| Titel: | Zur Reform der technischen Hochschulen. | 
| Fundstelle: | Band 335, Jahrgang 1920, S. 17 | 
| Download: | XML | 
                     
                        Zur Reform der technischen
                           								Hochschulen.
                        Eine Erwiderung auf die Rede des Geh. Bergrats
                           								Prof. Dr. E. Jahnke, gehalten bei der Rektoratsübergabe an
                           								der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg.
                        Zur Reform der technischen Hochschulen.
                        
                     
                        
                           ... Sie haben in Ihrer Rektoratsrede viele Gedanken über die Stellung der
                              									Mathematik im technischen Hochschulunterricht ausgesprochen, denen wir gerne
                              									zustimmen, weil sie sich mit unsern oft, aber bisher vergeblich geäußerten Wünschen
                              									begegnen.
                           Ihre Vorschläge über die einheitliche mathematische Vorbildung auf den Mittelschulen
                              									nicht nur in der Funktionenlehre, sondern auch in der darstellenden Geometrie und
                              									der räumlichen Geometrie auf Kosten unwichtigerer Dinge verlangen baldige
                              									Durchführung.
                           Diese Durchführung bedingt nicht nur die Ausbildung aller technischen Mathematiker,
                              									sondern auch die aller Lehramtskandidaten der mathematisch-naturwissenschaftlichen
                              									Fächer auf der Hochschule, damit die Schulbildung eine Entlastung der Studierenden
                              									ermöglicht.
                           Ihr weiterer Gedanke, den mathematischen und mechanischen Unterricht über das ganze
                              									Studium und auf beide Prüfungen unter Entlastung der ersten Semester zu erstreckten,
                              									wird von allen berufenen Geistern schon lange vertreten und wird sich sicher
                              									durchsetzen.
                           Jedoch erweckt ein in Ihrer Rede enthaltener Ausspruch solche Bedenken in uns, daß
                              									wir uns verpflichtet fühlen, um Schaden zu verhüten, vor einem weiteren Kreise
                              									Widerspruch einzulegen. Sie sagen:
                           
                              „Daraus folgt für den mathematischen Unterricht die Forderung, mit dem
                                 										mathematischen Denken das technische Denken zu verknüpfen. Alsdann bleibt aber
                                 										nichts anderes übrig, als Mathematik und Mechanik in einer
                                    											einzigen Vorlesung, die vom Mathematiker gehalten wird, zusammen zu
                                    											lehren.“
                              
                           Ihr Vordersatz ist von programmatischer Bedeutung und wohl Allgemeingut aller, welche
                              									die technische Hochschule lieben. Es fragt sich aber, ob man die Folgerung Ihres
                              									Nachsatzes daraus ziehen darf.
                           Wollte man den Grundsatz nach Ihrer Schlußweise ganz zur Tatsache werden lassen,
                              									so müßten nicht nur Statik, Dynamik, Hydrodynamik und Festigkeitslehre, sondern alle
                              									Vorlesungen von mathematischer Färbung wie Wärmelehre, Hydraulik, Geodäsie, Statik
                              									der Baukonstruktionen, Elektrotechnik u.a. zu einer einzigen zusammengefaßt werden,
                              									die dann der Mathematiker zu halten hätte.
                           Diese letzte Folgerung braucht man aber nur auszusprechen, um ihre Unausführbarkeit
                              									auf der technischen Hochschule einzusehen. In kleinen Verhältnissen und wo
                              									Mathematik und Mechanik nicht die grundlegende Bedeutung haben, mag man, wenn die
                              									geeignete Persönlichkeit vorhanden ist, insbesondere Mathematik und Mechanik,
                              									vielleicht zuweilen auch andere verwandte Fächer vereinen, aber im allgemeinen
                              									scheint uns Professoren der Mathematik und der Mechanik für die Abteilungen der
                              									Bauingenieur-, Maschinenbau-, Elektrotechnischen- und Schiffbauwissenschaften die
                              									Vereinigung von Mathematik und Mechanik in einer
                              									Vorlesung nicht nur praktisch undurchführbar, sondern auch grundsätzlich verfehlt,
                              									und zwar aus folgenden Gründen:
                           Schon allein im mathematischen Unterricht hat sich eine nach Vortragskursen und im
                              									allgemeinen nach Persönlichkeiten getrennte Behandlung der Analysis und der
                              									darstellenden Geometrie als notwendig erwiesen.
                           Denn die Aufgabe, das Verhalten und die angenäherte Darstellung gegebener Funktionen,
                              									das Aufsuchen von Funktionen gewünschter Eigenschaften und die Abschätzung und
                              									Beurteilung der begangenen Fehler so zu lehren, daß der Ingenieur befähigt ist,
                              									solche Funktionen später in den technischen Vorgängen aufzuspüren und darzustellen,
                              									ist ganz verschieden von der Lehraufgabe, die Raumvorstellung, die räumlichen
                              									Maßverhältnisse und ihre einfachste zeichnerische Darstellung zu pflegen.
                           
                           Auch die Auflösung von linearen Gleichungen mit vielen Unbekannten oder
                              									algebraischen Gleichungen höheren Grades wird man nicht gern mit dem geometrischen
                              									Unterricht vermengen.
                           Gemeinsam für beide mathematischen Unterrichtszweige ist allerdings, daß von
                              									vornherein Voraussetzungen und Ansätze feststehen oder von anderer Seite geliefert
                              									und hingenommen werden. Der Mathematiker als solcher trägt für die Richtigkeit
                              									dieser Ansätze nicht die Verantwortung, sondern er hat nur deren mathematische
                              									Folgen richtig zu entwickeln. Der mathematische Unterricht an der technischen
                              									Hochschule würde sein Ziel nicht erreichen und die Geister nur verwirren, wenn er
                              									sich mit der Kritik der physikalischen oder technischen Voraussetzungen aufhalten
                              									würde.
                           Ganz davon verschieden aber sind die Forderungen des Mechanikunterrichts für
                              									Ingenieure. Diese Forderungen spalten sich in zwei Teile und in beiden muß der
                              									Unterricht dahin streben, die rechnende oder darstellende Mathematik, obgleich ihre
                              									vorherige Kenntnis zum Zweck der Durchführung notwendig ist, gegenüber dem
                              									physikalischen Inhalt zurücktreten zu lassen.
                           Wesentlich ist nämlich als die eine Seite des Mechanikstudiums die Auffindung und
                              									Rechtfertigung von Abstraktionen und Idealisierungen der Wirklichkeit. Es sei nur
                              									erinnert an die Begriffe des Massenpunktes, der Einzelkraft, des starren Körpers,
                              									der unzusammendrückbaren Flüssigkeit, der vollkommenen Elastizität. Ferner soll
                              									gelehrt werden die Zerlegung eines Vorganges in einfache, sich nicht mehr merklich
                              									beeinflussende Grundvorgänge und die fortwährend notwendige Prüfung der
                              									Voraussetzungen an ihren Folgerungen durch die Erfahrung. Oder man kann auch sagen,
                              									die Prüfung des jeweiligen theoretischen Ansatzes daraufhin, daß er alle wichtigen Einflüsse, ohne sich mit Nebensächlichkeiten zu
                              									belasten, wiedergibt.
                           Die andere Seite des Mechanikunterrichtes muß hinzielen auf das Verständnis und die
                              									Einübung der Prinzipien, auf die alle Gleichgewichts- und Bewegungserscheinungen im
                              									Laufe einer zweihundertjährigen wissenschaftlichen Entwickelung zurückgeführt worden
                              									sind. Kräftepolygon, räumliche Gleichgewichtsbedingungen, Prinzip der virtuellen
                              									Arbeit, Bewegungsgleichung des Massenpunktes, d'Alembertsches
                              									Gleichgewichtsprinzip der Dynamik, Energiesätze u.s.f. müssen so gebracht werden,
                              									daß der Anschauungskern mit dem geringsten, nicht mehr vermeidlichen mathematischen
                              									Beiwerk herausgeschält wird, und der Geist an den neuen, unabhängig von jeder
                              									mathematischen Darstellung bestehenden Zusammenhang gewöhnt wird. Nur so kann
                              									erreicht werden, daß sich schließlich bei jeder Betrachtung eines technischen
                              									Prozesses die mechanischen Grundvorstellungen des Zusammenwirkens unwillkürlich und
                              									ohne besondere geistige Anstrengung einstellen und sich ein Gefühl für das
                              									mechanisch Wesentliche entwickelt.
                           So verstehen wir die Unterrichtsziele des mathematischen und des mechanischen
                              									Unterrichtes des Ingenieurs. Wir sind uns klar, daß sie selten vollständig erreicht
                              									werden und daß manche Reform der Vorbildung und der Einrichtungen an der Hochschule
                              									selbst nötig sein werden, um mit der Zeit und ihren veränderten Anforderungen
                              									mitzugehen.
                           Eins aber wird die Entwickelung immer mehr mit sich bringen, das ist die Einsicht,
                              									daß, wenn die Ingenieure zu den oben; beschriebenen,
                              									so verschiedenen Arbeitsweisen erzogen werden sollen, eine reinliche Scheidung in
                              									Unterrichtszeit und Unterrichtspersönlichkeit notwendig ist. In der kurzen
                              									Studienzeit die technische Entwickelung mehrerer Jahrhunderte den jungen Leuten auch
                              									nur in den wichtigsten Zügen mitzugeben, ist nur möglich bei schärfster Einstellung
                              									jedes Lehrers auf den seinem Gebiet eigentümlichen, allgemeinen Gewinn für das
                              									technische Arbeiten.
                           Daß gleichzeitig mit dieser Arbeitsteilung ein innigeres Zusammenwirken, ein
                              									gemeinsamer Arbeitsplan und ein dauernder Austausch von Unterrichtserfahrungen aller
                              									Abteilungen anzustreben ist, kann garnicht genug betont werden, aber nur die
                              									Arbeitsteilung kann den Ingenieur zur Klarheit und Reife erziehen, und deswegen
                              									müssen wir nochmals einer Vereinigung von Mathematik und Mechanik in den Vorlesungen
                              									für Vollingenieure mit aller Entschiedenheit die Möglichkeit absprechen.
                           Reißner. Hamel. R. Rothe. Jolles. Weber.
                                 										Scheffers. Eugen Meyer.
                           
                        
                           Nachtrag zu meiner Rede, gehalten bei der Rektoratsübergabe an
                              									der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg.
                           Von Geh. Bergrat. Prof. Dr. E. Jahnke,
                              									Berlin-Charlottenburg.
                           Die vorstehenden Ausführungen geben mir erwünschte Gelegenheit, eine Stelle
                              									meiner Rektoratsrede weiter auszuführen, die ich aus Rücksicht auf die damalige
                              									Zeitbeschränkung nur kurz fassen durfte. Von vornherein möchte ich betonen, daß es
                              									mir ganz fern liegt, die Vorlesungen über Mechanik, die von einem Techniker gehalten
                              									werden, in ihrer Selbständigkeit etwa ausschalten zu wollen. Davon kann natürlich
                              									gar keine Rede sein. Was ich für erstrebenswert halte, ist zunächst, daß sich die
                              									für das erste und zweite Semester bestimmten einführenden Vorlesungen über die
                              									höhere Mathematik im engsten Zusammenhang mit der technischen Mechanik halten, daß
                              									insbesondere die Infinitesimal- und die Vektorenrechnung in Verknüpfung mit den
                              									elementaren Begriffen, Prinzipien und Sätzen der Mechanik und mit elementaren
                              									Aufgaben der Maschinentechnik – ihrer historischen Entwickelung entsprechend –
                              									vorgetragen werden, so daß die Vorlesungen zugleich eine Einführung in die
                              									mathematische Behandlung der Technik geben. Eine gewisse Kenntnis dieser elementaren
                              									Begriffe, Prinzipien und Sätze der Mechanik bringen die Studierenden mehr oder
                              									minder von der Mittelschule mit. Ich halte es daher für keine Mehrbelastung,
                              									wenn in der einführenden Vorlesung über höhere Mathematik die elementare Mechanik
                              									herangezogen wird. Andererseits erscheint es. mir wünschenswert, daß diese
                              									elementaren Dinge den Studierenden nicht noch einmal in einer selbständigen
                              									Vorlesung über Mechanik vorgetragen werden, denn der junge Mensch, wenn er auf die
                              									Hochschule kommt, erwartet, etwas Neues zu hören. Dieser Forderung würde nun der
                              									Mathematiker entgegenkommen, wenn er in seiner einführenden Vorlesung die jungen
                              									Leute diese ihnen mehr oder minder wohlbekannten Dinge durch die Brille des
                              									Mathematikers erschauen läßt, in einer Aufmachung, die durch die Grundlagen der
                              									Infinitesimalrechnung und die Elemente der Vektorenrechnung charakterisiert ist.
                           Eine solche für das erste und zweite Semester bestimmte Vorlesung über höhere
                              									Mathematik und technische Mechanik – ob man sie so nennen will oder höhere
                              									Mathematik mit Einführung in die Mechanik oder noch anders, wäre von sekundärer
                              									Bedeutung – könnte sehr wohl als grundlegende Vorlesung auch für die Abteilungen 
                              									für Bau- und für Maschineningenieure gelten. Sie würde dem jungen Menschen den
                              									Uebergang von der Mittel zur Hochschule außerordentlich erleichtern, indem sie ihm
                              									Beispiele an die Hand gibt, an die sich seine Anschauung anklammern, an denen er
                              									sich die neuen Begriffe und Sätze anschaulich klar machen kann. Und die anschauliche
                              									Darstellung ist es ja, die auch der Mathematiker an der technischen Hochschule ganz
                              									besonders zu betonen hat.
                           Auf diesem Wege würden die Vorlesungen über Mechanik, die nun vom dritten Semester an
                              									sich anschließen und naturgemäß einem Praktiker zu überlassen sind, entlastet. Der
                              									Vortragende könnte seine Zeit verwenden zur Vertiefung in die Prinzipien der
                              									Mechanik, in die graphische Statik, in die Theorie der Resonanzerscheinungen, in die
                              									Kreiseltheorie, er behielte Zeit zur Weiterführung der Festigkeitslehre und
                              									Hydraulik und behielte auch noch Zeit, wichtige Dinge zu betonen und hinreichend
                              									weit auszuführen, ohne, soweit mir scheinen will, die Stundenzahl zu vermehren.
                           Wenn in der einführenden Vorlesung über Mathematik und Mechanik der Mathematiker das
                              									Uebergewicht haben wird und haben soll, wird naturgemäß in den Vorlesungen über
                              									Mechanik in den darauffolgenden Semestern das Mathematische gegenüber dem
                              									physikalischen und technischen Inhalt zurücktreten müssen.
                           Die in den höheren Semestern anzusetzenden Vorlesungen über Sondergebiete der
                              									Mathematik hätten sich wieder stark anzulehnen an die Probleme der Mechanik und
                              									Maschinentechnik, einschließlich der Elektrotechnik.
                           Zweifellos könnten sich hier Ueberschneidungen zwischen dem Vortragsgebiet des
                              									Mathematikers und dem des Ingenieurs, der über ausgewählte Gebiete der technischen
                              									Mechanik vorträgt, einstellen. Ich würde aber geneigt sein, dies für keinen Nachteil
                              									meines Vorschlags anzusehen. Der einzige Einwand, der meines Erachtens in erster
                              									Linie gegen meinen Vorschlag betreffend das erste und zweite Semester ins Feld
                              									geführt werden kann, und dem ich bereits selber in meiner Rektoratsrede Ausdruck
                              									gegeben habe, liegt in der Schwierigkeit, für die Uebergangszeit die geeigneten
                              									Lehrkräfte zu beschaffen.