrgänge bildeten die Schüler in der
                              									Prüfung und Abnahme von Werkstatterzeugnissen aus. Alle diese Werkstätten wurden mit
                              									neuzeitlichen Maschinen ausgerüstet und bei ihrem Betrieb wurde stets betont, daß
                              									zwar das Ziel der Arbeit die Ausbildung der Arbeitenden sei, daß dieses Ziel aber
                              									nur erreicht werden könne, wenn die Arbeit wie in einer wirklichen Fabrik betrieben
                              									werde, wenn also alle Aufmerksamkeit auf die Erzeugnisse der Werkstatt gerichtet
                              									werde. Der Unterricht wurde von Technikern aus der Praxis erteilt; weil diese aber
                              									so ausgesucht worden waren, daß sie der Ausbildung des Nachwuchses besonderes
                              									Interesse entgegenbrachten, war es nötig, diesen Standpunkt immer wieder zu betonen,
                              									weil sie sonst geneigt waren, die Ausbildung in den Vordergrund zu rücken und die
                              									Leistung der Werkstatt als solche darunter zu vernachlässigen. Freilich mußte
                              									immerhin noch mancher Unterschied zwischen einer wirklichen und der Lehrwerkstatt
                              									gemacht werden; so standen z.B. in der Schleiferei 15 bis 20 Maschinen verschiedener
                              									Bauart, um die Schüler in der Bedienung der verschiedenartigsten Schleifmaschinen
                              									auszubilden. Aehnlich war es in der Automatenabteilung, und die Lehrwerkstatt war
                              									daher in der Lage, fast jeder Fabrik Arbeiter zu liefern, die auf die Bedienung der
                              									dort gebrauchten Maschinen vorbereitet waren. Zuweilen trat die Lehrwerkstatt auch
                              									als Unter-Unternehmer einer Anzahl von Heeresbedarf liefernden Fabriken auf, um bei
                              									Erfüllung der ihr so erteilten Aufträge ihre Schüler in dem betreffenden Zweig der
                              									Technik auszubilden.
                           Die Tätigkeit der Lehrfabrik hatte zunächst zum Ziel, einzelne Schüler in der
                              									Bedienung einer bestimmten Maschine auszubilden, sie beschränkte sich aber nicht
                              									hierauf. Ausgesuchte Schüler machten vielmehr ihre Ausbildung in verschiedenen
                              									Abteilungen durch und wurden so in den Stand gesetzt, bessere Stellen als der
                              									Durchschnitt zu übernehmen. Auch wurden zu gewissen Abteilungen nur Schüler
                              									zugelassen, die vorher bestimmte andere Abteilungen durchgemacht hatten. So durften
                              									sieh z.B. an der Arbeit im Zeichensaal nur solche Schüler beteiligen, die vorher
                              									mindestens einen Monat in einer Werkstatt tätig gewesen waren. Aehnliche
                              									Bestimmungen bestanden für die Teilnehmer an der Ausbildung in der Prüfung und
                              									Abnahme der Werkstatterzeugnisse, und die Einrichter an den Automaten mußten vor der
                              									Ausbildung für ihren Sonderberuf erst die Arbeit an verschiedenen Drehbänken
                              									erlernen. Aehnliche Wechselbeziehungen bestanden zwischen der Gießerei und der
                              									Modelltischlerei, zwischen der Montagewerkstatt und der Werkzeugmacherei. In
                              									einzelnen Fällen wurden Schüler, die gute Vorkenntnisse, sowohl in allgemeiner
                              									Bildung als auch in einem Zweig der Werkstattarbeit mitbrachten, soweit gefördert,
                              									daß sie Meister- oder Vorarbeiterstellen übernehmen konnten.
                           Im Anfang wurden in Loughborough fast ausschließlich Frauen ausgebildet; Männer, die
                              									zum Dienst im Heere verpflichtet waren oder deren Einstellung ins Heer zu erwarten
                              									war, waren von der Aufnahme in die Lehrwerkstätten ausgeschlossen. Später waren
                              									unter den Schülern viele aus dem Heere entlassene Kriegsteilnehmer, die auf
                              									diese Art einem bürgerlichen Beruf zugeführt wurden. Die Zahl solcher Schüler belief
                              									sich bis zum Waffenstillstand auf etwa 800.
                           Im Laufe der Zeit wurden der Lehrfabrik Ausbildungsgänge in verschiedenen
                              									Sonderzweigen der Technik angegliedert. Unter diesen ist namentlich das Prüffeld für
                              									Flugzeugmotoren zu nennen, in dem Frauen und Kriegsbeschädigte teils nur zur
                              									Bedienung der Motoren auf dem Prüfstand, teils aber auch soweit ausgebildet wurden,
                              									daß sie die sich herausstellenden Fehler auffinden und ihnen abhelfen konnten.
                              									Hierzu war eine vorherige Ausbildung an verschiedenen Maschinen und in der
                              									Montagewerkstatt nötig. In einer anderen Abteilung wurden Arbeiter in der Kunst des
                              									Härtens ausgebildet. Die Teilnehmer an derartigen Sonderlehrgängen wurden ebenso wie
                              									diejenigen, die die allgemeine Ausbildung durchgemacht hatten, in der Praxis gut
                              									untergebracht.
                           Auch die Fürsorge für das Wohl der Schüler wurde ähnlich wie in einer wirklichen
                              									Fabrik gehandhabt. Loughborough ist eine kleine Stadt, und die Verpflegung und
                              									Unterbringung der Schüler machte daher Schwierigkeiten. Ihnen wurden durch die
                              									Einrichtung einer Kantine, wo die Schüler zu Mittag essen und Nachmittags Tee
                              									erhalten konnten, sowie von drei Unterkunftshäusern, zwei für Frauen und eins für
                              									Männer, abgeholfen. Die Kantine wurde so bewirtschaftet, daß sie sich selbst
                              									erhielt, und war sehr beliebt. An sie wurden im Laufe der Zeit Klubräume
                              									angegliedert, die den Schülern auch am Abend offen standen. Als sich die Knappheit
                              									an Nahrungsmitteln bemerkbar machte, richtete die Kantine eigene Geflügelzucht und
                              									Gemüsegärtnerei ein, und es ist beabsichtigt, die Fabrik dadurch selbsterhaltend zu
                              									machen, daß noch eine Bäckerei und Wäscherei eröffnet wird. Alle diese
                              									Wohlfahrtseinrichtungen unterstehen der Leitung einer Dame, die auch für die erste
                              									Hilfe bei Unfällen sorgt.
                           Die Lehrfabrik hat sich im Laufe des Krieges als sehr nützlich erwiesen. Es sind in
                              									ihr ungefähr 2400 Schüler ausgebildet worden, für die auch Stellungen gefunden
                              									worden sind. Die guten Erfahrungen, die man mit dieser Art der Ausbildung gemacht
                              									hat, haben dazu geführt, daß die Werkstätten auch im Frieden beibehalten und weiter
                              									fortgeführt und vergrößert, sowie ihr Wirkungskreis durch die Aufnahme neuer Zweige
                              									der Werkstatt-Technik erweitert werden soll.