| Titel: | Wissenschaft und Werktätigkeit. | 
| Autor: | K. Schreber | 
| Fundstelle: | Band 339, Jahrgang 1924, S. 129 | 
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                        Wissenschaft und Werktätigkeit.
                        Theorie und Praxis.
                        Von Dr. K. Schreber.
                        (Schluß.)
                        SCHREBER, Wissenschaft und Werktätigkeit.
                        
                     
                        
                           Arbeitsverfahren der angewandten Wissenschaft.
                           1. Die angewandte Wissenschaft steht zwischen Werktätigkeit und reiner Wissenschaft.
                              									Mit der letzteren hat sie das Arbeitsverfahren, das Arbeiten mit mathematischen
                              									Gleichungen gemein, mit der ersteren das Ziel, die Aufgabe. Auch sie muß ihr von
                              									außerhalb, nämlich von der Werktätigkeit gestellte Aufgaben zu der Zeit lösen, wo
                              									sie gestellt werden.
                           Sie muß dabei in den allermeisten Fällen auf die Vollständigkeit verzichten, wie sie
                              									die reine Wissenschaft bietet, sie kann nur selten die ihr gestellte Aufgabe
                              									vollständig lösen. Wie das gemeint ist, läßt sich am besten an einem Beispiel
                              									zeigen.
                           Bei der Behandlung der Vorgänge in den Wärmekraftmaschinen, wie ich sie mir in meiner
                              									Vorlesung über technische Wärmelehre als Aufgabe gestellt habe, zeigt sich die Zahl
                              									der Bedingungen, von denen die Umwandlung der aus der Natur genommenen chemischen
                              									Energie in die gewünschte mechanische Arbeit abhängt, oder mathematisch gesprochen,
                              									die Zahl der Veränderlichen in der Grundgleichung so groß, daß, wenn wir sie alle
                              									beibehalten wollten, wir einen mathematischen Ausdruck erhalten würden, den kein
                              									Mensch, und wäre er der geschickteste Mathematiker, übersehen kann. Wir können die
                              									uns gestellte Aufgabe nur angenähret lösen, indem wir uns von Anfang an darauf
                              									beschränken, nur die wichtigsten dieser Veränderlichen beizubehalten und die anderen
                              									in einer besonderen Rechnung nachher zu berücksichtigen.
                           Auf diese Weise behandeln wir mit vollem Bewußtsein in der Rechnung Vorgänge, welche
                              									es in der Wirklichkeit gar nicht gibt; Vorgänge, welche mit denen der Wirklichkeit
                              									nur eine mehr oder weniger große Aehnlichkeit haben.
                           Jeder, der mit Gasmaschinen schon einmal zu tun gehabt hat, weiß, daß das Verbrennen
                              									des Gasluftgemisches in der Gasmaschine, wenn auch sehr schnell, so doch immer noch
                              									mit einer endlichen Geschwindigkeit verläuft. Ja, wir wissen sogar, daß bei den
                              									neuzeitlichen Schnelläufern die Größenordnung der Kolbengeschwindigkeit der der
                              									Flammengeschwindigkeit ziemlich nahe kommt. Trotzdem nehmen wir beim ersten
                              									einfachen rechnerischen Verfahren zur wissenschaftlichen Behandlung der Gasmaschinen
                              									an, das Verbrennen verliefe im Vergleich mit der Kolbengeschwindigkeit unendlich
                              									schnell.
                           Eine andere stets gemachte Annahme ist die, daß die in den Gasmaschinen auftretenden
                              									Gase der einfachen Zustandsgleichung genügen, trotzdem wir wissen, daß kein einziges
                              									diese Gleichung erfüllt.
                           Aehnlich machen wir es in anderen Fällen. Ueberall treffen wir eine Auswahl in der
                              									Zahl der Bedingungen, von denen der Vorgang abhängig ist und die also in der
                              									vollständigen Gleichung enthalten sein müßten. Mit diesen so ausgewählten
                              									Veränderlichen berechnen wir jetzt die Umwandlung der chemischen Energie in Arbeit
                              									nach einem Verfahren, welches mit dem der Wirklichkeit eine große Aehnlichkeit hat,
                              									welches aber doch von ihm in ganz bestimmter, eben durch die Auswahl der
                              									Veränderlichen bedingten Weise abweicht.
                           Ich nenne dieses der Rechnung zugrundegelegte Verfahren der Umwandlung der chemischen
                              									Energie in Arbeit, diesen Umlauf der die Umwandlung vermittelnden Stoffe den
                              									rechnerisch einfach zu verfolgenden, zum Vergleich dienenden Umlauf oder kurz den
                              									Vergleichsumlauf, das Vergleichsverfahren. Vielfach findet man ihn als den
                              									theoretischen Umlauf, als das theoretische Verfahren und den mit seiner Hilfe
                              									berechneten Wirkungsgrad als den theoretischen Wirkungsgrad bezeichnet. Dieser Name
                              									ist irreführend. Mit dem Wort Theorie verknüpft man vielfach die Vorstellung von
                              									etwas vollkommen richtigem, wogegen es keinen Einspruch, wobei es keine Abweichung
                              									gibt. Im Gegensatz hierzu sind wir mit vollem Bewußtsein von der Wirklichkeit
                              									abgewichen, weil unsere Hilfsmittel nicht ausreichen, die Wirklichkeit in allen
                              									ihren Einzelheiten zu verfolgen. Der Vorgang, mit dem wir rechnen, ist nicht der
                              									richtige, der vollständige; er ist, dessen sind wir uns voll bewußt, ein anderer,
                              									ein einfacherer. Wir sind zu ihm gezwungen, weil wir wegen der mathematischen
                              									Schwierigkeit, sämtliche Veränderlichen gleichmäßig zu beachten, eine große Reihe
                              									von Veränderlichen nicht haben in die Rechnung einführen können.
                           
                           Haben wir den Wirkungsgrad dieses Vergleichsverfahrens berechnet, so finden wir,
                              									das ist die notwendige Folge unseres Vorgehens, daß er von dem an der wirklichen
                              									Maschine gemessenen abweicht. Aber wir wissen, daß er abweichen muß, und wundern uns
                              									über dieses Ergebnis nicht. Wir suchen vielmehr festzustellen, wo die Abweichungen
                              									bemerkbar sind, und forschen entsprechend der Vorschrift: „dissecare naturam“
                              									nach den Veränderlichen, welche diese Abweichungen veranlaßt haben.
                           Dann rechnen wir nach, wie groß der Einfluß der einzelnen, nicht beachteten ist und
                              									können hiermit unseren rechnerischen Wirkungsgrad verbessern. So könnten wir, um im
                              									Beispiel zu bleiben, die endliche Verbrennungsgeschwindigkeit des Gasluftgemisches
                              									berücksichtigen. Besser und bequemer ist es aber, sie zunächst als unendlich schnell
                              									beizubehalten und nachher den durch die Annahme ihrer Unendlichkeit bedingten
                              									Einfluß besonders zu berechnen und als Verbesserung am Wirkungsgrad des
                              									Vergleichsverfahrens anzubringen.
                           Auf diese Weise kann man immer mehr und mehr Veränderliche berücksichtigen und ihren
                              									Einfluß berechnen. Die Rücksicht auf die Uebersichtlichkeit läßt uns aber dieses
                              									Annäherungsverfahren bald abbrechen. Im allgemeinen benutzt man es z. Z. überhaupt
                              									noch nicht, sondern begnügt sich mit dem rechnerisch einfachen Verfahren und faßt
                              									die Summe der durch die nicht berücksichtigten Veränderlichen bedingten Abweichungen
                              									als eine durch den Versuch zu bestimmende Verbesserung zusammen.
                           Diesen Versuch stellt man an, indem man mit dem Indikator die Arbeit mißt, welche vom
                              									arbeitenden Stoff auf den Kolben übertragen wird. Hier kann man Punkt für Punkt die
                              									Abweichungen des Vergleichsverfahren vom wirklichen feststellen und besprechen. Man
                              									erkennt dabei, welche der vernachlässigten Veränderlichen einen merklichen Einfluß
                              									hat und welche einen weniger großen. Man kann ferner beurteilen, ob es sich
                              									empfiehlt, einen der Einflüsse abzuändern, um die durch ihn bedingte Abweichung zu
                              									verbessern. Unter Verbessern ist hier durchaus nicht immer zu verstehen, daß man die
                              									Abweichungen verkleinert. Ich erinnere an die Spitze des rechnerisch einfachen
                              									Diagrammes der Gasmaschine. Für die Umwandlung der Wäme in Arbeit ist die Spitze
                              									vorteilhaft, weil sie die heißeste Temperatur hat, also der ihr entsprechende
                              									Carnotsche Differentialumlauf einen sehr großen Wirkungsgrad gibt. Für das Getriebe
                              									ist aber die Spitze ungünstig, deshalb verbessert man den Gesamtwirkungsgrad, indem
                              									man durch Verstellen des Zündpunktes oder ähnliche Maßnahmen die Spitze
                              									abstumpft.
                           Hat man sämtliche Unterschiede zwischen der Indikatorlinie des rechnerischen und des
                              									wirklichen Umlaufes besprochen, so greift man sie alle zusammen, indem man das
                              									Verhältnis beider Arbeitsflächen bildet. Dieses Verhältnis nennt man den indizierten
                              									Wirkungsgrad.
                           Auf anderen Gebieten der Werktätigkeit faßt man den Einfluß der nicht
                              									berücksichtigten Veränderlichen durch den Sicherheitsfaktor oder ähnliche Zahlen
                              									zusammen.
                           2. Bei diesem Vorgehen der angewandten Wissenschaft, mit vollem Bewußtsein nur einige
                              									der Bedingungen, von denen ein Vorgang abhängt, zu berücksichtigen, tritt die
                              									Willkür ein, zu entscheiden, welches die wichtigsten Bedingungen sind, die man
                              									berücksichtigen muß, und welche man zuerst unbeachtet lassen darf. Diese Willkür ist
                              									ganz dem Ermessen des Einzelnen überlassen. Deshalb fällt bei dem einen die
                              									Entscheidung so, bei dem andern anders aus.
                           Ein Beispiel hierfür ist die Aufstellung des rechnerischen Wirkungsgrades der
                              									Dampfmaschine. In der Kolbendampfmaschine kann man aus Rücksicht auf das
                              									Zylindervolumen den Dampf sich nur unvollkommen ausdenen lassen. Soll man jetzt für
                              									die Kolbendampfmaschine als Vergleichsumlauf den mit vollständiger oder den mit
                              									unvollständiger Dehnung wählen? Wählt man den ersteren, so ist der rechnerische
                              									Wirkungsgrad der Kolbendampfmaschine und der Turbinendampfmaschine der gleiche, aber
                              									die Kolbendampfmaschine hat einen verhältnismäßig schlechten indizierten
                              									Wirkungsgrad. Wählt man dagegen für die Kolbendampfmaschine den Umlauf mit
                              									vollständiger Dehnung, wodurch die Rechnung nur ganz unwesentlich umständlicher
                              									wird, so haben beide Arten von Dampfmaschinen verschiedene rechnerische
                              									Wirkungsgrade, aber der Vergleich des indizierten Wirkungsgrades der
                              									Kolbendampfmaschine mit dem der Kolbengasmaschine wird einfacher.
                           Hier liegt eine Schwierigkeit für den Vertreter der angewandten Wissenschaft vor. Er
                              									muß sich sorgfältig überlegen, welche Veränderlichen er beim Vergleichsverfahren
                              									berücksichtigen und welche er für die zweite Annährung zurücklassen will. Durch
                              									vieljährige Behandlung derartiger Aufgaben hat sich eine gewisse Uebung in der
                              									Auswahl herausgestellt, so daß man wohl behaupten darf, die gewöhnliche Darstellung
                              									ist diejenige, welche sich der Wirklichkeit soweit nähert, wie es die Wissenschaft
                              									mit den einfachen Mitteln z. Z. ausführen kann. Man muß ihm aber die Freiheit
                              									lassen, je nach der gestellten Aufgabe, einmal diese, das andere Mal jene
                              									Veränderliche von der ersteren Behandlung auszuschließen.
                           Gelegentlich erhält man durch geeignete Wahl der Veränderlichen noch eine Erkenntnis,
                              									welche man bei anderer Wahl nicht hätte erhalten können. Z.B. läßt der Umlauf mit
                              									unvollständiger Dehnung noch erkennen, daß es für Kolbendampfmaschinen einen
                              									günstigsten Luftdruck im Verflüssiger gibt und man deshalb niemals Kolben- und
                              									Turbinendampfmaschinen an denselben Verflüssiger anschließen darf.Schreber, Theorie der Mehrstoffdampfmaschine
                                    											1903, S. 46.
                           Vollständig kann die Wirklichkeit niemals von der Wissenschaft erreicht werden.
                              									Dessen muß sich jeder bewußt bleiben, und zwar nicht nur der Vertreter der
                              									angewandten Wissenschaft, sondern namentlich der Vertreter der Werktätigkeit, der
                              									gar zu gern der Wissenschaft den Vorwurf macht, daß sie nicht alle Umstände
                              									berücksichtige.
                           3. Nun arbeitet aber die reine Wissenschaft nur nach der Stimmung ihrer Vertreter.
                              									Wie diese durch ihre geistigen Anlagen veranlaßt werden, so fördern sie die
                              									Erkenntnis, unabhängig von irgendwelchen Wünschen der angewandten Wissenschaft und
                              									noch viel unabhängiger von denen der Werktätigkeit.
                           Auf diese Weise kommt es, daß die angewandte Wissenschaft sehr häufig nicht geben
                              									kann, was von ihr verlangt wird. Dann muß die Aufgabe entweder unvollständig gelöst
                              									werden oder sie bleibt ungelöst liegen und kann erst in viel späterer Zeit wieder
                              									aufgenommen werden, wenn die reine Wissenschaft das nötige Rüstzeug geliefert
                              									hat.
                           Ein sehr schönes Beispiel, wie dieselbe Aufgabe einmal unvollständig und schlecht und
                              									dann später, nachdem die reine Wissenschaft weit genug vorgeschritten war, einfach
                              									und vollkommen gelöst wurde, gibt Oechelhäuser in seinem schönen Buch: Aus deutscher Kultur
                              									und Technik, wo er auf Seite 48 die Versetzung der beiden Obelisken beschreibt:
                           Aus dieser Abhängigkeit der angewandten Wissenschaft von der reinen entsteht leicht
                              									der Vorwurf, daß die der Werktätigkeit nachhinke; und er wird ihr tatsächlich
                              									gemacht. Es ist aber besser, sie läßt sich diesen Vorwurf machen, als daß sie ohne
                              									ausreichende Begründung allgemeine Sätze aufstellt und aus diesen Folgerungen zieht,
                              									welche eine vorliegende Aufgabe scheinbar lösen. Ein solches Vorgehen könnte leicht
                              									dazu verführen, ein Naturbild aufzustellen, ähnlich wie es die Naturphilosophen am
                              									Anfang des vorigen Jahrhunderts getan haben.
                           Es ist lehrreich zu lesen,Königsberger, H. v.
                                    											Helmholtz I 1902, Seite 57 und 85. welche Schwierigkeiten
                              									Helmholtz, der größte Vertreter der reinen Wissenschaft in der Jetztzeit mit seinem
                              									der spekulativen Philosophie völlig ergebenen Vater hatte, „der für
                                 										wissenschaftlich nur die deduktive, für jeder Wissenschaft feindlich die
                                 										induktive Methode ansah, während Helmholtz gerade diese auf seinen Schild
                                 										erhoben und zum Segen der Naturwissenschaften, der Wissenschaft überhaupt, bis
                                 										an sein Ende hochgehalten hat“.
                           Wir können froh sein, daß wir eine derartige haltlose Spielerei mit sogenannten
                              									allgemein logischen Sätzen überwunden haben. Die Vertreter der angewandten
                              									Wissenschaften lassen sich lieber den Vorwurf machen, daß sie nicht alle Aufgaben
                              									lösen können, als daß sie sich selbst den Vorwurf machen müßten, sie trügen
                              										„hypothetische Wärmelehre“ vor.Güldner, Entwerfen und Berechnen von Gasmotoren 1905. S.
                                    										VIII.
                           Da Herr Güldner ein anerkannter Erbauer von guten Gasmaschinen ist, so darf ich hier
                              									seine etwas eigenartige Stellung zur Wissenschaft, die von so vielen anderen
                              									Erbauern von Maschinen geteilt wird, daß er einfach als Beispiel für diese alle
                              									angesehen werden kann, etwas genauer besprechen: Jede Wärmekraftmaschine kann von
                              									zwei Seiten wissenschaftlich behandelt werden, entweder unter Voranstellung der
                              									Energieumwandlung von der chemischen Energie an bis zur erstrebten Arbeit, oder
                              									unter Voranstellung der Bauteile, mit deren Hilfe die Energieumwandlung ermöglicht
                              									wird. Die erste Behandlung wird von den Vertretern der Wärmewissenschaft, die andere
                              									von denen der Bauwissenschaft ausgeführt. Daraus, daß die letzteren sehr viel später
                              									zu einer Zusammenfassung ihrer Wissenschaft, soweit sie für die Maschinen mit
                              									innerer Verbrennung wichtig ist, gelangt sind, daß sie warteten, bis Güldner diese
                              									Aufgabe erkannte, darf den ersteren kein Vorwurf gemacht werden, die in ihren früher
                              									erschienenen Büchern eben nur ihre Wissenschaft behandelten.
                           Nebenblei bemerke ich, daß wir hier ein Beispiel für den oben von mir aufgestellten
                              									Satz haben, daß die Vertreter der Werktätigkeit keine Uebung im Erblicken
                              									wissenschaftlicher Aufgaben haben.
                           Die „Jagd nach dem Liter“ muß in beiden Gruppen von Büchern den führenden
                              									Gedanken bilden; in den wärmewissenschaftlichen die Jagd nach dem Liter Gasvolumen,
                              									in den bauwissenschaftlichen, die nach dem Liter Zylindervolumen. Jenes bedingt die
                              									Betriebsdieses die Baukosten.
                           Würde Herr G. sich diese Sachlage deutlich gemacht haben, so hätte er im Vorwort zu
                              									seiner ersten Auflage den Vertretern der Wärmewissenschaft nicht die Vorwürfe
                              									gemacht, welche er in den späteren Auflagen schamhaft verschwiegen hat, ohne auf
                              									dieses Verschweigen aufmerksam zu machen.
                           Ich wiederhole, daß die hier besprochene Stellung des Herrn G. nur ein Beispiel
                              									ist für die Stellung sehr vieler Nurmaschinenbauer.
                           
                        
                           Das Handwerkzeug der Wissenschaft und der
                              									Werktätigkeit.
                           1. Ich hatte schon oben bemerkt, daß die angewandte Wissenschaft ihre Aufgabe von der
                              									Werktätigkeit erhält, während sie die Grundlagen ihrer Untersuchungen der reinen
                              									Wissenschaft entnimmt. Infolgedessen wird von ihr verlangt, daß sie das Handwerkzeug
                              									beider zu benutzen versteht.
                           Jedes Fach hat sein bestimmtes Handwerkzeug, der Dreher ein anderes wie der Maurer,
                              									der Tischler ein anderes wie der Schlosser. Wenn nun auch der eine vielleicht das
                              									des anderen kennt, so fehlt ihm doch die Uebung es fachmännisch zu verwenden. So ist
                              									es auch mit den Vertretern von Wissenschaft und Werktätigkeit. Jeder hat sein
                              									Handwerkzeug, und wenn er auch das des anderen kennt, die Uebung mit ihm umzugehen,
                              									hat er im allgemeinen nicht.
                           Das Handwerkzeug der Werktätigkeit ist die Zeichnung. Man sagt gewöhnlich, die
                              									Zeichnung sei die Sprache des Ingenieurs. Das ist nicht der richtige Ausdruck. Die
                              									Zeichnung ist kein gesprochenes Wort, sondern ein geschriebenes; deshalb muß man
                              									sagen, die Zeichnung ist die Schrift des Ingenieurs. Wilhelm Ostwald sagt einmal:
                              									Der Ingenieur „denkt in anschaulichen, meßbaren und räumlich geordneten Größen,
                                 										für die er nicht Worte verwendet, sondern Zeichen und Bilder, also wieder
                                 										Gesehenes, nicht Gesprochenes“. Zu jeder Schrift gehört aber auch eine
                              									Schnellschrift, eine Stenographie, welche neben der Schrift noch besonders gelernt
                              									werden muß.
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 339, S. 131
                              
                           Wer sich unbefangen die beistehende kleine Zeichnung betrachtet, wird nicht sagen
                              									können, was sie vorstellen soll. Ich bitte die Leser, sich von der Richtigkeit
                              									dieses Satzes zu überzeugen, indem sie das Bildchen solchen Freunden vorlegen,
                              									welche sich noch nicht um technische Zeichnungen gekümmert haben. Der Ingenieur
                              									dagegen, der das technische Zeichnen gelernt und geübt hat, weiß, daß so das
                              									Vorhandensein eines Ventiles in einer Rohrleitung angedeutet wird. Diese und
                              									ähnliche Vereinfachungen sind die Vorschriften der Stenographie der werktätigen
                              									Ingenieure, die ebenso willkürlich sind, wie die jeder anderen Stenographie.
                           Im Vorwort eines recht viel benutzten kleinen Werkchens über das praktische
                              									Maschinenzeichen findet sich der Satz: „Betrachtet der Anfänger eine
                                 										Hauptzeichnung einer Lokomotive, so wird er aus den vielen Maßen, Ziffern,
                                 										Linien, blauen und roten Linien, starken, schwachen und punktierten Strichen,
                                 										verschiedenen Farben, Pfeilen usw. nicht klug werden. Sobald er jedoch die
                                 										Bedeutung der Zeichen kennengelernt hat, wird er erstaunt sein, wieviel Gedanken
                                 										sich mit verhältnismäßig wenig Strichen auf dem beschränkten Platz festhalten
                                 										lassen“.
                           Genau dasselbe kann man von der Stenographie der reinen Wissenschaft sagen. Daß
                              									dieses Bild
                           
                              
                              Textabbildung Bd. 339, S. 131
                              
                           des Guldberg-Waageschen Gesetzes der Mengenwirkung ein Produkt
                              									bedeutet, in welchem eine Reihe von Faktoren, die aus Potenzen mit positiven, und
                              									eine zweite Reihe von Faktoren, die aus Potenzen mit negativen Exponenten gebildet
                              									sind, enthalten ist, das muß man in der Mathematik gelernt haben, ehe man an die
                              									Erfassung des Guldberg-Waageschen Gesetzes selbst herangehen kann. Wer diese
                              									Stenographie nicht versteht, der kann von der Sache erst recht nichts verstehen.
                           Ich habe dieses Beispiel der Stenographie der reinen Wissenschaft gewählt, weil
                              									diejenigen werktätigen Ingenieure, welche an der wirtschaftlichen Ausnutzung der
                              									Brennstoffe mitarbeiten wollen, sich mehr oder weniger bald mit diesem Gesetz
                              									vertraut machen müssen. Ohne die Kenntnis dieses Gesetzes lassen sich die
                              									Verbrennungserscheinungen nicht verstehen, läßt sich nicht beurteilen, ob eine
                              									Verbrennung wirtschaftlich geleitet ist oder nicht, läßt sich nicht entscheiden, ob
                              									für einen gegebenen Brennstoff Verbrennung, Entgasung oder Vergasung das
                              									Wirtschaftlichere ist.
                           Nun hat jedes Fach, das einfachste Handwerk sowohl wie die reine Wissenschaft, den
                              									Drang zur Entwicklung in sich.
                           Mit dieser Entwicklung des Inhaltes ändert sich aber auch, wenn auch vielfach
                              									unabhängig davon, das Handwerkzeug und die Stenographie. Wer sich eine Zeitlang um
                              									ein dem seinen benachbartes Fach nicht gekümmert hat und findet dann Veranlassung,
                              									sich wieder einmal mit ihm zu beschäftigen, der wird häufig die ihm gewiß recht
                              									unangenehme Entdeckung machen müssen, daß sich nicht nur der Inhalt des Faches
                              									vermehrt, sondern daß sich auch die Stenographie des Faches weiter entwickelt hat,
                              									daß Zeichen und Abkürzungen auftreten, die er von früher her nicht kennt. Im
                              									allgemeinen ist es nun schwer, aufzufinden, wo man die Erklärung der neuen
                              									stenographischen Zeichen findet. Das nimmt vielfach den Mut, die Arbeit, für welche
                              									man Lust und Bedürfnis hatte, durchzuarbeiten. Gar zu leicht folgt aus der Tatsache,
                              									daß man die neue Stenographie nicht lesen kann, dann der Schluß, daß das ganze Fach
                              									unverständlich geworden ist. Damit sind dann leider die Brücken zum Nebenfach
                              									abgebrochen und die Sonderfachwirtschaft wieder vermehrt.
                           Wie schnell übrigens die Entwicklung vor sich geht, davon macht man sich im
                              									allgemeinen kaum eine Vorstellung. Ich will hier kurz ein recht krasses Beispiel
                              									anführen: Zu Luthers Zeiten, also vor 400 Jahren hatte der um die Förderung und den
                              									Betrieb des mathematischen Unterrichtes hochverdiente Melanchton an der Universität
                              									vertretungsweise die Vorlesung über Mathematik, insbesondere Arithmetik, d.h. über
                              									Ziffernrechnen, zu halten. In seinem Einladungsschreiben bekämpft er die
                              									verbreitete falsche Meinung von der Schwierigkeit dieses Stoffes; die ersten
                              									Anfänge, das Numerieren, Addieren, Subtrahieren seien weder dunkel noch schwierig,
                              									das Multiplizieren und Dividieren freilich verlangen etwas mehr Fleiß; aber die
                              									Studenten möchten aushalten, auch das sei zu bewältigen. Freilich gäbe es
                              									schwierigere Teile der Arithmetik, „aber ich spreche nur von diesen Anfängen, die
                                 										man euch vorzutragen pflegt und recht nützlich sind“.
                           Heute und schon seit manchen Jahrzehnten ist der damalige Universitätslehrstoff des
                              									Zahlenrechnens die Lernaufgabe der kleinsten Kinder, welche gerade in die Schule
                              									gekommen sind.
                           Als vor ungefähr 100 Jahren Dalton die Beziehungen zwischen Temperatur und Volumen
                              									der Gase darstellen wollte, war ihm der Differentialquotient der Exponentialfunktion
                              									noch vollständig fremd, so daß er keine leicht verständliche Darstellung finden
                              									konnte. Gay-Lussacs arithmetische Abhängigkeit ließ sich leichter darstellen und so
                              									kommt es, daß wir die für die Berechung der Verwandlung von Wärme in Arbeit recht
                              									unbequeme Temperaturzählung haben, welche Gay-Lussac vorgeschlagen hat, während die
                              									Daltonsche hierfür viel geeigneter ist.
                           Wie sich die Stenographie der Zeichnung entwickelt hat, kann hier nicht gezeigt
                              									werden, weil dazu die Zeichnungen selbst wiedergegeben werden müßten. Wer im Besitz
                              									von Werkstattzeichnungen ist, welche 30 bis 50 Jahre alt sind, der möge sie mit den
                              									heutigen vergleichen und dabei auf Einzelheiten, z.B. auf die Darstellung von
                              									Schrauben und Gewinden achten. Er wird erstaunt sein, wie sich die Stenographie der
                              									werktätigen Ingenieure entwickelt hat. Er wird sich nicht wundern, wenn ein
                              									Vertreter der reinen Wissenschaft, der damals Zeichnungen lesen konnte, es heute
                              									nicht mehr kann.
                           Jede Wissenschaft, die reine sowohl wie die der Werktätigkeit entwickelt nun ihre
                              									Stenographie unbekümmert um die der anderen. Daraus erwächst für den Vertreter der
                              									angewandten Wissenschaft die Aufgabe, nicht nur den Inhalt beider in seiner
                              									Entwicklung zu verfolgen, sondern auch die der Stenographie beider. Gelingt ihm
                              									dieses, so wird er zum gegenseitigen Verständnis beider beitragen.
                           
                              Wissenschaft und Werktätigkeit sind zwei aufeinander
                                 										angewiesene, sich gegenseitig befruchtende Tätigkeiten des menschlichen Geistes,
                                 										deren Zusammenarbeiten für Deutschland unter den schwierigen Verhältnissen, in
                                 										denen wir leben und die uns sehr wahrscheinlich noch schlimmer bevorstehen, von
                                 										äußerster Wichtigkeit ist. Mögen die vorstehenden Zeilen dazu beitragen, das
                                 										gegenseitige Verständnis zu heben und das Zusammenarbeiten zu fördern.