| Titel: | Wissenschaft und Werktätigkeit. | 
| Autor: | K. Schreber | 
| Fundstelle: | Band 339, Jahrgang 1924, S. 120 | 
| Download: | XML | 
                     
                        Wissenschaft und Werktätigkeit.
                        Theorie und Praxis.
                        Von Dr. K. Schreber.
                        SCHREBER, Wissenschaft und Werktätigkeit.
                        
                     
                        
                           Wissenschaft und Werktätigkeit.
                           1. Die werktätigen Ingenieure hegen vielfach Mißtrauen gegen wissenschaftliche
                              									Untersuchungen und andererseits sehen die Vertreter der reinen Wissenschaft gar zu
                              									häufig auf die Leistungen der werktätigen Ingenieure als minderwertig herab. Beide
                              									tun sich gegenseitig Unrecht. Beide Arbeitsgebiete stehen auf derselben Grundlage,
                              									verwerten sie aber in ganz verschiedener Weise.
                           Der werktätige Ingenieur soll eine ihm von außen gestellte Aufgabe in ganz bestimmter
                              									Zeit, Lieferfrist, lösen und muß dazu die Erfahrung benutzen, wie sie gerade
                              									vorliegt; er darf nicht warten, bis alle zur restlosen Lösung der gestellten Aufgabe
                              									nötigen Erfahrungen gewonnen sind. Dadurch unterliegt er in der Durchführung seiner
                              									Arbeit einem gewissen Zwang, welcher ihm die volle Freiheit nimmt; welcher ihm dafür
                              									aber auch einen augenblicklich erkennbaren Nutzen bringt.
                           Der Vertreter der reinen Wissenschaft bearbeitet die vorhandenen Erfahrungen,
                              									vermehrt und vertieft sie ganz nach seinem eignen Willen und seiner augenblicklichen
                              									Stimmung, ohne zu fragen, ob diese Fortentwicklung verlangt wird oder nicht, ob sie
                              									irgend jemand einen unmittelbaren Nutzen bringt oder nicht. Er ist in der Wahl
                              									seiner Aufgaben und in der Zeit ihrer Fertigstellung unbehindert und
                              									unbeschränkt.
                           Diese Freiheit gegenüber dem von ihm zu bearbeitenden Stoff betrachtet der
                              									Wissenschaftler als etwas besonders wertvolles, welches ihm das Recht zu geben
                              									scheint, sich als den höher stehenden einzuschätzen. Umgekehrt mißachtet gar zu oft
                              									der werktätige Ingenieur jede Arbeit, deren Nutzen nicht unmittelbar in die Augen
                              									springt, die sich nicht sofort bezahlt macht; er betrachtet sie als vollkommen
                              									nutzlos und daher erscheint ihm die Tätigkeit des reinen Wissenschaftlers meist als
                              									überflüssig.
                           Dieser Gegensatz zwischen Werktätigkeit und Wissenschaft besteht schon so lange, wie
                              									beide Geistestätigkeiten nebeneinander bestehen. Wie Plutarch berichtetGerlandt, Geschichte der Physik 1913, Seite 86
                                    											und 87., soll sich schon Archimedes nur durch inständiges Bitten
                              									des ihm noch dazu nahe verwandten Königs Hiero haben bewegen lassen, seine
                              									Wissenschaft in den Dienst seiner Vaterstadt bei deren Verteidigung zu stellen.
                              									Schon damals sahen die Philosophen, die Vertreter der reinen Wissenschaft, auf die
                              									Werktätigkeit als eine nur zum Kriegswesen gehörige Kunst geringschätzend
                              									herab. Wie sich die Vertreter der Kriegskunst dafür an den Philosophen rächten,
                              									darüber berichtet allerdings Plutarch nichts. Wahrscheinlich werden sie den
                              									Philosophen mit gleichet Münze gezahlt haben.
                           Noch in anderer Beziehung ist ein Unterschied zwischen Wissenschaftler und
                              									Werktätigem vorhanden, ein ähnlicher wie zwischen Dichter und Schauspieler. Von
                              									diesem sagt Schiller: Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze. So hat auch der
                              									Ingenieur erfahrungsgemäß von der Nachwelt keinen Kranz zu erwarten. Wer weiß etwas
                              									von den Ingenieuren, welche die von Archimedes ersonnenen Kriegsmaschinen ausgeführt
                              									haben? Wer kennt außerhalb der unmittelbaren Fachkreise einen Eugen Langen, einen
                              									Riedler? Aber er hat mit dem Schauspieler und noch mehr als dieser gemein, daß er
                              									mit der Gegenwart geizen kann; er kann sich seine Arbeit von seinem Auftraggeber
                              									bezahlen lassen, denn er hat einen Auftraggeber. Der Wissenschaftler, der sich seine
                              									Aufgabe selbst stellt, hat keinen Auftraggeber, der ihn bezahlt. Er veröffentlicht
                              									das Ergebnis seiner Forschungen, so daß gleich das ganze Volk, die ganze Menschheit,
                              									es kennen lernt. Diese aber fühlt keine Veranlassung, für die Bereicherung ihrer
                              									Erkenntnis etwas zu zahlen; es schiebt jeder die Bezahlungsverpflichtung auf den
                              									anderen, weil keiner den Auftrag gegeben hat. Nur einsichtige Regierungen, welche
                              									die Wichtigkeit wissenschaftlicher Forschung erkennen, bezahlen als Vertreter des
                              									Volkes den Wissenschaftler.
                           2. Nicht nur das Kind fragt bei jeder Gelegenheit, die ihm etwas Neues bringt, nach
                              									dem Warum, sondern jeder denkende Mensch tut dieses, wenn auch mit anderen Worten,
                              									gerade so; in dieser Beziehung bleibt er dauernd Kind. Du Bois-Reymond sagt in
                              									seiner Antwort auf die Antrittsrede von Werner Siemens in der Berliner Akademie, das
                              									Wort Warum ist unter allen Wörtern der menschlichen Sprache das menschlichste. Diese
                              									dauernde Frage zu beantworten, ist Aufgabe der reinen Wissenschaft, sie fördert die
                              									allgemeine Erkenntnis, das Verstehen der Natur und des Geschehens um uns herum. Das
                              									ist ihre Aufgabe und ihr Nutzen. In wirtschaftlichen Werten läßt sich dieser Nutzen
                              									natürlich nicht angeben. Er ist aber doch vorhanden und drückt sich in der
                              									allgemeinen Anerkennung aus, welche jedem Fortschritt der reinen Wissenschaft auch von
                              									solchen gezollt wird, welche nicht unmittelbar mit ihr zu tun haben.
                           Die Wissenschaft fördert die Erkenntnis lediglich um ihrer selbst willen, ohne an
                              									eine Nutzbarmachung zu denken.
                           Als Lord Kelvin seinen Freund Joule veranlaßte, den bekannten Ueberströmungsversuch
                              									Gay-Lussac, welcher für die Kenntnis der Eigenschaften der Gase von grundlegender
                              									Bedeutung ist, zu verfeinern, hatten beide nur das Bestreben, die Erkenntnis der
                              									Natur zu fördern. Daß 33 Jahre nach der Veröffentlichung jener rein
                              									wissenschaftlichen Forschung durch die werktätige Geschicklichkeit Lindes aus ihr
                              									das äußerst wichtige und große, in wirtschaftlichen Werten leicht anzugebenden
                              									Nutzen bringende Gebiet der Luftverflüssigung entwickelt werden konnte, haben jene
                              									Forscher nicht geahnt. Der Gedanke an eine wirtschaftliche Verwertung ihrer rein
                              									wissenschaftlichen Forschergedanken war ihnen vollständig fremd. Dennoch wird jeder,
                              									der jetzt den auf Grund ihrer Gedanken hergestellten künstlichen Dünger verwertet,
                              									eingestehen müssen, daß diese Gedanken recht wirtschaftlich waren.
                           Es ist falsch, eine Arbeit, die nicht unmittelbar einen wirtschaftlichen Nutzen
                              									bringt, gleich als nutzlos zu bezeichnen; man kann nie sagen, was für Folgerungen
                              									noch daraus gezogen werden können.
                           Uebrigens arbeitet gelegentlich auch die Werktätigkeit nach diesem Verfahren der
                              									reinen Wissenschaft, und es sind nicht gerade die erfolglosesten ihrer Vertreter,
                              									welche so handeln. „Nachdem das Ziel erreicht war, eine Kältemaschine zu
                                 										besitzen, welche bei einem mehrfach höheren Wirkungsgrade gegenüber den
                                 										seitherigen Eismaschinen einen zuverlässigen und ökonomischen Betrieb
                                 										gewährleistete, ging ich an die Ueberlegung, wie die Verwendung der Kälte in
                                 										zweckmäßigster Weise zu gestalten sein werde.“ So schreibt von Linde in
                              									seiner Lebensbeschreibung von den Kolbenverdichtermaschinen und, nachdem er die
                              									Erfindung seines Verfahrens der Luftverflüssigung dargestellt hat, schreibt er
                              									weiter: „Wenn es. Aufgabe der Naturforscher ist, ohne Rücksicht auf die
                                 										Nutzanwendung zu arbeiten, so erfüllt der Ingenieur die seinige gerade durch
                                 										möglichst vielseitige Anwendung der Forschungsergebnisse. In diesem Sinne fragte
                                 										ich mich: Was ist mit der neuen Errungenschaft einer einfachen Vorrichtung zur
                                 										Verflüssigung beliebiger Gasmengen anzufangen.“ Die Anwendungsgebiete,
                              									welche damals gefunden wurden, sind gegenüber den jetzigen so klein und
                              									minderwertig, daß man wohl sagen darf, ein unmittelbarer augenblicklicher Nutzen der
                              									Erfindung war nicht vorhanden. Jetzt hat sich aus dieser im ersten Augenblick
                              									nutzlosen Erfindung eine so große Technik entwickelt, daß man das Verfahren gar
                              									nicht mehr missen kann, daß man sich gar nicht vorstellen kann, daß es einmal
                              									nutzlos gewesen ist. Linde hat also zunächst als reiner Wissenschaftler gearbeitet
                              									und trotzdem wird jeder Ingenieur ihn mit Stolz als Ingenieur bezeichnen.
                           3. Im allgemeinen ist aber die Aufgabe der Werktätigkeit eine ihr von außen
                              									gestellte, auf einen bestimmten Nutzen hin arbeitende. Das Verlangen des Menschen
                              									nach Bequemlichkeit und Annehmlichkeit des Lebens verlangt von der Werktätigkeit
                              									bald dieses bald jenes Werk, welches sofort angefertigt werden muß. Der Mensch,
                              									welcher ein Verlangen geäußert hat, läßt sich, nachdem ihm dieses Verlangen einmal
                              									zum Bewußtsein gekommen und dadurch zu einem Bedürfnis geworden ist, nicht hinhalten
                              									noch vertrösten, bis die Werktätigkeit einmal die Stimmung gefunden habe, die
                              									Aufgabe zu lösen, sondern verlangt sofortige Befriedigung.
                           Gerade durch diese „Lieferfrist“ wird die Aufgabe der Werktätigkeit
                              									schwieriger als die der reinen Wissenschaft. Das hohe Lied dieser Schwierigkeit ist
                              									Max Eyths Erzählung: Berufstragik, die in dem Brief des Brückenbauers an seine Frau
                              									vom 6. November 1872 gipfelt: „Von manchem kritischen Punkt wissen wir noch so
                                 										blutwenig und sollen und müssen darauf los bauen“. Er hat dieses Müssen mit
                              									dem Tode bezahlt; aber die Werktätigkeit hat sich nicht abschrecken lassen, die
                              									Brücke ist wieder aufgestellt worden und nun steht sie da, allen Schwierigkeiten zum
                              									Trotz. Der damalige Ingenieur hat seine Aufgabe gelöst so gut sie damals gelöst
                              									werden konnte. Spätere mögen ähnliche Aufgaben besser lösen, – man denke an die
                              									Müngstener Brücke –, aber darauf konnte und wollte der Erbauer der Eisenbahn,
                              									welcher die Brücke in Auftrag geegeben hatte, nicht warten; die Brücke mußte sofort
                              									gebaut werden und wenn es den Tod koste.
                           Diese durch die Lieferfrist bedingte Schwierigkeit überwinden zu können, ist der
                              									Stolz der werktätigen Ingenieure, wie ihn der reine Wissenschaftler nicht empfinden
                              									kann.
                           4. Wie nimmt nun der Mensch das Ergebnis der reinen Wissenschaft und das der
                              									Werktätigkeit auf?
                           Die reine Wissenschaft gibt Früchte vom Baum der Erkenntnis, sie macht den Menschen
                              									allwissender, „Gott ähnlicher“; sie schafft Befriedigung des Geistes. Die der
                              									Werktätigkeit gestellten Aufgaben beziehen sich auf das rein leibliche Behagen, sie
                              									arbeitet für den Körper, für das dem Tier Verwandte im Menschen. Sie schafft
                              									Befriedigung des Leibes.
                           Ein Abwägen zwischen Werktätigkeit und Wissenschaft in bezug auf ihren Wert, ihren
                              									Nutzen ist nicht möglich. Die eine hat die schwierigere aber für den meist als
                              									weniger wertvoll eingeschätzten Leib bestimmte Aufgabe. Die andere hat zwar die
                              									größere Freiheit und bequemere Schaffensmöglichkeit, verlangt also geringere
                              									Anstrengung, arbeitet aber für den als wertvoller eingeschätzten Geist des
                              									Menschen.
                           Werktätigkeit und Wissenschaft haben keinen zum gegenseitigen Vergleich ihres Wertes
                              									brauchbaren gemeinschaftlichen Maßstab; sie sind inkommensurabel. Beide sind aber
                              									gleich nötig für das volle, das geistige und leibliche Behagen des Menschen und
                              									deshalb muß man sagen, sie sind einander gleichwertig. Es darf keine der anderen
                              									vorgezogen werden, keine darf höher eingeschätzt werden als die andere, keine ist
                              									minder nötig als die andere.
                           Die große Menge ist nicht imstande, miteinander nicht vergleichbare Werte
                              									gegeneinander abschätzen zu können; und da der Geist, der den Menschen vom Tiere
                              									unterscheidet, mehr geachtet wird als der Leib, den ja das Tier auch hat, so wird
                              									auch der Geistesarbeiter, welcher sich für die Fortentwicklung des Geistes bemüht,
                              									ein größeres Ansehen bei der großen Menge besitzen, als der, welcher für die
                              									Bequemlichkeit des Leibes tätig ist.
                           Hat nicht jedes Winkelblättchen große Aufsätze über Einstein gebracht, ohne daß der
                              									Schreiber auch nur einen Schimmer von Ahnung hatte, worin eigentlich die Leistungen
                              									Einsteins bestehen? Wer kennt dagegen den Erbauer der Müngstener Brücke? Ich
                              									befürchte, nicht einmal die Solinger und Remscheider werden ihn kennen, so oft sie
                              									auch über die Brücke fahrenSchreber,
                                    											Hervorragende Leistungen der Technik 1913, S. 39..
                           
                           Manche Ingenieure machen aus dieser geistigen Einstellung der großen Menge
                              									gerade den Deutschen einen Vorwurf; das ist unberechtigt; sie findet sich in
                              									derselben Weise bei allen Völkern. Wer unbefangen den Einsteinrummel mit angesehen
                              									hat, und die Literatur fremder Völker kennt, findet ihn, mutatis mutandis, in
                              									Molieres Gelehrten Frauen herrlich schön beschrieben.
                           5. Beide Arbeitsgebiete des menschlichen Geistes beruhen auf der gleichen Grundlage;
                              									beide gehen von der Erfahrung aus und zwar von der Einzelerfahrung. Sämtliche
                              									Erfahrung besteht aus einzelnen Erfahrungstatsachen, aus einzelnen Beobachtungen.
                              									Die wissenschaftliche Tätigkeit besteht darin, diese einzelnen Erfahrungen zu
                              									ordnen, Zusammengehöriges zusammenzufassen und, soweit dieses möglich ist, durch ein
                              									einfaches Naturgesetz auszusprechen.
                           Die ersten Anfänge dieser wissenschaftlichen Tätigkeit macht auch der einfachste
                              									Vertreter der Werktätigkeit, der Handwerksmeister mit. Er bildet ebenso wie jeder,
                              									der unmittelbare Erfahrungen und Beobachtungen verwerten will, aus einer Reihe von
                              									einzelnen Erfahrungen seinen allgemeinen Satz, der sich in der sogenannten
                              									Faustformel ausdrückt. Mit dieser arbeitet er dann weiter, mag ihm diese geistige
                              									Tätigkeit des Zusammenfassens von Erfahrungstatsachen zu einer Formel zum Bewußtsein
                              									gekommen sein oder nicht.
                           Je umfassender aber das Gebiet wird, aus dem die Einzelerfahrungen stammen, um so
                              									weniger genügt die einfache Faustformel, um so schärfer muß sie zu einer
                              									mathematischen Gleichung durchgebildet sein.
                           Das Ziel jeder Forschung, das der reinen Wissenschaft sowohl, wie das, welches von
                              									der Werktätigkeit verlangt wird, ist und bleibt die mathematische Gleichung. Erst
                              									eine, alle Umstände richtig bewertende mathematische Gleichung gibt die Möglichkeit,
                              									Einzelerfahrungen leicht und richtig auszusprechen, so daß Mißverständnisse
                              									ausgeschlossen sind, um die Erfahrungen für neue Aufgaben anwenden zu können. Schon
                              									Leonardo da Vinci sagtGerland, Geschichte
                                    											der Physik 1913, Seite 244., „allein wo Mathematik anwendbar
                                 										ist, herrscht Gewißheit, und nur soweit sie sich anwenden läßt, steht das Wissen
                                 										unbedingt fest“. Ohne Mathematik können sich technische Fächer nur
                              									entwickeln, so lange sie in den Kinderschuhen stecken.
                           Galilei hatte die Grundgleichung für die Fallgesetze aufgestellt. Keppler hatte
                              									dasselbe für die Planetenbewegung geleistet. Newton faßt beide Gleichungen in seinem
                              									Gravitationsgesetz zu einem Naturgesetz zusammen, welches nun sämtliche Erfahrungen
                              									über die Bewegung der Planeten und der anderen Sterne wie der Körper auf der Erde
                              									umfaßt und sie leicht und richtig auszusprechen gestattet, so daß jedes
                              									Mißverständnis ausgeschlossen ist. Aus ihr kann man sämtliche Bewegungen in ihrem
                              									Verlauf beschreiben, ohne sie selbst beobachten zu müssen; ja sogar bevor die
                              									Bewegung eintritt, ihren Verlauf vorhersagen.
                           Mit der Aufstellung dieser umfassenden Gleichung haben wir aber schon das der
                              									Werktätigkeit noch mögliche Gebiet der wissenschaftlichen Tätigkeit verlassen und
                              									sind in das Gebiet der reinen Wissenschaft gekommen. Während die Werktätigkeit sich
                              									mit dem Sammeln der Einzelerfahrungen, und gedrängt durch die an sie herantretenden
                              									Aufgaben des Lebens, mit der Aufstellung der einfachsten Faustformeln begnügen muß,
                              									gelangt die Wissenschaft durch immer weiter und weiter um sich greifendes
                              									Zusammenfassen zwar zu immer größerer und größerer Erkenntnis, entfernt sich
                              									aber im selben Maße immer weiter und weiter von der Möglichkeit der unmittelbaren
                              									Anwendbarkeit ihrer Errungenschaften durch die Vertreter der Werktätigkeit.
                           Hier tritt nun die angewandte Wissenschaft vermittelnd ein. Ihre Aufgabe ist, aus den
                              									von der reinen Wissenschaft aufgestellten allgemeinen Sätzen die Folgerungen zu
                              									ziehen, welche gewissermaßen die Faustformeln der Werktätigkeit auf eine breitere,
                              									gesichertere Grundlage stellen. Gleichzeitig soll sie aber auch für die mit der
                              									Entwicklung der Werktätigkeit immer schwieriger und schwieriger gewordenen Aufgaben
                              									die rechnerische Grundlage vermittelst der allgemeinen Sätze der reinen Wissenschaft
                              									liefern.
                           Wir bekommen also für die auf Sinneserfahrungen beruhenden Geistestätigkeiten
                              									folgendes Schaubild:
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 339, S. 121
                              Einzelbeobachtung und -erfahrung.;
                                 										Gelegentliches Häufen von Einzelbeobachtungen und -Erfahrungen; Aufstellen der
                                 										die unmittelbaren Beobachtungen zusammenfassenden Faustformeln; Planmäßiges
                                 										Sammeln von Einzelerfahrungen; Aufstellen des mathemathischen Ausdruckes für das
                                 										einfache Naturgesetz; Anwendung von unmittelbaren Beobachtungen, Faustformeln
                                 										und Schlußfolgerungen der angewandten Wissenschaft zur Lösung wirtschaftlicher
                                 										Aufgaben; Werktätigkeit; Ziehen von Schlußfolgerungen aus den allgemeinen
                                 										Gesetzen zur Erleichterung der Lösung wirtschaftlicher Aufgaben; Angewandte
                                 										Wissenschaft; Vereinigung mehrerer mathematischer Gleichungen zu einem
                                 										umfassenden Naturgesetz zur Förderung der allgemeinen Naturkenntnis.; Reine
                                 										Wissenschaft.
                              
                           Je weiter im Laufe der Entwicklung die Glieder der Endreihe dieses Schaubildes
                              									auseinanderrücken, um so mehr trennen sich auch die Glieder der früheren Reihen so
                              									daß zur Zeit schon in der zweiten die Trennung immer merkbarer wird. Andererseits
                              									ist die Grenze zwischen den Gliedern der letzten Reihe durchaus nicht fest: Was der
                              									eine noch zur Werktätigkeit zählt, wird der andere vielleicht- schon weit in die
                              									angewandte Wissenschaft hinein versetzen. Ebenso ist es bei der anderen
                              									Trennung.
                           Ist durch das Zusammenfassen von Einzelbeobachtungen zu einer mathematischen
                              									Gleichung ein Satz gefunden, so ist dieser erst dann als richtiges Naturgesetz
                              									anzuerkennen, wenn er in allen seinen Folgerungen mit der Erfahrung übereinstimmt.
                              									Es müssen aus dem Satz sämtliche, mathematisch möglichen Folgerungen gezogen und an
                              									der Erfahrung geprüft werden. Das ist die Aufgabe des Forschens, des Studierens.
                           Beim Studieren wird also ein bestimmter aus der Erfahrung erschlossener Satz obenan
                              									gestellt, dessen Folgerungen geprüft werden. Stimmen die gezogenen Folgerungen mit
                              									der Erfahrung überein, so ist der Satz in diesen Fällen bestätigt. Stimmt auch nur
                              									eine nicht, so ist der Satz falsch, oder muß wenigstens in seiner Allgemeinheit
                              									beschränkt werden. Je weitere Folgerungen aber gezogen werden, die mit der Erfahrung
                              									übereinstimmen, um so richtiger ist der Satz, um so berechtigter war seine
                              									Erschließung aus der Erfahrung und mit um so größerer Ruhe darf man ihn auch dort
                              									anwenden, wo man nicht gleich nachprüfen kann.
                           Beim Probieren dagegen wird auf gut Glück ein Versuch angestellt, der vielleicht
                              									zufällig das erwartete Ergebnis zutage fördert. Er braucht aber trotzdem nicht beweiskräftig zu
                              									sein, denn das Ergebnis ist vielleicht gar nicht von der für wesentlich gehaltenen
                              									Bedingung abhängig, sondern von einer anderen nicht erkannten, welche zufällig
                              									ebenfalls erfüllt war. Versuch in diesem Sinne ist durchaus nicht immer nur ein
                              									einzelner Versuch; oft kann das Probieren eine lange kostspielige Versuchsreihe oder
                              									gar viel Versuchsreihen bedingen.
                           EythWeihe, Max Eyth 1916, Seite 32.
                              									schreibt über dieses Probieren: „Viele Tausende werden alljährlich in England für
                                 										Versuche vergeudet, wo eine einfache Berechnung, eine richtige Anwendung
                                 										physikalischer oder selbst geometrischer Lehrsätze die Frage sicher entschieden
                                 										hätte. Oft genug führt dieser Weg des Experimentierens zum praktischen Ziel, man
                                 										muß aber sehr reich sein ihn zu begehen“.
                           So manche Frage läßt sich wegen dieser ungeheuren Kosten gar nicht auf dem Wege des
                              									Probierens beantworten. Fragen wir z.B., welches die zum Betrieb von Dampfmaschinen
                              									geeignetste Flüssigkeit ist, so erkennen wir schon aus der ungeheuren Menge von
                              									Flüssigkeiten welche es gibt, daß durch Probieren hier gar nichts zu erreichen ist.
                              									Auf wissenschaftlichem Wege, durch das vielfach so verpönte Studieren ist diese
                              									Frage leicht zu beantworten und man findet dann gleichzeitig auch noch die Grenzen
                              									der Wirtschaftlichkeit der Dampfmaschine überhauptSchreber, Theorie der Mehrstoffdampfmaschinen
                                    											1903..
                           Beim Forschen kann ein falsches Ergebnis nicht vorkommen; der vorangestellte Satz
                              									wird entweder bestätigt oder als unrichtig erwiesen. Beim Probieren kann leicht ein
                              									falsches, ein täuschendes Ergebnis herauskommen.
                           Das Forschen erfordert viel Vorbereitung; es muß erst durch eine, vielen vielleicht
                              									zu umständliche mathematische Rechnung die zu prüfende Schlußfolgerung aus dem
                              									allgemeinen Satz gezogen werden, dann müssen die Bedingungen des Versuches dieser
                              									Schlußfolgerung entsprechend aufgestellt werden und erst dann kann das Beobachten
                              									beginnen.
                           Hierzu hat der Vertreter der reinen Wissenschaft, der durch nichts gedrängt wird, die
                              									nötige Zeit und Ruhe. Seine Tätigkeit ist deshalb wesentlich Forschertätigkeit. Dem
                              									werktätigen Ingenieur bleibt diese Ruhe meist nicht. Er muß die ihm gestellte
                              									Aufgabe in vorgeschriebener Zeit lösen. Er ist deshalb, wenn die wissenschaftliche
                              									Lösung seiner Aufgabe nicht schon bekannt ist, auf das Probieren angewiesen, welches
                              									ihm durch einen Versuch oder eine kurze Versuchsreihe eine Entscheidung für einen
                              									vorliegenden Fall zu treffen gestattet. Daher in den Kreisen der werktätigen
                              									Ingenieure die Ueberschätzung des Satzes: Probieren geht über Studieren. Von den
                              									meisten, die sich auf ihn berufen, wird dabei vergessen, daß das Probieren keine
                              									Sicherheit für die Richtigkeit des Ergebnisses bietet und keine Uebertragung auf
                              									andere Fälle zuläßt.
                           Der reine Wissenschaftler kann bei seinem Forschen den einzig und allein zum
                              									vollkommenen Ziel führenden Weg des Baco „dissecare naturam“ anwenden, die
                              									einzelnen Grundveränderlichen aufsuchen, mögen es noch so viele sein, durch
                              									teilweise Differentiation der zu prüfenden Gleichung nach diesen Veränderlichen
                              									deren Einfluß zunächst rechnerisch feststellen und nun für jede einzelne nachprüfen,
                              									ob die Gleichung den Erfahrungen standhält oder nicht, ob sie so bleiben darf oder
                              									ob, und in diesem Falle, wo sie abgeändert werden muß, oder ob sie ganz zu verwerfen
                              									ist.
                           Der werktätige Ingenieur muß gleich „auf das Ganze“ gehen, weil er schnell
                              									fertig sein muß; dadurch entgeht ihm die Möglichkeit, das Ergebnis seines
                              									Probierens auf andere Fälle anwenden zu dürfen. Der Wissenschaftler verbraucht
                              									viel Zeit, erhält aber dafür ein leicht zu verallgemeinerndes Ergebnis, wodurch sich
                              									der Zeitverbrauch wieder bezahlt macht.
                           6. Der eben angeführte Satz von Max Eyth gilt, soweit es sich um dessen Urteil über
                              									den Wert des Probierens handelt, für alle Zeiten und für alle Länder, auch für unser
                              									jetziges Deutschland; aber soweit es sich um die Anwendung auf England handelt, nur
                              									für die Zeit, wo Eyth in England lebte. England und namentlich Amerika haben längst
                              									erkannt, daß der Vorsprung, den Deutschlands Feinindustrie hatte, nur durch die
                              									wissenschaftliche Durchdringung der Technik ermöglicht ist. Beide machen die größten
                              									Anstrengungen, wissenschaftliche Forschungsinstitute für die Werktätigkeit nutzbar
                              									zu machen und so Deutschland zu überflügeln.
                           Nur so lange die Führer unserer Industrie wissenschaftlich geschult bleiben, nur so
                              									lange ihnen während ihrer Studienzeit Achtung auch vor der Wissenschaft beigebracht, die nicht einen sofort in Geld angebbaren
                              									Nutzen bringt, nur so lange dem Nachwuchs die Ausbildung des Geistes das wichtigste
                              									ist ohne Rücksicht auf schnelles Examen, nur so lange darf Deutschland damit
                              									rechnen, daß seine Industrie trotz der Schäden, die ihr Krieg und Revolution
                              									gebracht haben, die führende Stellung beibehalten wird, die sie sich, seit Preußen
                              									den Zollverein gegründet hatte, errungen hat.
                           Das einzige, was Deutschland ausführen kann, sind die Erzeugnisse der Feinindustrie,
                              									sind Fertigwaren. Als Jahrhunderte altes Kulturland hat Deutschland keine Rohstoffe
                              									mehr; die einzigen, die es noch hatte, Kohle und Eisen, sind in Versailles
                              									abgetreten worden. Wir müssen alle Rohstoffe aus dem Ausland holen, hier im Lande zu
                              									Fertigwaren verarbeiten und dann diese Erzeugnisse der Feinindustrie ausführen. Ohne
                              									sorgfältige allgemein wissenschaftliche Ausbildung und die Fähigkeit, diese
                              									Ausbildung anwenden zu können, ist die Fortbildung der Feinindustrie nicht
                              									möglich.
                           Die Fähigkeit, das Gelernte anwenden zu können, läßt sich nicht gut lehren und
                              									lernen, sie ist im wesentlichen angeboren, eine Gabe der Natur, die der Einzelne bei
                              									der Geburt mitbringt. Aber sie läßt sich doch mehr oder weniger ausbilden. Die
                              									Universitäten benutzen dazu schon seit jeher das Hilfsmittel der Promotionsarbeit.
                              									Leider haben die Hochschulen namentlich die Fakultäten für Maschinenwirtschaft von
                              									dem ihnen schon seit der Jahrhundertwende verliehenen Promotionsrecht, nicht diesen
                              									unterrichtswissenschaftlichen Gebrauch gemacht. Die Mehrzahl der in dieser Fakultät
                              									vorgenommenen Promotionen betrifft Herren, welche schon lange in der Werktätigkeit
                              									gestanden haben. Nur ganz selten sind Herren, welche ihre Promotionsarbeit als
                              									Abschluß ihres Studiums anfertigen.
                           Hier liegt noch eine wichtige Lücke im Hochschulunterricht vor. Der Hochschullehrer
                              									soll nicht nur Wissen vermitteln, sondern er soll auch die Anlagen der Schüler zum
                              									selbständigen Verarbeiten des Gelernten, die Fähigkeit das Gelernte anwenden zu
                              									können, ausbilden. Daß das so wenig geschieht, liegt vielleicht daran, daß die aus
                              									der Werktätigkeit geholten Professoren nicht geübt sind, Aufgaben zu sehen, zu deren
                              									Bearbeitung sie dann ihre Schüler anregen können. Während ihrer Beschäftigung in der
                              									Werktätigkeit sind ihnen die Aufgaben, die sie ausführen sollten, von den Vertretern
                              									der Wirtschaft gestellt worden, so daß ihnen die Uebung fehlt, selbst Aufgaben zu
                              									sehen, deren Ausführung einen Anfänger begeistern kann.
                           Der gute Oberingenieur ist noch lange kein guter Hochschullehrer.
                           
                              
                                 (Schluß folgt.)